Protocol of the Session on September 16, 2004

Wenn also an dem politischen Charakter dieser Fragestellung keine Zweifel bestehen können, wenn man sich das sachlich ansieht, stellt sich die Frage, mit welchen Indikatoren oder mit welchen Fragestellungen man denn das Thema „Armut und Reichtum in Deutschland“ bearbeiten und diskutieren will. In der Armutsforschung geht es in erster Linie um Einkommen und aus meiner Sicht – aber das ist meine persönliche Auffassung – liegen zu diesem Bereich durchaus sehr viele Daten vor, die aussagekräftig sind. Man kann in diesem Zusammenhang in der Tat darüber streiten, wie viele weitere Datenerhebungen

nötig sind oder nicht. Ich möchte drei wesentliche Fakten nennen, die zum Teil schon erwähnt wurden von meinen Vorrednern:

Erstens. In Deutschland nimmt Armut wieder zu. Dies ist unbestreitbar. Wir hatten im Jahr 2002, ich berufe mich auf dieselben statistischen Größen wie mein Kollege Walther, in Deutschland eine Armutsquote von 13,1 Prozent. Im Osten macht dies 16,1 und im Westen 12,4 Prozent aus.

Zweitens. Auch dies ist unbestreitbar, Armut ist in Deutschland jung geworden. Wir haben im Alter von bis zu 10 Jahren eine Armutsquote von 25,3 Prozent im Osten und im Alter von 11 bis 20 Jahren eine Armutsquote von 26,3 Prozent, also weit über dem Durchschnitt.

Und wir haben das dritte wichtige, aus meiner Sicht wichtige Phänomen, Armut tritt besonders auf bei Alleinerziehenden. Das ist etwas, worüber man viel intensiver diskutieren muss. Einelternhaushalte im Osten Deutschlands befanden sich im Jahr 2002 zu 46,9 Prozent in Einkommensarmut.

(Torsten Koplin, PDS: Da muss man gegensteuern.)

Dies sind Zahlen, die uns alle äußerst sorgenvoll stimmen sollten, und dies müsste auch ein hinreichender Grund sein, diese Fragen ausführlicher zu diskutieren.

Ich möchte aber meine Einschätzung, dass ich glaube, dass wir gar kein richtiges Zahlenproblem haben und der Erhebungsaufwand dort vielleicht nicht übertrieben werden sollte, mit ein paar Argumenten begründen. Man kann bei dieser Armuts- und Reichtumsforschung zwei Dinge untersuchen. Man kann Gesellschaftskritik machen, man kann also nach draußen gehen und sich angucken, wie die Gesellschaft strukturiert ist, wie die Markteinkommen verteilt sind und wie es mit Armut und Reichtum aussieht. Und man kann etwas anderes machen, man kann auch in einer solchen Studie Selbstkritik üben. Man kann sich die Frage stellen: Was tut eigentlich der Staat, was tut eigentlich die Politik, welche Instrumente haben wir, um Fehlentwicklungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken? Und es ist eben die Rolle des Staates, auf der einen Seite – jedenfalls nach meiner Auffassung – über Steuerpolitik überbordenden Reichtum zu begrenzen, um auf der anderen Seite, das ist das traditionelle Verständnis der Sozialpolitik, Armut zu verhindern oder durch diese Einnahmen, die man erzielt, zumindest zu begrenzen.

Insofern hielte ich es für einen wirklichen Fortschritt, in einem solchen Armuts- und Reichtumsbericht stärker die Frage zu thematisieren, denn meines Erachtens ist für die Armutslage genug Datenmaterial vorhanden, was eigentlich unsere staatlichen Einrichtungen taugen. Was taugen unsere Instrumente, um diese Armuts-Reichtums-Relation in einen vernünftigen Gleichklang zu bekommen? Sind unsere sozialpolitischen Instrumente geeignet, einen Ausgleich zu schaffen, und sind es auch unsere steuerpolitischen Instrumente? Man muss sich also beides ansehen. Begrenzen wir Reichtum, um Armut zu verhindern? Funktioniert das?

