Protocol of the Session on November 17, 2004

Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur 47. Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern. Ich stelle fest, dass der Landtag ordnungsgemäß einberufen wurde und beschlussfähig ist. Die Sitzung ist eröffnet.

Die vorläufige Tagesordnung der 47. und 48. Sitzung liegt Ihnen vor. Im Ältestenrat ist abweichend davon vereinbart worden, die Wahl des Landesbeauftragten für den Datenschutz nach Tagesordnungspunkt 5 aufzurufen. Wird der so veränderten vorläufigen Tagesordnung widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Damit gilt die Tagesordnung der 47. und 48. Sitzung gemäß Paragraph 73 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung als festgestellt.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde. Die Fraktion der PDS hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Wirkungen der Arbeitsmarktreformen auf Mecklenburg-Vorpommern“ beantragt.

Aktuelle Stunde Wirkungen der Arbeitsmarktreformen auf Mecklenburg-Vorpommern

Das Wort hat die Abgeordnete, die Fraktionsvorsitzende der PDS-Fraktion Frau Gramkow. Bitte schön.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unter dem Motto „Sicherung des Sozialstaates“ veranstalten heute Gewerkschaften, Vereine, Verbände, aber auch die Kirchen einen bundesweiten Aktionstag gegen den Sozialabbau. Aber auch unsere tagtäglichen Wahrnehmungen in unseren Wahlkreisen, wo uns Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern begegnen, führen dazu, dass dieses Thema Aktualität hat.

Die nach dem VW-Manager Hartz benannten Arbeitsmarktreformen – ich will gerne einen Einschub machen: sie sind eigentlich mehr eine neoliberale Gesellschaftsreform als eine Arbeitsmarktreform – stiegen im November 2002 mit dem so genannten Jobfloater ein. Hartz I und Hartz II folgten Anfang 2003. So genannte Personal-ServiceAgenturen sollen Arbeitslose als Zeit- und Leiharbeiterinnen und -arbeiter an Unternehmen vermitteln und sie können deutlich unter Tarif bezahlen. Zugleich wurden in diesem Zeitraum die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückgefahren. Mit Hartz II sollten ebenfalls Anfang 2003 bei den Arbeitsämtern Jobcenter eingerichtet werden und die Ich-AGs und die Minijobs wurden in großem Umfang eingeführt. Mit Hartz III wird Anfang dieses Jahres die Arbeitsverwaltung zur Bundesagentur für Arbeit umgestaltet, zugleich werden der Kündigungsschutz gelockert und die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt.

Die Wirkung: Die Arbeitslosigkeit stagniert in Mecklenburg-Vorpommern auf hohem Niveau. 177.308 Menschen sind arbeitslos, das sind 11.900 mehr Menschen als im Vergleichsmonat 2003. Davon sind 79.500 Menschen Langzeitarbeitslose und ihnen stehen 4.300 offene Stellen gegenüber. Etwa 15.000 Menschen befinden sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Im Oktober des letzten Jahres waren es noch 32.000 und 1998 gar 84.000 Beschäftigte. Und junge und ältere Leute verlassen nach wie vor unser Land. Die Minijobs, sie boomen, vor allem als Hinzuverdienst, während gleichzeitig versicherungspflichtige Arbeitplätze verloren gehen, seit Juli dieses Jahres

alleine 14.900. Der Jobfloater, er wurde zum Flop, und Kapital für Arbeit verpuffte in Mecklenburg-Vorpommern wirkungslos.

Und jetzt kommt Hartz IV. Hartz IV kommt mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und seiner Umwandlung zum Arbeitslosengeld II. Empfänger dieses Arbeitslosengeldes II werden zu Jobs verpflichtet, wofür sie 1 oder 2 Euro, ich habe auch schon gehört, nur 88 Cent bekommen sollen.

(Wolfgang Riemann, CDU: Hinzuverdienen, hinzuverdienen!)

