Protocol of the Session on May 13, 2004

nicht alleine, aber auch dazu geführt, dass viele Lehrerinnen und Lehrer zutiefst verunsichert waren, ob sie denn überhaupt noch eine Erziehungsfunktion in der Schule haben.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS – Zuruf von Kerstin Fiedler-Wilhelm, CDU)

Die Schule hat, und das ist meine feste Überzeugung, schon durch die Schulpflicht einen staatlichen Auftrag zur

Bildung und Erziehung. Im Schulgesetz unseres Landes ist dieser in Paragraph 2 als Bildungs- und Erziehungsauftrag formuliert. Im Gegensatz zum Erziehungsauftrag und der Pflicht der Eltern nach dem Grundgesetz sind hier detaillierte Anforderungen und Ziele formuliert. Das ist notwendig, weil die Schule den Eltern als Hauptverantwortliche für die Erziehung ihrer Kinder eine klare Auskunft darüber geben muss, nach welchen Grundsätzen und Prinzipien und auch in welchen Grenzen sich Bildungsund Erziehungsfunktion von Schule darstellt.

Folglich tragen also Eltern und Schule gemeinsam Verantwortung für die Bildung und Erziehung der Kinder. Entscheidend ist allerdings, dass beide Teile ihrer Verantwortung auch so gut nachkommen, wie es nur irgend möglich ist. Genau das wird nur mit einer gemeinsamen, vertrauensvollen, gleichberechtigten und manchmal auch kritischen Zusammenarbeit zu den gewünschten Ergebnissen führen. Das Schulgesetz bietet deshalb vielfältige Möglichkeiten der demokratischen Mitwirkung in Zusammenarbeit von Eltern, Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! So viel zum grundsätzlichen theoretischen bildungspolitischen Ansatz. Der Ihnen vorliegende Antrag hat das Ziel, die Erziehungsfunktion der Schule zu stärken. Das müsste man eigentlich nicht, wenn sie stark genug wäre. Aber aus der Aufzählung der Schwerpunkte in unserem vorliegenden Antrag wird deutlich, dass es genau in diesem Bereich Probleme gibt und in welchen Bereichen sie liegen.

Meine Fraktion hat im Rahmen ihrer Landtour zum Thema „Stand und Perspektiven von Bildung in Mecklenburg und Vorpommern“ in den Monaten Februar bis April 22 allgemein bildende und berufliche Schulen besucht. In den Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern, Schulleiterinnen und Schulleitern wurde deutlich, dass die Schulen teilweise erhebliche Probleme bei der Umsetzung ihres Erziehungsauftrages haben. Hier einige Beispiele der Probleme vor Ort:

Manche Eltern nehmen zunehmend ihre Erziehungspflicht nicht mehr im notwendigen Umfang wahr. Die Schule kann aber nicht das Erziehungsrecht und die Erziehungspflicht der Eltern ersetzen.

(Kerstin Fiedler-Wilhelm, CDU: Wohl wahr.)

Bemühungen der Schule, die Eltern zu unterstützen, werden häufig weniger angenommen als bisher. Die sozialen Bedingungen der Elternhäuser, zum Beispiel Arbeitslosigkeit und andere soziale Probleme, sowie die fehlende Perspektive zum Beispiel für Schulabgängerinnen und Schulabgänger wirken sich demotivierend auf die Mädchen und Jungen, aber auch auf die Eltern und manchmal auch auf die Lehrerinnen und Lehrer aus. Die gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen wirken sich negativ auf die pädagogisch erzieherischen Prozesse an der Schule aus. Den Schulen fehlen zunehmend Möglichkeiten und Instrumente – und, Frau Fiedler-Wilhelm, Sie haben von den Schulsozialarbeitern gesprochen –, diese Tendenzen wenigstens zu mildern durch Schul- und Sozialarbeit, durch die weitere Entwicklung diagnostischer Tätigkeiten, durch die Frage der psychologischen Betreuung, durch mehr Zeit für die Schülerinnen und Schüler.

Kritisch zu sehen ist, und so auch die Aussagen während dieser sechs Wochen, dass die Zahl der Kinder mit emotional sozialen Verhaltensauffälligkeiten zunimmt

und die Wahrnehmung der Elternrechte und -pflichten zunehmend differenzierter wird. Es gibt Fälle, wo zu wenig wahrgenommen wird oder gar nicht, und es gibt auch Fälle, wo überzogen wird. In der Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus hat die Schule wenig rechtliche Möglichkeiten. Die Zusammenarbeit mit der örtlichen Jugendhilfe wird oft noch ungenügend genutzt.

Schulen, Wirtschaft, Hochschulen beklagen den Rückgang von wichtigen Persönlichkeitseigenschaften wie Ausdauer, Disziplin, Leistungsbereitschaft und Leistungswillen, Höflichkeit, Pünktlichkeit und Verantwortung. 1 2 Prozent der Schülerinnen und Schüler bleiben ohne jeden Schulabschluss. Und an den Hochschulen gibt es Abbrecherquoten, das hat sowohl Wismar als auch Neubrandenburg gezeigt, von ungefähr 30 Prozent. Die Ursachen dafür liegen nicht allein in einer mangelhaften Bildung oder in einer falschen Entscheidung, sondern manchmal eben auch in Defiziten bei der Erziehung.

Diese Entwicklungen, die ich hier nur anreißen kann, werden durch ein emotionales Problem verstärkt, das immer wieder in den Gesprächen auftrat, und zwar, dass die Lehrerinnen und Lehrer eine mangelnde gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit beklagen. Sie beklagen eine Tendenz, dass ihnen allein die Verantwortung für gesellschaftliche Defizite bei Kindern und Jugendlichen angelastet wird, und sie fühlen sich zunehmend und oft mit den Auswirkungen dieses Problemkreises allein gelassen. Und auch aus diesem Grund werde ich mich weiterhin bei Lehrerinnen und Lehrern für ihre engagierte Arbeit bedanken, und das auch dann, wenn ich Entscheidungen verantworten muss, die mehr Arbeit oder weniger Geld bedeuten.

Ich habe den Lehrerinnen und Lehrern, die meine Schulzeit und die meiner Kinder begleitet haben, sehr viel zu verdanken. Ein Dankeschön von politischen Entscheidungen abhängig zu machen, so, wie mir das gestern von meiner Kollegin hier angeraten wurde, das kann ich nur zurückweisen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS, Rudolf Borchert, SPD, und Heike Polzin, SPD)

Alle bisher hier genannten Probleme sind nicht zu leugnen, sie sind vor allen Dingen auch nicht zu verniedlichen. Ich bin mir bewusst, dass ich hier jetzt Aussagen von Pädagoginnen und Pädagogen wiedergeben habe. Auch Eltern haben Kritiken an der Umsetzung des Bildungsund Erziehungsauftrages in manchen Schulen von mancher Lehrkraft. Und auch da steht die Frage, wie wirksam ist Schulaufsicht, wir wirksam ist tatsächlich der Protest von Eltern gegenüber einer aus ihrer Sicht unzureichenden Arbeitsweise des betreffenden Lehrers. Es kann hier aus meiner Sicht nicht um die Bewertung von Einzelfällen gehen. Es ist wie im wirklichen Leben auch, nichts ist so gut, als dass man es nicht noch besser machen könnte, oder um es mit de Chardin zu sagen: „Es ist weniger schwierig, Probleme zu lösen, als mit ihnen zu leben.“

Wir wollen mit unserem Antrag einen Diskussionsprozess einleiten, der sich mit den aktuellen und hier schon in der Debatte sehr vielschichtig aufgezeigten Entwicklungen befasst, der die Ursachen für diese Entwicklungen aufdeckt, der Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Und da wird es mit Sicherheit, Frau Fiedler-Wilhelm, da gebe ich Ihnen Recht, in der Konsequenz auch um Veränderungen gesetzlicher Regelungen gehen, aber eben nicht nur.

(Kerstin Fiedler-Wilhelm, CDU: Das habe ich auch nicht gesagt.)

Und es geht um notwendige Veränderungen.

Das bis zum 30.09. zu erarbeitende Konzept, das wird dann in einer breiten Diskussion mit allen am Bildungsprozess Beteiligten auszugestalten, zu entwickeln, zu diskutieren sein, und zwar nicht am grünen Tisch, sondern mit denen, die es angeht, gemeinsam gestaltet.

(Beifall Heike Polzin, SPD, Dr. Gerhard Bartels, PDS, und Angelika Gramkow, PDS)

Ich schlage vor, und Frau Polzin hat es bei der Einbringung deutlich gemacht, dass wir uns wirklich sehr umfänglich und detailliert mit diesem Antrag in Bezug auf Anhörungen von Experten dieser verschiedenen Bereiche befassen, dass wir zu den Einzelpunkten Schwerpunkte und Zielrichtung bestimmen, und zwar gemeinsam mit dem Ministerium in der Debatte. Dazu gäbe es jetzt schon eine Menge zu sagen, aber meine Redezeit ist dafür an dieser Stelle nicht ausreichend.

Ich will nicht verschweigen, dass die Terminstellung zum 30.09., Frau Fiedler-Wilhelm, natürlich sehr eng ist, weil dazwischen die Sommerpause und die Ferien liegen. Aus meiner Sicht ist das ein enges Zeitraster, aber wir sollten es wirklich tun. Wir sollten anfangen und uns nicht um einfache Informationen und Antworten sorgen, sondern um eine tief greifende Diskussion. Dazu möchte ich, wie gesagt, alle einladen, frei von allen ideologischen Scheuklappen, denn Erziehungsfragen sind gesellschaftlich verantwortungsvolle Fragen. Diesen ist es aus Erfahrung nicht dienlich, wenn man sie parteipolitisch indoktriniert.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Danke, Herr Bluhm.

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Polzin von der Fraktion der SPD.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte mit einem konkreten Beispiel beginnen, das uns vielleicht doch mal insgesamt die Wahrnehmung erleichtert, mit welchen Problemen Schulen aktuell zu kämpfen haben. Stellen Sie sich bitte eine ganz normale Schule in Mecklenburg-Vorpommern vor mit 28 Klassen. Mehr werde ich zur Identifizierung nicht sagen, aber ich denke, einige von Ihnen haben den Brief, der mir hier vorliegt, auch bekommen und sicherlich ist er Ihnen auch ein bisschen an die Nieren gegangen. Diese Schule schreibt über ihre aktuellen Erfahrungen und Probleme und bittet uns als Politiker um Hilfe und Unterstützung. Sie listen auf, mit welchen Problemen sie sich täglich herumschlagen, und die Zahlen, denke ich, sind ganz eindrucksvoll und sprechen eine Sprache für sich. Es war noch nicht mal das halbe Schuljahr um, muss man dazusagen, und bezogen darauf sind die ganzen Zahlen zusammengetragen:

Zerstörung, Beschädigung von Schuleigentum mit entstehenden Kosten – 32 Fälle

Zerstörung von Eigentum anderer Schüler – 44 Fälle

Schlägereien, Handgreiflichkeiten – 124 Fälle, gezählt in 7 von 28 Klassen dieser Schule

Verweigerungen im Unterricht – 260, gezählt in 7 von 28 Klassen

Vorkommnisse bezüglich Drogen, Alkohol – 7

vergessene Materialien, gezählt in 6 Klassen – 1.453

vergessene Hausaufgaben, gezählt in 6 von 28 Klassen – 2.216

unentschuldigte Fehltage – 696 Fälle

unentschuldigte Fehlstunden – 350

ernst zu nehmende Drohungen gegen Lehrer und Schüler – 114

Handgreiflichkeiten gegen Lehrkräfte – 3

Ich glaube, ich muss dem nichts hinzufügen außer diesem einen Satz: Dies ist keine besonders herausgehobene Schule, dieses ist leider an etlichen Schulen Realität. Es ist an der Zeit, etwas dagegen zu tun!

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Die Schulen selbst versuchen es. Auch hier im gleichen Sachzusammenhang Antworten, um die sie sich täglich bemühen. Da ist ja zunächst mal, wie es vielleicht jedem erst einfällt, der ganze Bereich der restriktiven Maßnahmen, die Schulstrafen:

Verweise mündlich – 81

Verweise schriftlich – 54

Schulausschlüsse, zeitweilige Klassenumsetzung – 11

Elternversammlungen, und jetzt sind wir nicht mehr bei der restriktiven, sondern bei der täglichen pädagogischen Arbeit, die dem vorausgeht, Elternversammlungen zur Verhaltensproblematik – 13

Klassenkonferenzen, Fallbesprechungen – 43

Zusammenarbeit mit dem Jugendamt – 17

Einsatz der Sozialpädagogen – einzelne Schüler – täglich – Telefonate zur Verhaltensproblematik mit Eltern und den Heimen – 362 – Elterngespräche zur Verhaltensproblematik – 144 – Kontakte zu Erziehungshelfern – 47

und, auch das muss zum Schluss gesagt werden, Polizeieinsätze – 6

Wenn wir also nicht in der Tat komplex reagieren, und die Betonung liegt auf „komplex“, nicht mit einzelnen Möglichkeiten hier und da mal etwa zu versuchen, dazu, denke ich, ist es schon viel zu spät. Wir müssen umfassend dabei reagieren.