Und ich möchte am Beispiel der Sozialpolitik noch ein Stück weiter gehen. Ich denke, man kann zwei grundsätzliche Auffassungen von Sozialpolitik vertreten. Die eine Auffassung ist die traditionelle, die nachsorgende Form von Sozialpolitik. Das ist das Modell der Bundesrepublik West. Wir haben einen funktionierenden Arbeitsmarkt, wir

haben Vollbeschäftigung wie in den 60er und 70er Jahren und Sozialpolitik ist dazu da, diejenigen, die auf diesem Markt keinen Platz finden, zu alimentieren und zu versorgen. Dieses Modell funktioniert natürlich nur, wenn wir einen Arbeitsmarkt haben, der die Menschen auch aufnimmt, ihnen Einkommen gibt, ihnen Lebenssicherheit gibt und dafür sorgt, dass es keine Einkommensarmut gibt.

Seit Mitte der 70er Jahre haben wir aber in der Bundesrepublik West Massenarbeitslosigkeit und nach 1990 auch im Osten. Dann stellen sich die Fragen: Funktioniert diese nachholende, diese nachsorgende Sozialpolitik der Alimentation in einer solchen Lage noch, wo der Arbeitsmarkt nicht mehr alle Menschen integriert, nicht mehr alle Menschen sozial teilhaben lässt? Reicht eine bloße Alimentation in der Sozialpolitik noch? Und für die Sozialdemokratie, glaube ich, gibt es da die Auffassung, dass wir diesen traditionellen Begriff von Sozialpolitik nicht mehr zeitgemäß finden, sondern ein Konzept von Sozialpolitik befürworten, das eine Modernisierung angeht. Und worin besteht diese? Diese besteht darin, nicht mehr nachsorgend zu alimentieren, sondern präventiv zu aktivieren, das heißt, sich die Frage zu stellen: Wie können Sozialleistungen so organisiert werden, dass sie – und dies ist die entscheidende Frage – am Ende Lebenschancen in den Vordergrund rücken?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von Dr. Martina Bunge, PDS)

Und ich möchte dies etwas weiter präzisieren. Was soll das bedeuten? Es ist relativ einfach. Ich denke, moderne Sozialpolitik verabschiedet sich von reiner Alimentation und nimmt ins Zentrum ihrer Politik die Bildungspolitik. Diese Kernthese von mir lautet: Moderne Sozialpolitik ist Bildungspolitik und nicht mehr reine Alimentation und das reine Ausreichen von Sozialeinkommen, denn wir steuern zu auf eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, das heißt, wir steuern zu auf eine Gesellschaft, in der die Einkommensposition der Menschen und damit auch die Frage der sozialen Sicherheit von der Frage abhängen wird, über welche Qualifikation sie verfügen. Wie gut sind sie ausgebildet? Haben sie Chancen, hohe Einkommen zu erwirtschaften und auch Beschäftigung zu finden? Das heißt, wenn man sich diesen langfristigen Blick der Lebenschancen über Bildung ansieht, dann wird es sehr deutlich, warum in einem modernen Verständnis von Sozialpolitik, einer aktivierenden Sozialpolitik, die Bildungspolitik zum neuen Zentrum wird, wenn es langfristig ausgerichtet ist.

Und ich möchte an drei Punkten diese Frage mal versuchen kurz anzureißen. Wie sieht es denn aus mit Lebenschancen in Deutschland? Wie sieht es denn aus? Haben wir uns schon eingestellt auf diese neue Anforderung der Sozialpolitik? Nur drei Fakten:

Nach Angaben der PISA-Studie erwerben 76 Prozent der Kinder aus der Oberschicht ein Abitur oder eine andere Hochschulzugangsberechtigung und nur 5 Prozent dieser Kinder erwerben einen Hauptschulabschluss. In der Unterschicht, in der so genannten sozialen Unterschicht, erwerben nur 12 Prozent der Kinder ein Abitur und eine Zugangsberechtigung zu den Hochschulen und dafür 49 Prozent einen Hauptschulabschluss. Das sind keine Zahlen für Mecklenburg-Vorpommern, sondern für ganz Deutschland. In Deutschland ist es eben nicht so, dass ausschließlich die Leistungsbereitschaft der jungen Menschen darüber entscheidet, welchen Berufsabschluss sie

erwerben und welche soziale Lage sie in ihrem Leben einmal in der Gesellschaft einnehmen werden, sondern wir haben hier die Vererbung von sozialer Ungleichheit über die Familien.