Gewerkschaften und Unternehmerinnen und Unternehmer warnen gleichermaßen vor einer künftigen Verdrängung regulärer Arbeitsplätze. Es ist kein Geheimnis, meine Damen und Herren, dass die eingeleiteten Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung innerhalb der Koalition hier in Mecklenburg-Vorpommern auf ein geteiltes Echo stoßen. Dass wir diese unterschiedlichen Auffassungen aushalten und sie öffentlich diskutieren, das zeichnet die Zusammenarbeit zwischen SPD und PDS in dieser Koalition aus. Hartz I und Hartz IV erhöhen den Druck auf die Arbeitslosen, sie schaffen keinen, nicht einen einzigen so dringend benötigten Arbeitsplatz.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Hartz IV ist kontraproduktiv, weil Kaufkraft verloren geht und dadurch wiederum bestehende Arbeitsplätze in Gefahr geraten. Und mit den so genannten Arbeitsmarktreformen verfestigt und verstetigt sich leider der Niedriglohnbereich. Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen für die, die noch in Arbeit stehen, lassen nicht auf sich warten. Ich erinnere an die Debatte der Arbeitgeber zur Verlängerung der Arbeitszeiten. Unsicherheit und Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern, lassen Sie uns diese bitte nicht unter den Tisch kehren. Sie sind real und deshalb sollten wir ihnen mit unserer Verantwortung in jeder Situation begegnen. Wir werden die Proteste gegen den Sozialabbau weiter unterstützen. Und es bleibt dabei: Hartz muss weg!

(Heiterkeit bei Wolfgang Riemann, CDU: Was?! Den ganzen Harz müssen wir wegnehmen, den schönen deutschen Wald?)

Aber es geht nicht nur um den Protest. Denn es ist nicht wahr, wenn wir immer wieder behaupten, diese Arbeitsmarktreformen seien alternativlos. Es gibt in der Politik und auch so in der Entwicklung immer Alternativen, wir müssen sie nur wollen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Erstens. Wir brauchen dringend das von Rot-Grün versprochene Investitionsprogramm für die Kommunen. Es sichert Nachfrage, es sichert Aufträge und damit auch Arbeitsplätze.

(Wolfgang Riemann, CDU: Damit Sie weiter kürzen können bei den Kommunen hier im Land!)

Zweitens. Die Bundesregierung muss zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückkehren. Die sozialversicherungspflichtigen und existenzsichernden Beschäftigungsverhältnisse müssen ermöglicht werden und nicht nur 1-Euro-Jobs.

Drittens. Für die Wirtschaft sind Rahmenbedingungen zu sichern, die Arbeitsplätze schaffen und sichern. Der Technologiebereich, das verarbeitende Gewerbe bewei

sen, dass es geht. Aber geförderte Investitionen bedeuten auch immer Rationalisierungseffekte bezüglich Arbeitsplätze.

Viertens. Es muss deshalb auch gesellschaftlich notwendige Arbeit durch den Staat finanziert werden. Wir hier in Mecklenburg-Vorpommern sind doch erste Schritte gegangen. In dem Jugend- und Schulsozialarbeiterprogramm haben wir über 600 existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Ja, die Kommunen finanzieren mit, aber sie wollen auch nicht darauf verzichten. Lassen Sie uns darüber nachdenken, hier weiterzuentwickeln.

(Zuruf von Wolfgang Riemann, CDU)

Fünftens. Wir müssen weitere noch verbleibende Möglichkeiten nutzen. Dazu gehört, bestimmte Richtlinien unseres so hoch gelobten, von der Europäischen Union anerkannten Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklungsprogramms inhaltlich und formal so auszurichten, dass damit die Vermittlungschancen für Langzeitarbeitslose auch weiterhin mit Hilfe von Landes- und Europamitteln verbessert werden können. Dazu gehört zum Beispiel das neue Mikrodarlehensprogramm für die Unterstützung der Existenzgründerinnen und Existenzgründer. Dazu gehört zu prüfen, ob weitere Fördermöglichkeiten für Jugendliche durch den Ausbau der Initiative zum Aufbau von Jugendbetrieben über den Zukunftsfonds gefördert ermöglicht werden können. Und sollte nicht zuletzt den Frauen und Männern unsere besondere Aufmerksamkeit gelten, die keine Leistungen beziehen oder zukünftig keinen Anspruch mehr haben, weil der Partner oder die Partnerin für sie sorgen sollen?

Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, gemeinsam über Alternativen diskutieren und alle Möglichkeiten nutzen, um mit und für Bürgerinnen und Bürger unseres Landes eine bessere Zukunft zu gestalten!

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Vielen Dank, Frau Gramkow.

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete der SPD-Fraktion Minister Dr. Backhaus.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute die Aktuelle Stunde zum Anlass nehmen können, über den Arbeitsmarkt und die Situation in Mecklenburg-Vorpommern und sicherlich auch ein Stück darüber hinaus zu diskutieren und zu debattieren. Dennoch halte ich es wirklich für verfrüht, eine umfassende Bewertung der Maßnahmen, die durch die Bundesregierung und letzten Endes natürlich im Lande eingeleitet sind, hier vorzunehmen. Ich bin Ihnen dankbar, Frau Gramkow, für das, was Sie angedeutet haben, was diese Landesregierung versucht hat in den letzten Jahren. Und ich glaube, wir sind dabei, den Weg voranzuschreiten, nämlich den Menschen im Lande deutlich zu machen, jawohl, wir wollen den Sozialstaat in Mecklenburg-Vorpommern, in Deutschland erhalten, dass das die wichtigste Botschaft ist und dass auch klar werden muss: Wir wollen als Sozialdemokraten in Arbeit und nicht in Arbeitslosigkeit finanzieren. Das ist unsere wichtigste Botschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte natürlich auch noch einmal ein Stückchen darauf hinweisen, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen,

jawohl, der bisherige Arbeitsmarkt und die Arbeitsmarktpolitik sind deutlich an die Grenzen gestoßen. Umso wichtiger sind die Reformen und Veränderungen. Und diese hat die SPD-geführte Bundesregierung endlich eingeführt, um den Sozialstaat überhaupt erhalten zu können. Die so genannten Hartz-Gesetze sind damit auf den Weg gebracht worden. Dabei haben wir zu keiner Zeit verschwiegen, auch darauf möchte ich an dieser Stelle noch mal hinweisen, dass dieser Reformprozess zum Teil drastische Einschnitte und auch manches Einzelschicksal tatsächlich mit sich bringen wird. Dieses haben wir von Anfang an gesagt, um es wieder deutlich zu machen, um den Sozialstaat überhaupt erhalten zu können.

Im Übrigen haben wir niemals behauptet, dass diese Arbeitsmarktreform tatsächlich der Königsweg im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik sei und damit eine Möglichkeit zur Beseitigung unseres Hauptproblems, nämlich der strukturell hohen Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Sie sind aus unserer Sicht nur ein Element in diesem Gesamtkonzept, das der Bundeskanzler am 14. März 2003 vorgestellt hat, welches auch mit der Agenda 2010 dann auf den Weg gebracht worden ist.

Gesellschaftliche Wirkungen erzielen wir nur gemeinsam, wenn wir in der Bevölkerung in Deutschland und in Mecklenburg-Vorpommern dafür werben, und zwar möglichst im Konsens: Wir brauchen mehr Flexibilität, wir brauchen einen höheren Beitrag von Eigenverantwortlichkeit insgesamt in der Gesellschaft, wir brauchen dringend, dringend konjunkturelle Gesundung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland und sicherlich auch ein Stückchen in unserem Bundesland und wir brauchen ganz klar die Konzentration der Fürsorgeleistungen des Staates auf diejenigen, die tatsächlich bedürftig sind. Ich glaube, das kann man auch gemeinsam so unterschreiben.

Es steht außer Frage, meine sehr geehrten Damen und Herren, Reformen sind dringend notwendig, um das über die Jahre in Deutschland gewachsene System der Versicherungsgemeinschaft, ja, der Solidargemeinschaft erhalten zu können und damit letzten Endes eben ausdrücklich auch das Lebensrisiko, nämlich in Arbeitslosigkeit zu gelangen, was wir niemandem wünschen, abgefedert zu bekommen, um damit dieses System überhaupt aufrechtzuerhalten.

