Wer möchte nun noch Ziffer 2 annehmen? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist ebenfalls mit Mehrheit beschlossen worden.
Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 67 auf, Drucksache 20/10126, Antrag der FDP-Fraktion: Inklusion: Einzelfalldiagnostik wieder einführen.
Diese Drucksache möchte die FDP-Fraktion an den Schulausschuss überweisen. Wer wünscht das Wort? – Frau von Treuenfels, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, wenn Sie denn noch hier sein sollten und nicht schon den Saal verlassen haben, wie ich gerade feststellen muss! Das ist ein wichtiges Thema hier. Die Inklusion ist nicht nur eine Herausforderung unter vielen, sie ist in Wahrheit eine der größten schulpolitischen Reformen der vergangenen Jahrzehnte. Deshalb ist auch ihre von vielen aus Praxis wie Politik beklagte mangelhafte Umsetzung ein sehr großes Problem. Eine ganz entscheidende Ursache des Problems liegt im Diagnoseverfahren zur Förderbedürftigkeit. Im Schulgesetz, Paragraf 12 Absatz 1 heißt es – ich zitiere –:
"Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen."
"… wird auf der Grundlage eines sonderpädagogischen Gutachtens unter Einbeziehung der Sorgeberechtigten durch die zuständige Behörde festgestellt."
Die Praxis auf Grundlage der sogenannten Inklusionsdrucksache sieht allerdings völlig anders aus. Hier wird eine sogenannte integrierte Förderdiagnose angewandt. Schulsenator Rabe hat immer wieder betont, dass diese integrierte Förderdiagnose vollkommen ausreichend sei. Sonderpädagogen, also die Fachleute, sehen das aber nicht so. Sie kritisieren diese Praxis, und zwar unabhängig davon, ob sie inklusiv an einer allgemeinbildenden Schule oder an einer Förderschule arbeiten.
Sie kritisieren vor allem zwei Aspekte: Zum einen wird die Diagnose von Lehrkräften an den allgemeinbildenden Schulen erstellt, die weder ausreichend Zeit noch ausreichend Routine haben,
um eine verlässliche Diagnose zu erstellen. Das sagen die Menschen selbst, mit denen wir gesprochen haben. Überspitzt gesagt: Lehrer, die oftmals keine sonderpädagogische Qualifikation haben, sollen nun in der Praxis durch Beobachtung zu einer Diagnose kommen. Zum anderen kritisieren die Fachleute, dass diese integrierte Förderdiagnostik mit einem Gutachten im Sinne einer echten Einzelfalldiagnostik nur noch sehr wenig zu tun hat. So wird die Förderung der Kinder unnötig erschwert, denn für eine passgenaue Förderung braucht es eine aussagekräftige Diagnose, die der Förderplanung zugrunde liegt.
Wir sind der Meinung, dass die Praxis der von Senator Rabe propagierten integrierten Förderplanung geradezu symptomatisch schlecht für die Umsetzung der Inklusion in Hamburg ist. Diese Praxis ist der Problematik nicht angemessen und wird weder den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf noch allen anderen Kindern in den Klassen gerecht. Förderpläne basieren auf Beobachtung und ersetzen keine Einzelfalldiagnostik durch Fachleute. Eine Ressourcenverteilung mit der Gießkanne ist eben nicht kindgerecht.
Das Ergebnis dieser mangelhaften Konzeption ist bizarr. Ausgerechnet Schulsenator Rabe beschwert sich, dass Ressourceneinsatz und Anzahl der Kinder irgendwie nicht zusammenpassen. Er hat sogar ein Gutachten in Auftrag gegeben, um herauszufinden, wo denn all die Kinder herkommen, denen plötzlich ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird. Dafür braucht es kein Gutachten. Die Kinder brauchen ein sorgfältiges und fachlich versiertes Gutachten. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Wiedereinführung einer echten Einzelfalldiagnostik und die Erstellung der Gutachten durch Fachleute, die die notwendige Routine haben. Diese Fachleute haben wir in Hamburg, sie sind bei den neu gegründeten regionalen Bildungs- und Beratungszentren angesiedelt. Senator Rabe kritisiert immer wieder, dass die Gutachten zu ungenau seien. Die Konsequenz daraus kann aber doch nicht sein, durch die integrierte Förderdiagnostik noch mehr Ungenauigkeit zu befördern. Abgesehen davon ist die Aussage schlichtweg falsch, es gibt hinreichend Kriterien und Testverfahren für die Erstellung einer Diagnose.
Meine Damen und Herren! Wir haben den Antrag aus einem anderen Grund vorgelegt. In Gesprächen mit Lehrern wird immer wieder deutlich, dass manchmal schon ein einziges Kind genügt, um den Unterricht der gesamten Klasse zu sprengen. Das
sind in der Regel Kinder mit Förderbedarf im sozialen und emotionalen Bereich, von einigen gerne als verhaltensoriginelle Schüler bezeichnet. Lehrer, die solche Aussagen treffen, tun das nicht aus Böswilligkeit, Unfähigkeit oder weil sie Inklusion grundsätzlich ablehnen. Sie kommen zu diesem Schluss, weil sie mit der Situation allein gelassen werden und überfordert sind, so sagen sie es jedenfalls. Eine passgenauere Ressourcenzuweisung für die Schüler hätte große positive Auswirkungen.