(Beifall Dr. Margret Seemann, SPD – Zuruf von Torsten Koplin, PDS)

Komme ich aus einem Elternhaus, wo es mehr Geld gibt, habe ich auch viel größere Chancen, später selbst wieder viel Geld zu verdienen und eine gute Position in der Gesellschaft zu erreichen. Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, das muss man einfach feststellen.

Es gibt dann ein zweites Faktum: Nur 11 Prozent der Kinder der Unterschicht schaffen es an die Hochschulen, also wirklich zu studieren, und es sind 81 Prozent der Kinder der Oberschicht. Auch hier sieht man ganz deutlich keine Chancengleichheit. Und um diesen Zusammenhang von Sozial- und Bildungspolitik noch mal sichtbar zu machen, kann man darauf verweisen, wie viel Einkommen denn Akademiker erzielen und über welches Arbeitslosigkeitsrisiko sie verfügen, denn über Arbeit wird am Ende die Frage entschieden, ob Leute arm sind oder nicht. Die Einkommensarmut ist in erster Linie etwas, was mit Arbeitslosigkeit zu tun hat. Und Akademiker haben in Deutschland nach OECD-Angaben etwa ein Einkommen, das 65 Prozent höher ist als von Absolventen, die die Sekundarstufe II beenden, und sie haben ein Arbeitslosigkeitsrisiko von 3,4 Prozent. Der Gesamtdurchschnitt beträgt 7,7.

Das heißt, wenn man das alles zusammenfasst, wäre es also eine spannende Frage, genau dies ins Zentrum einer solchen Armuts- und Reichtumsstudie zu stellen, nämlich: Wie hängt soziale Sicherheit, wie hängen Armut und Reichtum mit Bildung zusammen? Meine Kollegen haben es aber auch schon aufgegriffen. Und vor allem: Was leisten unsere öffentlichen Einrichtungen, um Armut und Reichtum wirksam zu begrenzen? Wie trägt das Bildungssystem dazu bei, Menschen gleiche und gerechte Lebenschancen zu eröffnen, die Übergänge von den Bildungsinstitutionen geschmeidig zu gestalten, so dass alle Kinder und Jugendlichen und damit langfristig alle Menschen gleiche und gerechte Chancen haben?

Nun möchte ich zum Schluss kommen, zum letzten Punkt, und auf Herrn Schubert reagieren. Herr Schubert, das ist aber wirklich enttäuschend, was Sie hier vorgetragen haben, und zwar aus einem Grund. Nehmen wir mal an, Sie haben Recht. Sie haben sich hier vorn hingestellt und gesagt, die Regierung tue nichts, sie bekomme nichts auf die Reihe. Gut, nehmen wir mal an, Sie haben Recht. Nur, von einer konstruktiven Opposition erwartet man ja dann wenigstens einen einzigen Gegenvorschlag, einen einzigen, nur einen, einen einzigen!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben nichts anderes getan, als sich hier hinzustellen und zu sagen, wir tun nichts. Und ich habe keinen Vorschlag gehört.

(Unruhe bei Abgeordneten der CDU – Zurufe von Lorenz Caffier, CDU, und Harry Glawe, CDU)

Also wenn Sie wirklich eine gute und konstruktive Opposition sein wollen, dann bringen Sie bitte eigene Vorschläge ein und fordern Sie nicht nur die Regierung auf, etwas zu tun oder sich etwas auszudenken, das Sie dann beurteilen können! Aber ich möchte diesem Irrtum, dem

Sie unterliegen, in drei Punkten widersprechen, dass wir nichts getan hätten. Ich weise Sie nur mal darauf hin –, dass gerade die Kollegen aus dem Sozialausschuss das schon vergessen haben, finde ich wirklich bemerkenswert –, drei kleine Fakten, wo wir genau diese Punkte, die hier meine Kollegen schon vorgetragen haben, bereits berücksichtigt haben:

Punkt Nummer eins: Auf Antrag der SPD- und PDSFraktion haben wir in den laufenden Haushaltsverhandlungen die Familienfahrten für sozial schwache Familien, also den Titel dafür, verzehnfacht. Verzehnfacht! Es ist immer noch ein kleiner Titel, ich weiß, das wissen auch unsere Kollegen und es reicht uns noch nicht aus. Aber auch Sie, Herr Glawe, hätten die Chance gehabt im Sozialausschuss, Sie haben keine Anträge gestellt in den Haushaltsverhandlungen, sie hätten die Chance gehabt, sich konstruktiv einzubringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Wir haben hier gehandelt und...

