Protocol of the Session on February 8, 2012

Zum dritten Mal nach Morsal und nach Lara Mia ist im Bezirk Hamburg-Mitte ein Mädchen in staatlicher Obhut zu Tode gekommen. Diese Häufung ist aber kein Zufall, sie ist das Ergebnis langjähriger Missstände im Bezirksamt Hamburg-Mitte.

(Beifall bei der CDU, der GAL und bei Carl- Edgar Jarchow FDP)

Ich sage das nach zehn Jahren Zugehörigkeit zur Bezirksversammlung Hamburg-Mitte, in denen wir immer wieder Vorstöße unternommen haben, aber alle zurückgewiesen wurden, auch nach dem Fall Lara Mia. Es gab nie ein Interesse an Aufklärung und Konsequenzen, immer ging es darum, Schreiber und Co. nicht zu beschädigen und die Karrieren ungehindert fortsetzen zu lassen. Markus Schreiber trägt hierfür als Bezirksamtsleiter ohne Wenn und Aber die politische Verantwortung. Er nimmt nach dem Bezirksverwaltungsgesetz die Aufgaben des Bezirksamts wahr und ist für deren Aufgaben auch verantwortlich.

Meine Damen und Herren! Glaubt irgendjemand im Saal wirklich ernsthaft, dass Markus Schreiber und die SPD-Mitte ein aufrichtiges Interesse an einer schonungslosen Aufklärung dieses Falls haben? Die CDU-Fraktion und die Menschen in Hamburg

glauben dies nicht mehr. Ich will das auch gern begründen.

Markus Schreiber hat die Akte Chantals erst neun Tage nach dem Tod überhaupt angefordert, als er längst Getriebener der Öffentlichkeit war. Der Träger hat einen Tag gebraucht, um diese Akte zu überreichen. Als ihm das Wasser schon bis zum Hals stand, hat er kläglich versucht, seine Verantwortung auf den amtierenden Sozialsenator und auch auf seinen Vorgänger abzuwälzen. Eine Bürgerin hat mir dieser Tage dazu eine Mail geschrieben. Sie sagte, dass die Ausflüchte von Herrn Schreiber eine Schande seien. Im Namen der CDU-Fraktion kann ich dazu wirklich nur sagen: Recht hat sie.

(Beifall bei der CDU und der GAL)

Der Gipfel der politischen Verantwortungslosigkeit aber ist, dass Herr Schreiber seine Jugendamtsleiterin, obwohl er sie nach eigener Aussage für unfähig hielt, drei weitere Jahre nach dem Tod Lara Mias im Amt beließ. Warum hat er Frau Wolters nicht bereits nach dem Tod von Lara Mia versetzt? Warum ließ er noch ein weiteres Kind sterben, um sie erst dann von ihren Aufgaben zu entbinden? Herr Schreiber hat seine Amtspflichten aufs Gröbste verletzt.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der GAL)

Die Konsequenz daraus ist, dass der Rücktritt von Markus Schreiber überfällig ist. Sein Versagen wird seit 14 Tagen medial Tag für Tag dokumentiert. Um dies festzustellen, brauchen wir das Ergebnis der Ermittlungen auch nicht mehr abzuwarten.

(Beifall bei der CDU, der GAL und bei Anna- Elisabeth von Treuenfels FDP und Dora Heyenn DIE LINKE)

Herr Schäfer, Sie haben in der Debatte über den roten Filz vor zwei Wochen an gleicher Stelle gesagt, dass die Posten in Hamburg nur nach Eignung vergeben würden. Ich frage die SPD, welche Eignung Herr Bezirksamtsleiter Schreiber denn aus Ihrer Sicht noch hat? Frau Schroeder-Piller in Wandsbek und Herr Meinberg in Harburg sind durch die SPD-Fraktion vor Ort aufgrund von Lappalien abgewählt worden. Meinen Sie, dass nach den Maßstäben, die dort angelegt worden sind, Herr Schreiber auch nur einen weiteren Tag im Amt bleiben dürfte? Zwei Drittel der Leser des "Hamburger Abendblatts" meinen das nicht.

