Protocol of the Session on October 18, 2000

Dritte Sicht

Ich gehöre einer Partei an, deren Vorgängerin Verantwortung getragen hat. Eine Politik „Schwamm drüber“ hat sie nicht betrieben. Wir haben uns dazu bekannt – zu Fehlern, zu Unrecht, zum Bruch mit dem Stalinismus sowie zur Wiedergutmachung und Rehabilitierung der Opfer. Wir haben uns bekannt zu einer DDR, wie sie war, zu einem Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu bauen, die nicht zuletzt an den eigenen Fehlern, an verfehlter Ökonomie, verkrusteten Strukturen und fehlender Demokratie zugrunde gegangen ist.

(Harry Glawe, CDU: Späte Erkenntnis, ne?!)

Was schrie mir ein vielleicht 19-Jähriger bei der Demonstration der Werftarbeiterinnen und Werftarbeiter 1992 vor der Staatskanzlei entgegen: „Die rote Hure müsste man aufhängen! Sie hat uns 40 Jahre lang unterdrückt.“ Ich war damals 34 Jahre alt. Zehn lange Jahre

haben wir in Dörfern, in Städten, in Kreisen hart gearbeitet, auf der Straße, in Vereinen, in Verbänden, beim Ausfüllen von Formularen geholfen und in der knallharten achtjährigen Oppositionsarbeit machbare Alternativen aufgezeigt.

(Wolfgang Riemann, CDU: Na, na, na, na!)

Ich danke an diesem Tag all denjenigen, Ihnen nicht, Herr Riemann,

(Heiterkeit bei einzelnen Abgeordneten der SPD)

die für uns, mit uns dieses geleistet haben:

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und Rudolf Borchert, SPD – Heiterkeit bei Harry Glawe, CDU)

Genossinnen und Genossen, Sympathisantinnen und Sympathisanten, Wählerinnen und Wähler der PDS.

(Zuruf von Reinhardt Thomas, CDU)

Es gab 1998 keine vernünftige Alternative zu einem Regierungsbündnis mit der SPD. Es geht in diesem darum, Optionen für eine neue Politik zu ermöglichen und sie mehrheitsfähig zu gestalten – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und Heike Polzin, SPD)

Vierte Sicht

Wir haben Milliarden D-Mark an Investitionen zu feiern. Sie sind eine riesige Kraftanstrengung in Ost und West – inklusive Solidaritätszuschlag, Sonderabschreibungen und Solidarpakt. Trotzdem ist auch in Mecklenburg-Vorpommern die Wirtschaft fast zur Außenstellenökonomie geworden. Marktbereinigung und Konkurrenzbeseitigung war das Motto. Für 1 DM verkauft, mit Millionen an Investitionen subventioniert, heute verschwunden oder geschrumpft. Leuchtturmförderung war angesagt – BESTWOOD oder die Elbewerft oder Nordbräu. Wir haben heute die modernsten Werften der Welt. Das kostete das Land 340 Millionen DM zusätzlich, weil im Bremer Vulkan circa 850 Millionen DM strandeten.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Und dem Kanzler Geschenke gemacht wurden.)

Die Werften sind heute die einzigen industriellen Kerne in Mecklenburg-Vorpommern.

Das Rückgrat unserer Wirtschaft sind Kleinbetriebe. Viele Frauen und Männer haben sich in das Abenteuer der Firmengründungen begeben, hohe Schulden auf sich genommen und tagaus und tagein ein Höchstmaß an Selbstausbeutung vollzogen. Sie alle zusammen haben zehntausende neue Arbeitsplätze geschaffen. Von 1990 bis 1999 sind 174.388 Unternehmungen neu gegründet worden, 81.197 haben wieder aufgegeben. Das sind 4 7 , 3 Prozent. Die Masse der Unternehmensgründungen erfolgte im Handel, bei Dienstleistungen und Gastronomie, was für ein Tourismusland unabdingbar ist.

Natürlich gibt es in unserem Land wirtschaftliche Entwicklung. BioCon Valley, Technologieförderung, Verbindung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft sind solche Signale. Aber in den letzten Jahren haben Insolvenzen dramatisch zugenommen. Eigenkapitalschwäche, erschwerter Zugang zu Wagniskapital, Außenstände wegen ungenügender Zahlungsmoral sind doch die Achillesfersen in

Handwerk und Gewerbebetrieben. Hier sind die notwendigen Rahmenbedingungen durch uns auszubauen. Wirtschaft sichert und schafft dann Arbeitsplätze.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Richtig.)

Fünfte Sicht

Die tiefsten Einschnitte im Leben der Bürgerinnen und Bürger sind auch in Mecklenburg-Vorpommern die Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit. Nicht nur, dass durch den Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige viele schnell der Illusion beraubt wurden, dass sie und ihre Qualifikation für den Aufbau des Landes gebraucht werden, nein, nur jeder Fünfte behielt einen Arbeitsplatz. Besonders betroffen waren Frauen. Übergangsregelungen wie Altersübergangsgeld halfen besonders den über 55-Jährigen, sozialverträglich aus den Arbeitsprozessen auszuscheiden. Das betraf 287.000 Frauen und Männer unseres Landes. Andere haben in den letzten zehn Jahren eine so genannte ABM- beziehungsweise Fortbildungs- und Umschulungskarriere hinter sich gebracht, ohne sich jemals Hoffnung auf einen festen Arbeitsplatz machen zu können. Begleitet wurde dieser Prozess von einer entwürdigenden Missbrauchsdiskussion, was, so hoffte ich, hinter uns liegt und gerade in Mecklenburg-Vorpommern nicht wieder beginnen darf.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Aber Menschen haben nicht aufgegeben. 61.000 fanden in den alten Bundesländern eine Arbeit, sie pendeln täglich. Aber viele haben auch unser Land verlassen.

