Protocol of the Session on September 28, 2011

[Große Anfrage der GAL-Fraktion: Sozialpolitischer Rückschritt bei der SPD: Will der Senat den Rechtsanspruch auf individuelle Hilfen zur Erziehung abschaffen und das Kinder- und Jugendhilferecht aushöhlen? – Drs 20/1280 –]

[Antrag der CDU-Fraktion:

(Dora Heyenn)

Begrenzung des Ausgabenanstiegs bei den Hilfen zur Erziehung entschlossen voranbringen – Drs 20/1577 –]

Alle drei Drucksachen möchte die SPD-Fraktion an den Familien-, Kinder- und Jugendausschuss überweisen. Wird das Wort gewünscht? – Herr Ritter, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema Hilfen zur Erziehung beschäftigt uns jetzt schon einige Wochen und wird uns wahrscheinlich auch noch die nächsten Wochen beschäftigen.

(Mehmet Yildiz DIE LINKE: Jahre!)

Wir Liberale haben uns vorgenommen, eine konstruktive Opposition zu sein. Frau Hajduk, vielleicht ist das die Antwort auf Ihren merkwürdigen Eindruck, den Sie vorhin geäußert haben. Deshalb will ich diese Gelegenheit nicht versäumen, um gleich vorab zu sagen, dass die FDP-Fraktion es begrüßt, dass Senator Scheele sich vorgenommen hat, die Kostenexplosion im Bereich Hilfen zur Erziehung kritisch unter die Lupe zu nehmen.

Gleichzeitig dürfen wir das Ziel dieser Hilfen dabei nicht aus den Augen verlieren. Das Kindeswohl muss an erster Stelle stehen.

(Beifall bei der FDP)

Ich will nicht verhehlen, dass wir dabei die Vorgehensweise des Senats irritierend finden. Das Konzeptionspapier wurde der Presse vorgestellt, dem zuständigen Ausschuss aber bis heute nicht vorgelegt. Eine Einbindung des Parlaments sieht anders aus. Gerade bei einem so wichtigen Thema, das zwei Perspektiven hat, nämlich Kinderschutz und Haushalt, erwarte ich Dialogbereitschaft, eine frühzeitige Einbindung und vor allem Transparenz.

(Beifall bei der FDP)

Um Schwerpunkte der Umsteuerung aus Sicht der FDP-Fraktion deutlich zu machen, haben wir diesen Antrag gestellt. Ein ganz wichtiger Aspekt aus unserer Sicht sind die frühen Hilfen.

(Beifall bei Dr. Thomas-Sönke Kluth FDP und Heike Sudmann DIE LINKE)

Denn bei den frühen Hilfen zur Erziehung verhält es sich ähnlich wie bei der frühkindlichen Bildung, die Jüngsten haben wir nämlich bisher sträflich vernachlässigt. Die Bedeutung der frühkindlichen Bildung haben wir mittlerweile erkannt. Dieses Umdenken brauchen wir auch in der Kinder- und Jugendhilfe. Wir brauchen präventive Maßnahmen.

(Beifall bei der FDP)

Ein Blick auf die Statistiken bestätigt, dass ein Großteil der Hilfen erst mit Beginn des Kindergarten- oder Schulbesuchs einsetzt. Dann aber haben

viele Kinder bereits eine Leidensgeschichte hinter sich.

Meine Damen und Herren! Wir müssen die Eltern so früh wie möglich stärken, damit es gar nicht erst zu den Fällen kommt, über die wir dann später in der Zeitung lesen müssen. Zentrales Anliegen der FDP ist darum Prävention und gezielte Maßnahmen in Form von niedrigschwelligen Hilfsangeboten. Nur so wird das Kindeswohl von Anfang an sichergestellt.

(Beifall bei der FDP)

Eine Umsteuerung gelingt nicht gegen, sondern nur mit den Akteuren vor Ort. Das sind zum einen die Jugendhilfeausschüsse, zum anderen natürlich die Träger, die die Maßnahmen der Jugendhilfe durchführen. Der Senat vermittelt aber leider bisher nicht den Eindruck, diese Akteure ernst zu nehmen. Wir Liberale möchten den Jugendhilfeausschüssen Spielraum geben und die Sichtweise der Träger berücksichtigen. Entscheidungen sollen so nahe dran wie möglich getroffen werden. Daher sprechen wir Liberale uns verstärkt für Rahmenzuweisungen an die Bezirke aus, denn nur so werden die Jugendhilfeausschüsse und die Träger ausreichend mit eingebunden.

