Protocol of the Session on October 22, 2008

(Dr. Wolfgang Methling, DIE LINKE: Ja.)

was mir widerstrebt. Für mich ist das eine Wiedervereinigung

(Dr. Wolfgang Methling, DIE LINKE: Schauen Sie in den Vertrag über die Deutsche Einheit!)

und nach meinen laienhaften juristischen Kenntnissen – ich war immerhin zwölf Jahre auch Handelsrichter an einem deutschen Landgericht – war die Formulierung „Beitritt“ lediglich die juristische Form, die im Grundgesetz vorgesehen ist,

(Dr. Wolfgang Methling, DIE LINKE: Ja, eben. – Helmut Holter, DIE LINKE: Artikel 23.)

und das lasse ich mir auch nicht nehmen.

(Udo Pastörs, NPD: Mit juristisch weittragenden Folgen. Beitritt! Die Entrechtung war das. – Michael Andrejewski, NPD: Anschluss wäre besser. – Zuruf von Raimund Borrmann, NPD)

Gestatten Sie mir ein paar persönliche Erinnerungen gerade an diese Zeit. Die DDR war kurz vor dem Zusammenbruch, die wirtschaftliche Lage immer schwieriger. Die Stimmung kochte. Wir gingen auf die Straße, auch ich war dabei, und die Menschen liefen in Scharen fort. Es ging auf Umwegen über Ungarn und Prag, das wissen wir alle.

(Udo Pastörs, NPD: Die Leute laufen auch heute noch aus Mecklenburg fort, in Scharen.)

Niemand hat zu dem Zeitpunkt geahnt, was dort am 9. November passieren sollte.

Meine Frau und ich haben das aus Mainz beobachtet, weil auch dort am 9. November ein Geburtstag ist. Man hatte uns nach langem Hin und Her erstmals gemeinsam reisen lassen,

(Udo Pastörs, NPD: Beobachtet.)

nachdem man uns permanent nur unter Zurücklassung von genug Pfandmaterial – kleines Kind, Unternehmen, Geschäft, das die Eltern ernährte, Haus und Hof – einzeln nach 1986 reisen ließ.

(Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

Hier durften wir kurz vor Toresschluss natürlich unter den gleichen Voraussetzungen, nämlich das Kind dazulassen, reisen. Der Riesenstein, der mir in Mainz vom Herzen fiel, den höre ich heute noch plumpsen. Ich möchte keinen Tag danach missen.

Anlass für persönliche Erinnerung ist folgendes Erlebnis: Ich habe Gelegenheit gehabt, in einem Neubrandenburger Gymnasium am Sozialkundeunterricht teilzunehmen, wohlgemerkt, es war ein Gymnasium. Auf die Frage an die Schüler, was denn der Unterschied sei zwischen dem Rechtsstaat Bundesrepublik und der DDR kam Folgendes: Tja, wir sind ein Rechtsstaat, die DDR war halt ein Linksstaat. Dieses kleine Beispiel ist mir Anlass, weiter in meinen persönlichen Erinnerungen zu kramen.

Ich bin ein Kind der 50er-Jahre und weiß vieles aus Erinnerungen. Meine Familie saß sehr oft auf gepackten Koffern. Wir standen auch, das muss ich dazusagen, am Rand der Gesellschaft. Wir waren selbstständig und insofern mehr geduldet, aber die Heimat zog ja auch. Sie gingen nicht wirklich weg. Erst waren die Kinder klein, dann wollten sie nicht mit uns in ein Lager und dann hieß es, ach, es wird alles nicht so schlimm werden. Es kam ja auch nach Stalins Tod ein neuer Kurs.

Aber wir dürfen auch nicht vergessen, was alles unter der Herrschaft der SED geschehen ist. Beispiele wie die Aktion Rose

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP – Udo Pastörs, NPD: Ja, ja, Aktion Rose auf Rügen.)

oder die fast an Nazijargon erinnernde Aktion Ungeziefer sind doch in Erinnerung. Und für mich ganz persönlich ist es zum Beispiel 1972 die Angst, dass auch wir enteignet würden. Das hat viele Leute damals bis hin zum Selbstmord getrieben, da gibt es auch in Neubrandenburg Namen und Adressen. Herr Methling, dieser gut gemeinte Versuch, mit tragischen Zügen, ich erweitere das und ich möchte unbedingt betonen: Für viele waren es tödliche Züge.