Modernisierung des Sozialstaates ist dringendes Gebot. Leider ist es so, ich glaube, darin stimmen wir hoffentlich auch parteiübergreifend überein, dass es über die letzten Jahrzehnte hinweg versäumt worden ist, diesen Sozialstaat zu reformieren, um ihn überhaupt zu erhalten. Man hat zu lange aus dem Vollen geschöpft. Ich glaube, das ist auch die Bilanz, die man über die letzten Jahrzehnte hinweg benennen kann und muss. Und sicherlich war auch ein Stückchen die Auseinandersetzung zwischen den beiden Systemen – die soziale Marktwirtschaft, für die wir alle gekämpft haben, jedenfalls die meisten von uns, und das andere System, in dem wir groß geworden sind – darauf ausgerichtet, diese unterschiedlichen Entwicklungen aufzuzeigen. Insofern kam der historische Glücksfall der Deutschen Einheit dann auch in diese Phase hinein. Und in dieser Phase war, jedenfalls aus meiner Überzeugung heraus, erst recht die Reform des Sozialstaates nicht möglich.

Heute ist es aus unserer Sicht also allerhöchste Zeit zu handeln, wenn wir unseren Kindern, unseren Enkeln den heutigen Lebensstandard weiter ermöglichen wollen,

sowohl wirtschaftlich, kulturell als auch sozial, um zumindest einigermaßen diesen Standard erhalten zu können. Das haben wir Sozialdemokraten angepackt und dafür haben wir viel Kritik geerntet, ja, auch manche Wahlniederlage. Kritik kommt ja von zwei Seiten. Von den Linken auf der einen Seite – ich meine jetzt nicht Sie, verehrte Frau Ministerin, da komme ich aber gleich noch drauf –,

(Heiterkeit bei Siegfried Friese, SPD)

von der linken Seite kommt ja so der Ausdruck, der Untergang des Sozialstaates und die zunehmende Massenverelendung in Deutschland, die sehr klar und deutlich proklamiert wird...

(Reinhardt Thomas, CDU: Da waren wir ja noch Koalitionspartner. – Angelika Gramkow, PDS: Wer sagt das?)

Dabei ist aus meiner Sicht tatsächlich zu bedenken, dass manche Leute argumentieren, die als ehemalige Staatseliten den real existierenden Sozialismus so nie erlebt haben. Und man muss auch erkennen, dass diejenigen, die zum Teil Verantwortung hier heute in Deutschland mittragen, den Sozialstaat oder damit den Sozialismus ökonomisch an die Wand gefahren haben. Ich glaube, das darf und muss man hier heute noch mal sagen. Auch vor diesem Hintergrund halte ich jedenfalls die Kritik von unserem Koalitionspartner – ich bin froh, dass das heute in der Form so nicht stattgefunden hat –

(Zurufe von Torsten Koplin, PDS, und Peter Ritter, PDS)

in den vergangenen Wochen und Monaten ein Stückchen für eine Diskussion, die aus meiner Sicht zumindest überzogen war.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der CDU – Zuruf von Angelika Gramkow, PDS)

Eine Feststellung treffe ich hier jedenfalls,

(Peter Ritter, PDS: Das sehen viele im Land anders, Herr Backhaus.)

eine Feststellung, Herr Ritter, treffe ich hier ausdrücklich: Hartz IV ist keine Armut per Gesetz, sondern Absicherung des Sozialstaates.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und CDU – Peter Ritter, PDS: Wir sprechen uns an einer anderen Stelle wieder. – Angelika Gramkow, PDS: Die Einheits- front. – Zuruf von Torsten Koplin, PDS)

Die meisten Menschen, die auf den Demonstrationen gewesen sind, die wissen das mittlerweile auch. Und ich bin den Gewerkschaften sehr, sehr dankbar dafür, dass diese Relativierung mittlerweile in dieser Gesellschaft mit den Gewerkschaften diskutiert wird