Die FDP-Fraktion war von Anfang an kritisch gegenüber der systemischen Ressourcenzuweisung, und gerade im Bereich der Kinder mit sozial-emotionalem Förderbedarf haben sich unsere Befürchtungen mehr als bestätigt. Selbst die von Senator Rabe beauftragten Experten empfehlen für diese Kinder eine auf das einzelne Kind bezogene Ressourcenzuweisung. Wir fordern Sie auf, Herr Senator Rabe, auf die großen Probleme in der Umsetzung der Inklusion zu reagieren und nicht länger zuzugucken. Das sind wir nicht nur den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf schuldig, sondern auch ihren Klassenkameraden. Das sind Sie den Lehrern schuldig, die sich täglich diesen Herausforderungen stellen, und das sind Sie vor allen Dingen auch den Eltern schuldig, die die beste Bildung für alle ihre Kinder wollen. – Vielen Dank.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Selbstverständlich erhält jedes einzelne Kind mit sozialpädagogischem Förderbedarf eine individuelle Diagnose. Selbstverständlich wird die Handreichung für die Diagnostik zügig fertiggestellt, und selbstverständlich werden Kolleginnen und Kollegen der regionalen Bildungs- und Beratungszentren eng in die Prozesse an den Schulen eingebunden.
Diesen Antrag der FDP brauchen wir dafür wirklich nicht. Seit Beginn der Inklusion im Jahre 2009 steht die Frage im Raum, wie wir Kinder mit speziellem Förderbedarf am besten in ihrem Schulleben begleiten und fördern und auf welche Weise wir die Schule ausstatten können. Der sozialdemokratische Senat ist der Empfehlung der Wissenschaft gefolgt und hat sich für eine systematische Ressourcenzuweisung entschieden. Die Wiedereinführung von Feststellungsgutachten, wie sie die FDP fordert, wäre eine Rolle rückwärts, die wir nicht mitmachen wollen.
Wir haben mit der Einführung der systematischen Ressource nicht den Blick auf jedes einzelne Kind verloren. Wie Sie selbst aus der Drucksache zitieren, wird für jedes Kind der individuelle Förderbedarf benannt werden. Dies setzt eine Diagnose voraus. Was in der Tat aber notwendig ist, ist eine Verbesserung des diagnostischen Verfahrens. Es ist ein starker Anstieg von förderbedürftigen Kindern im Bereich LSE zu beobachten. Dies liegt auch daran, dass es noch keine einheitliche Diagnostik gibt. Wie diagnostiziert wird, hängt sehr von den einzelnen Lehrerinnen und Lehrern und der Schulkultur ab. Vereinheitlichung ist daher unverzichtbar. Die SPD-Fraktion begrüßt deshalb die Initiative des Schulsenators für eine Arbeitsgruppe, die unter Einbindung der regionalen Bildungs- und Beratungszentren die Diagnostik in den Bereichen des LSE diskutiert und eine Handreichung aufbereitet.
Anders als die FDP es fordert, besteht in der Art der Ressourcenzuweisung kein zwingender Handlungsbedarf.
Die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort können sich mit den Bedürfnissen der Kinder auseinandersetzen und sind nicht damit konfrontiert, Ressourcen auslösen zu müssen. Die FDP aber will jedem Kind ein Label und ein Preisschild aufdrücken. Damit wird die Diagnostik zur Ressourcenakquise, und das können wir nicht wollen.
Eine kindbezogene Ressourcenzuweisung bleibt – das möchte ich einmal klarstellen – bei speziellen sonderpädagogischen Förderbedarfen sinnvoll. Geistige und körperliche Behinderungen bedürfen einer besonderen Beachtung und Betreuung.
Dies kann nicht systematisch abgebildet werden. Eine systematische Zuweisung vereinfacht aber den Prozess für die Bereiche LSE. Eine Bürokratisierung hilft niemandem, vor allem nicht den betroffenen Kindern.
Jedes Kind – und nicht nur diejenigen mit Defiziten in den LSE-Bereichen – braucht eine individuelle Betrachtung. Dies leisten die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort mit erstaunlichem Einsatz. Nicht alles ist eine Frage des Geldes, es ist auch eine Frage von Haltung. Sehr viele Schulen sind da schon weiter als Sie, liebe FDP.
Eine Rolle rückwärts wäre alles andere als ein konstruktiver Beitrag zum Gelingen der Inklusion an Hamburger Schulen. Ihre weiteren Vorschläge befinden sich in der Umsetzung oder sind einfach überflüssig. Wir als SPD-Fraktion lehnen Ihren Antrag daher ab.
Vielen Dank, Frau Jürgens. – Das Wort hat Herr Dr. Scheuerl. Herr Dr. Scheuerl, ich weise Sie darauf hin, dass Sie nur noch eine Redezeit von 6.22 Minuten haben.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vielen Dank, ich werde die Redezeit einhalten. Vorab möchte ich alle, die jetzt hier sind und zuhören, noch einmal daran erinnern, dass wir hier über die Schwächsten im Schulsystem sprechen, nicht über irgendwen, nicht über den Senator, sondern über die Schwächsten im Schulsystem. Deswegen finde ich es bedenklich, dass die SPD zur Rechtfertigung des Rabe-Inklusionskonzepts hier keine Fachleute, auch nicht den schulpolitischen Sprecher, sondern eine Finanzbeamtin im mittleren Dienst schickt – Frau Jürgens, ich will Ihnen nicht zu nahe treten,
dass Sie das sind, ist im Bürgerschaftshandbuch nachzulesen –, eine Finanzbeamtin, die nicht einmal in der Lage ist, die Fachbegriffe richtig anzuwenden und von systematischer Ressource spricht.
Vizepräsident Dr. Wieland Schinnenburg (unter- brechend): Meine Damen und Herren, Herr Abgeordneter! Die SPD-Fraktion hat eine Sitzung des Ältestenrats beantragt. Ich unterbreche die Sitzung und bitte den Ältestenrat zusammenzutreten.