Investitionen hatten immer zwei Seiten: Zum einen wurden moderne Arbeitsplätze geschaffen, zum anderen wurden Arbeitsplätze wegrationalisiert. Allein in der Landund Fortwirtschaft waren es 195.000. Die konsequente Bindung von Investitionen an die Schaffung von Arbeitsplätzen ist ein notwendiger Schritt. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass für viele der so genannte zweite Arbeitsmarkt oder gar das Sozialamt die einzige Alternative ist. Öffentlich geförderte Arbeit ist unabkömmlich.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und Rudolf Borchert, SPD)

Kultur und Kunst, Jugend und soziale Strukturen werden oft genau mit diesen Mitteln aufgebaut und erhalten. Dies zu erkennen, zu akzeptieren und dann auch auszufinanzieren, ist das Gebot der Stunde.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Klar ist eins: Persönliche bürgerliche Freiheiten sind nur noch die Hälfte wert, wenn sie nicht durch Arbeit und Rente sozial gesichert sind. Was nützt die Reisefreiheit, wenn ich sie mir nicht leisten kann? Was nützt ein größeres Kultur- und Kunstangebot, wenn es das Portemonnaie nicht hergibt?

(Zuruf von Siegfried Friese, SPD)

Sechste Sicht

Es gibt zwei Begriffe, die Menschen eines gemeinsamen Landes in zwei unterschiedliche Kategorien einteilen: den Wessi und den Ossi. Es war von großer Bedeutung, ob man in die Kaufhalle oder in den Supermarkt ging. Es war von großer Bedeutung, ob man am Imbiss-Stand einen Broiler oder ein Hähnchen bestellte,

(Kerstin Kassner, PDS: Schmeckt beides genauso fad. – Heiterkeit bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

noch dazu, ob es dann auf einem Plaste- oder auf einem Kunststoffteller angeboten wurde.

(Minister Dr. Gottfried Timm: Plastik.)

Einem war das völlig egal – dem Hahn. Der wurde so und so gegessen.

(Heiterkeit bei Kerstin Kassner, PDS, und Heike Lorenz, PDS)

Nach zehn Jahren können wir schon schmunzeln. Ossiund Wessiwitze haben Konjunktur. Das ist ein gutes Zeichen, denn Witze haben, wie wir aus DDR-Zeiten wissen, eine entkrampfende Wirkung. Sie zeigen, dass vieles nicht so ernst genommen werden muss, wie wir es oft meinen. Ich glaube, wenn unsere Kinder uns fragen, was ist eigentlich ein Ossi und ein Wessi, dann sind wir der inneren Einheit ein gutes Stück näher gekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Die siebente Sicht

Was hat sich seit 1990 in Vorpommern getan? Der Tourismus boomt auf den Inseln.

(Beifall Gesine Skrzepski, CDU)

Er bringt dort Aufschwung, der sichtbar wird in den Kurund Badeorten an der Küste. Die Hansestädte Greifswald und Stralsund mit ihrem Wissenschafts- und Wirtschaftspotential sind die Leuchttürme, die aus dem Umland hervorragen, aber noch nicht genügend ausstrahlen. Die künftige Entwicklung von Lubmin ist noch umstritten. Sie kann Hoffnung vermitteln, wenn es gelingt, die widerstreitenden Interessen – hier Erhalt und Entwicklung des Seebades, dort Schaffung von industriellen Arbeitsplätzen – unter einen Hut zu bringen.

Das Hauptproblem ist die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit trotz erhöhter Landesförderung. Besonders betroffen sind die ländlichen Räume und damit vor allem die Kreise Demmin und Uecker-Randow. Das korrespondiert mit dem Abwandern besonders der jüngeren und qualifizierten Bevölkerung. Den Uecker-Randow-Kreis haben seit 1990 rund 12.000 Einwohnerinnen und Einwohner verlassen. Diesen Prozess konnten wir nicht stoppen. Mit anderen Worten: Die rot-rote Regierungskoalition hat vieles in der Region angeschoben, für eine Trendwende insbesondere zur Senkung der Arbeitslosigkeit muss aber weiter geackert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Achte Sicht

In zehn Jahren Deutscher Einheit sind alle Mauern leider noch nicht verschwunden. Es ist eine Tatsache: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Angestellte und Beamte in Ost und West werden trotz gleicher Arbeit bei gleicher Qualifizierung unterschiedlich bezahlt. Das ist unakzeptabel.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und Rudolf Borchert, SPD)

Bedauernswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass es mit den jüngsten Tarifabschlüssen im öffentlichen