(Beifall bei der CDU)

Es ist keine Frage, dass wir auch strukturelle Probleme lösen müssen und Verfahren ändern. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Aber solange Herr Schreiber im Amt bleibt und das System Kahrs weiterhin in Hamburg-Mitte Bestand hat, wird sich hieran überhaupt nichts ändern.

(Dr. Andreas Dressel)

Die "Hamburger Morgenpost" hat das Jugendamt Hamburg-Mitte dieser Tage – es ist nicht meine Wortwahl – als "Saustall" bezeichnet. Sie können für einen Saustall Hygienemaßnahmen beschließen oder auch eine Belüftung ausbauen, aber um in einen Saustall wirklich richtige Ordnung zu bekommen,

(Dirk Kienscherf SPD: Das ist abartig, was Sie da sagen!)

müssen Sie den Saustall erst einmal richtig ausmisten. Genau das ist es jetzt auch, was im Bezirksamt Hamburg-Mitte passieren muss.

Ich sage Ihnen auch warum. Scheinbar haben politische Maßstäbe, die in der gesamten Republik gelten, in der SPD-Mitte keinen Bestand. Das beziehe ich im Übrigen nicht auf den anderen Teil der SPD in diesem Hause. Im System Kahrs gibt es einen Korpsgeist, der bedingungslose Loyalität in den Vordergrund stellt und jedwede kritische Distanz zum eigenen Handeln vermissen lässt.

Natürlich sind weder Sie, Herr Bürgermeister Scholz, noch Sozialsenator Scheele für den Tod von Chantal verantwortlich. Irgendetwas anderes an dieser Stelle zu behaupten wäre unredlich. Aber wenn Markus Schreiber selbst nicht die Kraft und nicht den Anstand aufbringen kann, zurückzutreten, dann sind Sie als oberster Dienstherr in Hamburg in der Pflicht, Herrn Schreiber zum Wohle und zum Schutz der Kinder seines Amtes zu entheben, Herr Bürgermeister.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der GAL)

Herr de Vries, einen kurzen Schlusssatz bitte.

Sie haben gesagt, wer bei Ihnen Führung bestelle, der bekäme sie auch. Wir fordern nach dem Tod Chantals Ihre Führung ein. Setzen Sie Ihr gesamtes politisches Gewicht als Bürgermeister, aber auch als Vorsitzender der SPD-Mitte für einen personellen Neuanfang an der Spitze des Bezirksamts Hamburg-Mitte ein. Es wäre ein Schritt zum Wohle Hamburgs. – Danke.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der GAL und der FDP)

Frau Suding, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin, auch ich möchte Ihnen für Ihre Worte zu Beginn der Sitzung danken.

Unser Grundgesetz konstituiert in Artikel 2 Absatz 2 das Recht auf Leben und körperliche Unver

sehrtheit. Und Artikel 6 des Grundgesetzes präzisiert in den Absätzen 2 und 3:

"Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen."

Meine Damen und Herren! Deutlicher kann die Intention des Verfassungsgebers wohl nicht dokumentiert werden. Kinder sind höchstes Verfassungsgut.

(Beifall bei der FDP und bei Jörg Hamann und Christoph de Vries, beide CDU)

Nur wenn ihr Wohlergehen in Gefahr ist, darf der Staat auf Gesetzesgrundlage eingreifen. Dass der Staat, wenn er denn zum Wohle des Kindes eingreift, im Zuge dessen so versagt, dass er selbst zur Bedrohung für Leib und Leben des Kindes wird, über diese entsetzliche Möglichkeit haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1948/1949 noch nicht nachgedacht, wohl auch nicht nachdenken wollen oder müssen.

Meine Damen und Herren! Mehr als 60 Jahre später müssen wir uns in Hamburg aber furchtbarerweise eingestehen, dass fast ein halbes Dutzend Mal das Undenkbare in unserer Stadt allein in den letzten acht Jahren schreckliche Realität geworden ist, nämlich dass Kinder und Jugendliche, die der Obhut staatlicher Ämter unterstanden, zu Tode gekommen sind.