(Beifall bei der FDP)

Einen Blankoscheck für Maßnahmen nach dem Motto "Viel hilft viel" möchten wir damit natürlich nicht ausstellen. Die Situation im Moment ist so, dass eine Vielzahl von Akteuren eine Unmenge von Maßnahmen durchführt. Was welche Wirkung erzielt, welche Erfolge wir erreichen, wissen wir nicht so richtig. Deswegen muss eine Umsteuerung zwingend evaluiert werden. Eine Absichtserklärung allein reicht nicht aus, Herr Scheele, der Senat muss sich hierzu endlich verpflichten.

(Beifall bei der FDP)

Nur so können wir sicherstellen, dass die hilfsbedürftigen Kinder und Jugendlichen und ihre Familien tatsächlich von den Maßnahmen profitieren.

Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion begrüßt im Grundsatz die Umsteuerungsbemühungen des Senats. Wir möchten aber sichergehen, dass die Maßnahmen in die richtige Richtung gehen. Darum fordern wir erstens, so früh wie möglich einzugreifen, damit kein Kind durch das Netz fällt. Zweitens müssen die Jugendhilfeausschüsse und die Freien Träger eingebunden werden. Drittens darf es keine Umsteuerung ins Blaue hinein sein, sondern es muss eine Überprüfung der Zielerreichung und der Wirksamkeit geben. Wenn das in Einklang mit einer Kostenreduzierung machbar sein sollte, werden wir nicht anstehen, der Politik des Sozialsenators noch deutlicher zuzustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

(Erster Vizepräsident Frank Schira)

Danke schön. – Frau Dr. Leonhard hat das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zunächst einmal finde ich es sehr gut, dass das Thema heute zur Debatte angemeldet ist. Es zeigt, dass es einen großen Konsens in diesem Hause darüber gibt, dass Handlungsbedarf im Sinne der Kinder und Familien in Hamburg besteht. Deshalb hat sich der Familienausschuss auch einstimmig, mit Vertretern aller Fraktionen, für eine Selbstbefassung zu diesem Thema entschieden. Diese wird bereits am 1. November stattfinden. Das schafft dann den Rahmen für eine fundierte Diskussion über die Situation der Hilfen zur Erziehung und deren Kosten und Wirksamkeit. Darüber hinaus wird es zu einer vertieften Befassung mit diesem Thema auch noch eine Expertenanhörung im Januar geben; auch das haben wir im Ausschuss alle miteinander interfraktionell beschlossen.

Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, auf eine Pressemitteilung einzugehen, die die GAL kurz vor dieser Sitzung versandt hat, in der sie fordert, dass wir zu diesem Thema eine Enquete-Kommission einrichten sollten. Die von mir eben geschilderten Schritte halte ich für richtig und wichtig. Mir ist es persönlich sehr bedeutsam – ich glaube, das wissen auch alle Akteure –, dass wir uns diesem Thema in der gebotenen Sachlichkeit ausführlich widmen. Wir finden es aber nicht richtig, eine Enquete-Kommission einzurichten, das scheint uns nicht das richtige Instrument zu sein.

(Beifall bei der SPD)

Das Ziel der SPD-Fraktion ist es, Familienhilfen so zu leisten, dass sie bei den Familien auch ankommen und die Lebens- und Bildungschancen der Kinder wirklich verbessern. Probleme und Ressourcen in Familien müssen erkannt und Hilfeziele konkret und erreichbar festgelegt werden. Auch da habe ich mit meinem Vorredner und vielen anderen in diesem Hause einen großen Konsens.

Jede Hilfe zur Erziehung muss sich deshalb an dem Ziel messen lassen, einen Beitrag zum Erreichen einer selbstbestimmten und unabhängigen Lebensführung zu leisten. Mit dem mittlerweile öffentlich gut bekannten Papier "Hilfen zur Erziehung – Konzeptionelle Vorschläge zur Weiterentwicklung und Steuerung" wird der Anspruch dokumentiert, die Familienhilfen in diesem Sinne weiterzuentwickeln, und das finden wir richtig.

Der Fokus auf die Angebote im Sozialraum, also im Quartier und damit im unmittelbaren Umfeld der Menschen ist konsequent und ebenfalls richtig. Der Ausbau dieser sogenannten Sozialraumangebote, also der Angebote vor Ort im Stadtteil, die allen Eltern offenstehen, soll dazu führen, dass Familien zuallererst diese Angebote nutzen können und

nicht gleich als ersten Schritt zum Jugendamt gehen müssen, um förmlich eine Hilfe zur Erziehung zu beantragen. Es geht aus unserer Sicht darum, mit unterschiedlichsten Angeboten vor Ort möglichst früh anzusetzen. Auch darüber gibt es große Einigkeit.

Dies ist in einigen Hamburger Bezirken bereits erfolgreich begonnen worden und muss nun ausgebaut werden. Der Ausbau von frühen Hilfen wie Familienhebammen, die Einrichtung von weiteren Eltern-Kind-Zentren und der Ausbau von Erziehungsberatung ist dabei von großer Bedeutung.