(Unruhe bei Abgeordneten der CDU – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Ja, das ist schon klar, dass Sie das nicht ertragen können. Wir haben gehandelt und...

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Herr Abgeordneter Glawe, ich ermahne Sie jetzt nochmals, sich zurückzuhalten. Der Redner hier vorne hat das Wort und nicht Sie.

Also es geht um die Verzehnfachung der Unterstützung der Gelder für Familien aus sozial schwachen Verhältnissen bei Ferienfahrten durch das Land Mecklenburg-Vorpommern auf Antrag der rotroten Koalition.

Zweitens. Wir sind das einzige Bundesland, das überhaupt ein Pflegewohngeld eingeführt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Meine Damen und Herren, auch wir sind nicht mit dem zufrieden, was wir dort erreicht haben. Das ist doch klar.

(Torsten Koplin, PDS: Niedersachsen hat das abgeschafft.)

Auch wir hätten lieber ein höheres Pflegewohngeld ermöglicht.

(Unruhe bei einzelnen Abgeordneten der CDU)

Aber irgendwann ist der Haushalt einfach auch am Ende und dann hat man große Schwierigkeiten, das zu tun, was für alle wünschenswert wäre. Ich sage es noch einmal: Wir sind das einzige Bundesland, welches das überhaupt getan hat. Dass das umgekehrt als Beispiel dafür genommen wird, dass wir angeblich nichts tun, um Armut zu verhindern, ist wirklich hanebüchen.

Jetzt zum dritten Punkt, den ich erwähnen möchte, und dann komme ich auf das KiföG zurück. Die Genossinnen und Genossen der Opposition

(Heiterkeit bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

versuchen in der Öffentlichkeit ja immer den hartnäckigen Eindruck zu erwecken, das KiföG habe keinerlei posi

tive Komponenten. Ich plädiere hier dafür – und ich glaube, es lässt sich dafür gut argumentieren –, dass wir den alten Gegensatz oder die starre Trennung zwischen Sozial- und Bildungspolitik aufheben, dass wir sagen, moderne Sozialpolitik ist im Kern Bildungspolitik und muss durch soziale Maßnahmen flankiert werden. Gucken Sie mal in die Präambel des neuen KiföG und dann werden Sie sehen, dass wir hier das alte Hase-Igel-Problem haben, Herr Schubert, und dass Sie auch im Sozialausschuss einfach besser aufpassen und die Gesetze lesen sollten, die Sie dann ablehnen!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU)

Das also zu dem Thema, das wir angeblich nicht behandelt hätten. Dann werden Sie nämlich diesen zentralen Gedanken im KiföG wiederfinden, dass wir in einer modernen Sozialpolitik eine Einheit von Sozial- und Bildungspolitik brauchen, mit dem Ziel, gerechte Lebenschancen für unsere Kinder und Jugendlichen zu organisieren.

Ich darf Ihnen jetzt einmal aus der Präambel vorlesen: „Die Förderung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Tagespflege erfüllt einen eigenständigen alters- und entwicklungsspezifischen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag.... Sie fördert die Entwicklung eines jeden Kindes und wirkt insbesondere Benachteiligungen entgegen, die der Chancengerechtigkeit beim Eintritt in die Grundschule entgegenstehen. Hierzu ist dem individuellen Förderbedarf der Kinder aufgrund ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen beim Eintritt in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege Rechnung zu tragen.“

Sie sehen in diesem KiföG, dass wir bereits angefangen haben, bevor wir überhaupt den Armuts- und Reichtumsbericht hier noch einmal thematisieren, genau unsere Grunderkenntnisse umzusetzen. Nun kann man sagen, das ist noch nicht genug, das mag alles sein, nur, sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition, solange Sie gar nichts vorlegen, sind wir immer noch ganz gut dabei. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS)