Protocol of the Session on June 25, 2002

(Martin Brick, CDU: Es geht doch! Es geht doch!)

Zweitens soll die Auslöseschwelle für staatliches Kontrollverhalten und -handeln deutlich gesenkt werden. Schon wenn ein Grund zur Annahme besteht, dass ein Lebensmittel beziehungsweise ein Futtermittel eine Gesundheitsgefährdung

(Harry Glawe, CDU: Das hätten Sie doch schon alles machen können.)

für Mensch oder Tier darstellen kann, ist die zuständige Behörde zu informieren. Das werden wir jetzt machen

(Harry Glawe, CDU: Das hätten Sie doch alles machen können, vor einem Jahr schon.)

aufgrund auch der Vorstellungen und Gedanken, die hier entwickelt worden sind.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

Ich habe von Ihnen, Herr Glawe, zu dem Thema noch nie etwas gehört.

So viel zum Komplex der Schuldfrage und wie der Landwirtschaft geholfen werden kann.

Was noch bleibt, ist, dass aus den Vorgängen agrarund verbraucherpolitische Maßnahmen abzuleiten sind.

Deutlich geworden ist, wie anfällig die landwirtschaftliche Produktion gegenüber Unachtsamkeit ist, von krimineller Energie oder Profitgier will ich hier gar nicht erst sprechen. Das Verantwortungsbewusstsein muss deshalb in allen Teilen der Produktionskette erheblich geschärft werden.

(Beifall Heidemarie Beyer, SPD, und Ute Schildt, SPD)

Verantwortung muss klar erkennbar sein. Deshalb sind eine Zertifizierung und die gläserne Produktion richtig, sie müssen aber vollständig in der Kette umgesetzt werden. Wir müssen letzten Endes dahin kommen, dass das schwächste Glied nicht eine ganze Kette sprengen darf.

(Beifall Heidemarie Beyer, SPD, und Ute Schildt, SPD)

Deshalb sollte eine Förderung der Zertifizierung und anderer Maßnahmen zur Verbreitung der gläsernen Produktion im Förderkatalog der Gemeinschaftsaufgabe aufgenommen werden und umgesetzt werden. Im Übrigen erwarte ich auch hier von ihrem Kollegen Herrn Fischler klare Aussagen, die ich mit ihm auch besprochen habe.

Darüber hinaus stellen wir fest, dass die Stoffkreisläufe im ökologischen wie im konventionellen Landbau nicht ausreichend überschaubar sind in Deutschland oder auch in Europa. Der Regionalisierung von Produktion und Verarbeitung kommt deshalb eine wachsende Bedeutung zu. Weiterhin ist es erforderlich, Lebensmittelrecht und Futtermittelrecht anzugleichen. Insofern will ich das ausdrücklich unterstützen, was Frau Gramkow gesagt hat, wobei, solange es sich um eine reine Getreidelagerhalle handelt – und deswegen müssen wir beim Getreiderecht erneut ansetzen –, haben wir bis heute eben nicht diese staatliche Kontrolle. Sobald es zum Futtermittel wird, setzen die staatlichen Kontrollen ein. Und das werden wir jetzt verschärfen. Wir werden auch einen Leitfaden zur Getreidelagerung in Mecklenburg-Vorpommern erstellen, denn die Ernte wird in den nächsten Tagen beginnen, um damit auch Klarheit sowohl für die Landwirte als auch für die verarbeitende Industrie zu entwickeln, um da auch klare Prämissen zu setzen. Es darf nicht sein, dass verbotene Substanzen nach Lebensmittelrecht im Futtermittel enthalten sein dürfen. Sie können davon ausgehen, dass wir entsprechende Initiativen auf den Weg bringen werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie erkennen hoffentlich, dass die Landesregierung gehandelt hat und weiterhin handelt. Ich danke allen Kräften, die geholfen haben, Gefahren abzuwenden. Wir haben 334 Betriebe bis zu einer Woche sperren müssen. Aber was bedeutet

das im Vergleich zu der Gefahr, wenn dazu ganz Deutschland gesperrt worden wäre. Wenn man kleine Feuer nicht sofort und beherzt austritt, wird daraus ein Flächenbrand,

(Beifall Heidemarie Beyer, SPD)

und dieses haben wir verhindern können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS – Martin Brick, CDU: Das ist doch Ihre Pflicht. Das brauchen Sie nicht besonders zu betonen.)

Jawohl, Herr Brick, es war und ist meine Pflicht.

Wenn es Kritiker unseres konsequenten Vorgehens geben sollte, dann sage ich Ihnen Folgendes: Was wäre denn, wenn Nitrofen nicht Nitrofen gewesen wäre, sondern eine andere Substanz?

(Martin Brick, CDU: Richtig.)

Auch dieses musste man einfach in das Kalkül mit einbeziehen, wenn irgendwo in diesem Labyrinth von Lieferströmen Getreide mit einem ganz anderen Stoff mit einer viel höheren Brisanz kontaminiert worden wäre. Denken Sie bitte mal auch über diese Dinge nach! Und insofern hoffe ich, dass wir es mit einem solchen Lebensmittelskandal nie wieder zu tun haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Danke schön, Herr Minister.

Als Nächstes hat das Wort die Abgeordnete Frau Schwebs für die Fraktion der PDS.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir uns hier vor rund einem Jahr über die BSE-Krise unterhalten haben, sprach ich davon, dass BSE das Menetekel für die Agrarwirtschaft sei. Heute jedoch muss ich zu meinem Bedauern feststellen, ich habe mich geirrt. Es hat sich nicht um ein Menetekel gehandelt, sondern die BSE-Krise war nur ein Gipfel im weiten Gebirge mit dem Namen „Agribusiness“. Man könnte auch noch viele andere Berggipfel nennen, Dioxin oder Nikotin beispielsweise.

Ich finde, es ist an der Zeit zu fragen, warum es in der Agrarwirtschaft immer wieder zu Skandalen, Vertuschungen und Mauscheleien kommt. Das, meine Damen und Herren, so meine ich, liegt an den Strukturen in der deutschen Agrarwirtschaft sowie in ihrer bisherigen Ausrichtung. Der Landwirt ist doch quasi nur noch ein ganz, ganz kleines Rädchen in diesem Industriezweig, eben dem Agribusiness. Er ist von den Lieferungen der Futtermittelproduzenten und Saatgutfirmen ebenso abhängig wie von den nachgeordneten Bereichen, welche ihm die Preise diktieren. Eigener unternehmerischer Spielraum existiert doch nur in minimalen Größen.

Diese hohe Zergliederung führt unter anderem dazu, dass zwischen den einzelnen Teilbereichen Informationshürden aufgebaut werden. Sie sorgen dafür, dass letzten Endes die eine Hand nicht mehr weiß, was die andere tut. Nur so ist es erklärbar, dass erst ein Lebensmittelhersteller den Nachweis über Nitrofen in Lebensmitteln in die Öffentlichkeit gebracht hat, obwohl bereits im Vorfeld andere über die Belastung des Futters und der nachfolgenden Produkte Bescheid wussten.

Die Bezeichnung „Kartell des Schweigens“, wie Minister Backhaus es nannte, scheint mir für diese Situation

treffend und auch zielführend zu sein. In diesem Bereich wirtschaftet jeder in der Anonymität, im Schatten vor sich hin. Die Dummen sind am Ende wieder mal die Landwirte sowie die Verbraucher und Verbraucherinnen, die bei Skandalen hinsichtlich der Feststellung von Verantwortlichkeiten und Beseitigung der Defizite in die Röhre sehen.

Sehr geehrte Damen und Herren, neben der hohen Anonymität in diesem Bereich führt meines Erachtens auch die Ausrichtung des Agribusiness zu den Skandalen. Mit der Forderung und dem eigenen Anspruch der Branche, gegen den Weltmarkt konkurrieren zu können, sorgt sie selber dafür, dass lange Transportwege, weite Informationsketten und nicht nachzuvollziehende Warenströme entstehen.

Im Nitrofenskandal konnten wir genau dieses Manko wie unter einer Käseglocke beobachten. In Malchin gelagertes Getreide läuft über den nordrhein-westfälischen Hersteller GS agri in konventionelle und ökologische Höfe oder wird bei FUGEMA mit Tausenden Tonnen unbelasteten Getreides vermischt und dann über die ganze Bundesrepublik verteilt. Oder das Interventionsgetreide – der Überschuss unserer subventionierten Landwirtschaft –, das in der Malchiner Halle gelagert wurde, wird in aller Herren Länder verschifft. Wer es letztlich wozu verbraucht hat, ist nicht mehr zu ermitteln, denn es ist nicht mehr da. Es ist wie im Mackie-Messer-Song von Brecht: Die im Dunkeln sieht man nicht und alle Beteiligten waschen sowieso ihre Hände in Unschuld und beteuern, von all dem nichts gewusst zu haben.

Wie so oft ist die Lobby der vorgelagerten Produktion erfolgreicher in Politik und Wirtschaft als die Landwirte und kommt bei Belastungen und Katastrophen mit ihren Produkten nicht für Folgeschäden auf. Ich denke, es muss schnellstens weitreichende Haftungsregularien, und zwar nicht nur Produkthaftung, sondern auch Umwelthaftung, und nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch weltweit geben. Das ist aber kein Schritt zu sagen, Deutschland soll erst mal warten, bis es EU-weit so weit ist, und dann machen wir ein Verbraucherinformationsgesetz. Ich denke auch, es ist eine verpasste Chance, das Verbraucherinformationsgesetz nicht verabschiedet zu haben.

(Beifall Angelika Gramkow, PDS – Martin Brick, CDU: Lesen Sie es doch mal!)