Die Verbesserung der Infrastruktur von Familien zum Beispiel durch die Erweiterung des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz, zum einen im Hortalter, aber auch ab nächstem Jahr ab dem abgeschlossenen zweiten Lebensjahr, und die konsequente Überprüfung der Wirksamkeit von Leistungen bei den Hilfen zur Erziehung sind aus unserer Sicht zwei Seiten derselben Medaille.

Es ist deshalb einmal angebracht, die Unterschiede zwischen dem Umgang des schwarz-grünen Senats in der Vergangenheit und den Leitlinien des SPD-Senats zu verdeutlichen. In der Vergangenheit wurden mehrfach die Ansätze für die Hilfen zur Erziehung gekürzt, um dann mit Nachforderungen am Ende des Jahres an die Bürgerschaft heranzutreten, weil die Ausgaben jährlich stiegen. Eine Steuerung wurde stets angekündigt, aber kaum vollzogen. Den Höhepunkt dieser ständigen Absenkungen bildete schließlich der vorläufige Haushalt im letzten Jahr, als die Ansätze für die gesetzlichen Leistungen der Hilfen zur Erziehung – und man hat einen Rechtsanspruch darauf – um fast 60 Millionen Euro reduziert wurden, und dies, obwohl absehbar war, dass es nicht gelingen würde, rechtzeitig die wichtigen Alternativangebote in allen Stadtteilen so einzurichten und sie sich auch etablieren zu lassen.

(Dirk Kienscherf SPD: Unsozial!)

Es ist daher richtig, zuallererst – das hat der Senat auch gemacht – für eine auskömmliche Finanzierung der Hilfen zur Erziehung zu sorgen.

(Beifall bei der SPD)

Mit dem Haushaltsplan-Entwurf der SPD für 2011 und 2012 gibt es erhöhte Ansätze in diesem Bereich. Damit ist die Grundlage geschaffen worden, sich überhaupt erst seriös um die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung zu kümmern. Dies ist wichtig, damit wir uns als Stadt langfristig unsere Handlungsfähigkeit erhalten und nicht von enorm steigenden Ausgaben für die gesetzlichen Leistungen schließlich in unserem Handeln limitiert werden.

Um den Ausbau von guten und erfolgreichen Hilfsangeboten für Familien voranzubringen, die frühzeitig ansetzen, werden wir uns also gemeinsam

im Familienausschuss im Rahmen von Selbstbefassung und Expertenanhörung dieser Aufgabe stellen. Daher wollen wir auch alle Drucksachen dahin überweisen. In der Zielsetzung gibt es, glaube ich, große Übereinstimmung. Ich erwarte daher von uns allen eine konstruktive Diskussion im Sinne der Familien unserer Stadt.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Herr de Vries.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Eines ist unisono richtig, Frau Leonhard hat es auch angesprochen, nämlich dass vor dem Hintergrund ständig steigender Kosten und Ausgaben im Bereich der Hilfen zur Erziehung eine Umsteuerung unerlässlich ist. Die Ausgaben sind in diesem Bereich allein in den letzten sieben Jahren um fast 100 Millionen Euro gestiegen. Das ist im Übrigen keine Entwicklung, die besonders hamburgspezifisch ist, sondern es zieht sich durch alle deutschen Großstädte, insbesondere auch durch die Stadtstaaten, die mit zum Teil zweistelligen Wachstumsraten in diesem Bereich zu kämpfen hatten.

Diesen anhaltenden Ausgabenanstieg zu begrenzen und die Ausgaben möglichst zu reduzieren, ist daher dringend erforderlich und geboten. Gerichtet an alle Fraktionen ist das eine Herausforderung, der sich eigentlich keine politische Kraft, die Verantwortung in Hamburg übernehmen will, verschließen kann.

(Beifall bei der CDU)

Nun ist das Problem nicht ganz neu. Aus diesem Grund hat auch der Vorgängersenat bereits mit der Umsteuerung bei den Hilfen zur Erziehung begonnen. Ich nenne unter anderem das Programm "Sozialräumliche Hilfen und Angebote", das der Senat mit dem Haushaltsplan-Entwurf 2011/2012 auf den Weg gebracht hatte. Dort wurden 16 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und die Mittel damit nochmals um 12 Millionen Euro aufgestockt gegenüber den alten Haushalten. Geplant war ebenfalls – und das ist derselbe Ansatz –, mit diesen neuen, niedrigschwelligen sozialräumlichen Angeboten Hilfen bereitzustellen, die die Familien in ihrem direkten Lebensumfeld unterstützen und eben nicht verursachen, dass man irgendwelche Institutionen aufsuchen muss oder die Institutionen einen selbst zu Hause aufsuchen.