Ich habe Hochachtung vor alten Kommunisten, die ich selbst kaum noch kenne, die in der Nazizeit ins Lager gegangen sind. Ein solcher war der Kommunist Schmidt. Er war erster Bürgermeister in Neubrandenburg. Er hat es aber nicht lange ausgehalten. Er kam oft zu meinem Opa Karl in die Gärtnerei. Dann tauschten die sich aus und Opa beschwerte sich über Zwänge, die den jungen Frauen angetan wurden. Ich meine jetzt keine Vergewaltigungen, ich meine Arbeitsdienstleistungen. Un dor hett hei secht, du, Korl, dat heff ick nich wullt, dat is kein

Kommunismus, dat is Sadismus. Und wenn wir an die Gerichtsbarkeit, für die der Name Hilde Benjamin steht,

(Udo Pastörs, NPD: Die Rote Guillotine.)

bis hin zu den Todesurteilen und den Knastanlagen in der DDR denken, dann dürfen wir auch das nicht vergessen.

(Dr. Wolfgang Methling, DIE LINKE: Sehr richtig.)

Meine Vita ist folgende: Ich habe es von Anfang an gespürt, am Rand zu stehen. In der Schule war ich in der sozialen Kategorie Sonstiges im Klassenbuch eingeordnet. Das baut eine Kinderseele auf von Anfang an. Wir wurden verlacht, wenn wir mal zu spät aus dem Christenlehreunterricht kamen. Dann standen wir vorne zu fünft als kleines Häufchen und wurden im Kollektiv lächerlich gemacht. Das habe ich nicht vergessen. Ich war immer ein guter Schüler. Ich habe mein Abitur mit Auszeichnung gemacht, nur die andere Seite, dieses sogenannte gesellschaftliche Bekenntnis fehlte halt. Ich kriegte keinen Studienplatz, was nicht normal war für jemanden, der nur Einsen hatte. Den Studienplatz habe ich meiner couragierten Großmutter zu verdanken. Die hat sich ein Herz gefasst und hat dem Walter Ulbricht handschriftlich eine sogenannte Eingabe geschrieben. Damit hat sie es geschafft.

Ich bin aufgewachsen wie viele von uns mit einem gespalteten Bewusstsein. Wir haben doch in zwei Bewusstseinsebenen gelebt. Von klein auf an haben wir gelernt, dass wir das, was wir zu Hause hören, in der Schule bitte nicht sagen dürfen, dass wir nicht sagen dürfen, welches Fernsehprogramm wir gucken.

(Dr. Armin Jäger, CDU: Ja.)

Und wie wir durch den Staatsbürgerkundeunterricht gekommen sind, das möchte ich nicht weiter ausführen.

(Michael Andrejewski, NPD: Das ist heute auch so ein Problem.)

Ich habe noch weitere ganz persönliche Dinge. Cousin und Cousine aus dem Voigtland gerieten in die Fänge der Stasi, ja, des Systems. Ich habe heute in der Andacht über Gut und Böse gesprochen. Was täten wir wohl, wenn in dieser kleinen Gemeinde im Voigtland Menschen, Flüchtlinge an die Tür klopfen, die verletzt sind, die ein Obdach bekommen wollen, die verbunden werden wollen, die mit einem Brot weitergeschickt werden wollen? Sie helfen. Sie sind geschnappt worden, nachdem sie – das ist ja so ein Zipfel – in Richtung Tschechoslowakei und dann nach Bayern wollten. Das war in den frühen 60er-Jahren.

Diesen Menschen ist die Seele gebrochen worden. Mein Cousin kam nach Bautzen, die Frau nach Hoheneck. Er hat sich hinterher, ich mache es kurz, das Leben genommen. Er hat sich in seiner Werkstatt mit Schellack übergossen – wie Jan Palach 1969 auf dem Wenzelsplatz in Prag – und ist daran gestorben. Ich kann es nicht vergessen.

Wir haben Freunde in Neubrandenburg, die sind in den Knast gekommen für ein A im Fenster, weil sie ausreisen wollten, ganz einfache Leute – Arbeiter. Die sind freigekauft worden für 46.000 Silberlinge. Dieser Menschenhandel funktionierte ja. Nachschub war reichlich da. Parallelen gibt es heute in China. Da gibt es sehr viele Todesurteile vornehmlich junger Menschen – es gibt Fernsehberichte –, denen vorher die entsprechenden

Organe, vielleicht die Niere oder sonst was herausgenommen wird, um daraus noch Geld zu machen.