Michelle 2004, Jessica 2005, Morsal 2008, Lara Mia 2009 und jetzt Chantal. Diese entsetzliche Bilanz lässt keinen anderen Schluss zu als einen: Das System der Jugendhilfe versagt immer wieder ganz grundsätzlich. Deshalb müssen wir es ganz grundsätzlich infrage stellen und nicht nur nach der politischen und dienstlichen Verantwortung des Bezirksamtsleiters fragen. Da sind massive und so schwere Fehler gemacht worden, dass für die FDP-Fraktion klar ist, dass es personelle Konsequenzen geben muss. Wir müssen uns aber vor allem den Fragen nach fehlerhaften Prozessen, nicht wahrgenommener Kontrolle und ausgebliebener Fürsorge stellen.

Meine Damen und Herren! Ich will hier nicht verhehlen, dass es uns Liberalen und mir persönlich besonders schwerfällt, angesichts der tragischen Ereignisse sofort zur politischen Fehlersuche aufzubrechen. Gleichwohl stehen wir alle weiter in der Verantwortung für das Wohl von rund 1400 Pflegekindern in dieser Stadt, gleichwohl gab es alleine im letzten Jahr über 28 000 Meldungen zum Ver

(Christoph de Vries)

dacht auf Kindeswohlgefährdung und gleichwohl sollen über 500 Kinder in Hamburg in Familien mit drogenabhängigen Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigten leben. Deshalb brauchen wir so rasch wie möglich eine grundlegende Analyse der Problematik.

(Beifall bei der FDP)

Diese hat sich nach unserer Auffassung im Wesentlichen auf drei Kernpunkte zu beziehen.

Erstens: Nach welchen Kriterien werden Kinder in Pflegefamilien vergeben? Das bisherige Kriterium einer milieunahen Vergabe hat sich offensichtlich nicht bewährt und gehört mindestens überprüft, wenn nicht neu definiert.

Zweitens: Welcher tatsächlichen Kontrolle unterliegen die Träger staatlicher Jugendhilfe? Wir Liberalen wollen hier nicht generell die Arbeit der sozial häufig hoch engagierten Menschen in Verbänden und Vereinen unter Verdacht stellen, die sich in der Jugendhilfe engagieren. Dennoch lassen die Ereignisse der letzten Jahre bis zum Tod von Chantal vor gut drei Wochen nur den Schluss zu, dass die Kontrollmechanismen mindestens in diesen tragischen Fällen überhaupt nicht funktioniert haben, und das verlangt nach grundsätzlichen Neuüberlegungen, die die gesamte Struktur der Jugendhilfe betreffen.

Drittens: Wir müssen uns fragen, ob wir angesichts des furchtbaren Versagens wirklich genug für unsere Jugendämter tun. Wir sind überhaupt keine Freunde von wachsender staatlicher Bürokratie, das wissen Sie, doch lässt schon der Auftrag des Grundgesetzes keinen Zweifel daran, dass hier ein absoluter Kernbereich staatlicher Verantwortung zur Diskussion steht. Wir fordern deshalb den Sozialsenator auf, fachliche Qualität und personelle Quantität der Besetzung in den Jugendämtern zu untersuchen und Missstände umgehend abzustellen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei Robert Heine- mann CDU)

Herr Yildiz, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, ich möchte mich vorab für Ihre Worte bedanken.

Meine Damen und Herren! Das traurige Schicksal von Chantal hat uns alle berührt, aber es hat uns auch vor Augen geführt, dass wir im gesamten Jugendhilfesystem erhebliche Schwierigkeiten haben. Ich möchte auf die Fehler eingehen.

Erstens: Ob die Pflegefamilie von Chantal geeignet war, haben nicht der ASD oder das FIT, sondern der private Träger VSE überprüft.

Zweitens: Fünf Mitarbeiter haben angeblich – da habe ich auch Zweifel – Chantal zu Hause besucht, aber nicht bemerkt, dass die Lebensumstände vor Ort für die Pflegekinder nicht geeignet sind.

Drittens: Für vier Kinder standen zwei Betten zur Verfügung. Zusätzlich waren drei Hunde und zwei Erwachsene in der Wohnung untergebracht.

Viertens: Chantals Hilferufen und Beschwerden der Nachbarn über den Lärm des anderen Adoptivkindes wurde nicht ernsthaft nachgegangen.