Auch in der Agrarwirtschaft ist klar, produziert und gekauft wird nur, worüber Vertrauen und Unbedenklichkeit besteht. Doch der Markt bei Nahrungsmitteln ist mehr als störanfällig. Jeder Skandal führt nicht nur dazu, dass die Landwirtschaft am Pranger steht und der anspruchsvolle Verbraucher sensibel reagiert, sondern er kostet auch den Steuerzahler immense Summen. Der Gesamtschaden für die betroffenen Landwirte aus dem Nitrofenskandal wird auf mehrere Millionen Euro geschätzt. Darin eingeschlossen sind die Kosten für das herdenweise Töten der Tiere, das Durchforsten und Kontrollieren der gesamten Warenströme, die Vernichtung von Futter- und Lebensmitteln, die Analyse der Futtermittel- und Fleischproben und nicht zuletzt die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft und des LKA.

Wer kommt denn letztlich für diese Kosten auf? Es ist auch noch nicht klar, wer bei den durch Nitrofen betroffenen Landwirten für den materiellen und finanziellen Schaden aufkommt. Herr Backhaus hat hier einige Möglichkeiten aufgezählt, wo das Land einspringen wird, aber dennoch wird der Schaden bei den Landwirten hängen

bleiben. Und Frau Künast hat auch Hilfe versprochen. Sie wird mit den Länderministern und auch mit der EU abgestimmt. Aber wie lange wird es dauern, bis dieses Programm von den Betroffenen genutzt werden kann?

Letztendlich muss es aber darum gehen, dass notwendige Bedingungen für mehr vorsorgenden Verbraucherschutz geschaffen werden. Da sind Bund und Land gleichermaßen in der Pflicht. Möglich wäre es, hier im Rahmen der PLANAK oder der Gemeinschaftsaufgabe nachzudenken beispielsweise über eine anteilige Mitfinanzierung einer Mehrfachgefahrenabsicherung für Landwirte durch Bund und Länder, damit die Landwirte nicht von heute auf morgen und noch dazu unverschuldet in den Ruin getrieben werden.

Gerade in solchen Situationen, wie wir sie in den letzten Wochen live miterlebt haben, zeigt sich die Störanfälligkeit des Lebensmittelmarktes. Jeder Skandal führt nicht nur dazu, dass die Landwirte am Pranger stehen und der Verbraucher mehr oder weniger sensibel reagiert, nein, jeder Skandal kostet den Steuerzahler ungeheure Summen, sei es bei seiner Vertuschung und der folgenden Aufdeckung, sei es bei dem offensiven Umgang mit dem Problem, wie es der Minister Backhaus in den letzten Wochen getan hat. Deshalb sage ich es abschließend noch einmal: Notwendig sind unabhängige Kontrollen der Futtermittel und der Lebensmittel gleichermaßen. Deshalb ist es unabdingbar, dass die staatlichen Kontrollen und Kontrollstellen überhaupt in die Lage versetzt werden, effektiv die Einhaltung des geltenden Rechtes zu prüfen. Es erscheint notwendig, ihre finanzielle Ausstattung zu erhöhen, um zukünftig Kontrolllücken und auch Wartezeiten zu verhindern. Das Sprichwort „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ gilt jetzt nur noch in dem Sinne: „Wo keine Kontrollen sind, kann auch kein Vertrauen mehr sein“.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Danke schön, Frau Schwebs.

Als Nächste erhält das Wort die Abgeordnete Frau Monegel für die Fraktion der SPD.

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Nitrofenskandal ist ein äußeres Zeichen für Schwächen und Lücken im Verbraucherschutz.

(Martin Brick, CDU: Warum Hannelore und nicht Ute Schildt? War die nicht bei FUGEMA beschäftigt? – Heiterkeit bei Harry Glawe, CDU)

Sicherlich werden wir bei solchen Angelegenheiten oder bei solchen Gelegenheiten immer abzuwägen haben, ob die Ursachen in Einzelfehlleistungen oder im System zu suchen sind. Dazu müssen wir den verwaltungsmäßigen Aufbau des Verbraucherschutzsystems einer genaueren Betrachtung unterziehen.

In meinem ersten Redebeitrag möchte ich deshalb auf Strukturen und Schwerpunkte im Verbraucherschutz auf EU-Ebene eingehen, denn wir leben hier nicht im luftleeren Raum. Bei meinem Besuch in Brüssel im September letzten Jahres anlässlich einer Tagung der deutschen verbraucherpolitischen Sprecherin der SPD-Fraktion wurden drei Arbeitsbereiche besonders diskutiert. Es ging erstens um die Lebensmittelsicherheit, zweitens um genetisch

veränderte Materialien und drittens um den elektronischen Geschäftsverkehr. Und damit sehen Sie eigentlich schon, Verbraucherschutz ist mehr als Nitrofenskandal.