(Udo Pastörs, NPD: Das gibt es in Amerika auch.)

Ich selbst habe genug Erfahrungen mit der Stasi. Ich möchte es nicht ausführen. Wir hatten einen Franzosen in Westberlin in der Familie und das reicht wohl, das Interesse der Stasi an mir darzulegen.

Meine Mutter hat immer gesagt, nach jeder Zeit kommt eine andere, aber wir erleben sie nicht mehr. Mein Vater durfte sie erleben. Er starb 1990 und war sehr stolz, zum ersten Mal als Jahrgang 1923 wählen zu können. Es gab nach dem Krieg in den Besatzungszonen eine freie Wahl. Da war der Vater in Gefangenschaft. Es tut mir heute weh, sehen zu müssen, wie viele Menschen nicht zur Wahl gehen.

(Udo Pastörs, NPD: Warum ist das wohl so?)

Aufgabe für uns ist, diese Verdrossenheit zu überwinden. Das ist so ein hohes Gut.

Das Anliegen der Aktuellen Stunde heute ist für mich, Erinnerung wachzuhalten, Schlussfolgerungen zu ziehen, der Jugend Wissen zu vermitteln, darüber zu reden. Sonst wird nämlich jegliche Erinnerung verfälscht, es wird immer rosiger. Und wenn ich hier nach rechts schaue, dann muss ich ja gar nicht viel sagen. Wenn ich diese Zeit reduziere auf das, was manche dummen Leute so sagen über Hitler – Arbeitslose weg, Autobahnen –, dann möchte ich mir das für die Zeit, die ich erlebt habe in einer zweiten deutschen Diktatur, nicht wünschen. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam die Vorteile der Demokratie herauszuarbeiten. Es gibt dazu überhaupt keine Alternative und es darf auch keine Tabus geben.

(Michael Andrejewski, NPD: Doch, die gibt es. – Udo Pastörs, NPD: Das denke ich auch.)

Tabus haben wir genug gehabt, sei es in Neubrandenburg das Gefangenenlager Fünfeichen, das NKWD, ein Schweigelager, wo die Menschen bis 1990 nicht mal drüber reden durften, und sei es das Thema Vertriebene, es war tabuisiert.

Herr Methling, Sie haben etwas zum Blockparteiensystem gesagt. Ich kann das nicht ganz so stehen lassen. Diese Blockparteien waren von der SED ganz bewusst installiert. Und das, was Minister Seidel ausgeführt hat, hat meine Frau erlebt. Ich selbst war nach dem erfolgreich absolvierten Studium kaderpolitisch so unrein, dass man für mich keine Arbeit hatte. Ich hatte das Glück, dass die Genossen, wie man so locker sagte, in Neubrandenburg bei meinem Vater vor der Tür standen und fragten: Herr Rühs, haben Sie nicht einen Nachfolger? Es gab ja inzwischen nach 1976 eine neue Politik. Ich kriegte von heute auf morgen die Gewerbegenehmigung und am nächsten Tag Besuch von Blockparteien. Herr Rühs, Sie wollen doch, ja dann müssen Sie.

Ich sehe die rote Lampe. Mir ist das entgangen.

Ich möchte aber Mut machen, in die Zukunft zu schauen. Achten wir den Mut der Menschen in der DDR.

(Dr. Armin Jäger, CDU: Richtig.)

Ich bin stolz auf jeden aufrechten Bürger, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Die Lebenserfahrung, die wir haben, auch den Umbruch, den völligen Neuanfang, kann uns niemand nehmen. Unser Land Mecklenburg-Vorpommern basiert schlussendlich ja auch

auf den Ereignissen des Jahres 1989. Gemeinsam in die Zukunft zu schauen, heißt, sich zu erinnern. Zukunft wächst aus Erinnerung. Und das Brecht-Zitat vom fruchtbaren Schoß kann ich mir nicht verkneifen, wenn ich hier an die Fensterwand gucke. Tun wir alles, damit wir die Demokratie stärken. Mir ist nicht bange um die Zukunft. – Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und FDP)

Vielen Dank, Herr Rühs.

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.