Protocol of the Session on July 1, 2010

Schwarz-grüne Haushaltskrise: Diffuse Diskussion statt konsequenten Handelns

und von der GAL-Fraktion

Stadtteile stärken: Quartiersentwicklung ohne Verdrängung

Ich rufe zunächst das erste Thema auf. Wird dazu das Wort gewünscht? – Das ist der Fall. Frau Schneider hat es, bitte schön.

Meine Damen und Herren, Herr Präsident! Wir bedauern die Gewalteskalation. Wir hoffen, dass der schwer verletzte Polizeibeamte auf dem Weg der Besserung ist und keine bleibenden Schäden behält. Am letzten Samstag ist in Neuwiedenthal alles schief gelaufen, was schief laufen konnte. Wir werden den Tathergang hier nicht aufklären können, das ist Aufgabe der Gerichte. Aber es ist Aufgabe der Po

litik, den immensen Schaden dieser Gewalteskalation – Schaden vor allem für den Stadtteil – zu begrenzen und Bedingungen für ein respektvolles, friedliches Zusammenleben in dieser Stadt zu sichern. Dazu möchte ich in der Kürze der Zeit zwei Gesichtspunkte benennen.

Der erste Gesichtspunkt ist die Frage, wie es zu dieser Gewalteskalation hat kommen können. Es gibt ein Video, das nicht den gesamten Verlauf, weder Anlass und Beginn des Polizeieinsatzes noch die spätere Eskalation zeigt. Ein Video also, das nicht die ganze Wahrheit zeigt, aber einen Teil der Wahrheit und das über fünf Minuten lang, in denen von den Umstehenden keine Gewalt ausging. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen, auf die es bisher keine Antwort gibt: Warum schlägt ein Polizist auf den benommen am Boden sitzenden Festgenommenen ein? Für uns erhebt sich unabweisbar der Verdacht rechtswidriger Polizeigewalt.

(Zurufe von der CDU: Pfui! und weitere Zu- rufe von der CDU)

Und warum provoziert der zweite Beamte die Umstehenden, die zunächst nichts anderes als Zeugen sind, die erregt und wütend, aber friedlich sind und eher abwiegeln als aufwiegeln? Warum versucht er sie mit dem Ruf aufzureizen "Komm her, du Feigling!"? Das Video vermittelt den Eindruck unbeherrschter, überforderter Polizeibeamter, die sich und damit auch die Situation nicht kontrollieren können.

(Beifall bei der LINKEN – Frank Schira CDU: Machen Sie das doch mal!)

Das entschuldigt den späteren Gewaltausbruch nicht, aber er hat diese Vorgeschichte, die lückenlos und vorurteilsfrei aufgeklärt werden muss und es müssen Konsequenzen daraus gezogen werden. Es ist eine Sache, wenn Bürgerinnen und Bürger ausrasten; sie haben in der Regel die Konsequenzen zu tragen. Eine andere Sache ist es, wenn Polizei ausrastet. Gerade weil sie Träger des staatlichen Gewaltmonopols ist, ist sie umso strikter zu rechtstreuem Handeln und zu Gewaltbegrenzung verpflichtet. Wenn sie versagt, bricht der Damm. Wenn – wie man lesen kann – das Video beim Dezernat Interne Ermittlungen keinen Anfangsverdacht weckt, fordern wir Justizsenator Steffen auf, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, zu ermitteln.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass das polizeiliche Handeln aufgeklärt wird und nicht nur die Gewalt auf der anderen Seite, ist eine Frage der Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.

Der zweite Gesichtspunkt ist, wie wir, abgesehen von der strafrechtlichen Aufarbeitung, die weitere

(Präsident Dr. Lutz Mohaupt)

Eskalation verhindern und stattdessen zu einer Deeskalation der gesamten Situation kommen.

(Glocke)

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Unter diesem Gesichtspunkt ist es unfassbar, welche Begrifflichkeiten in die öffentliche Debatte dringen. Der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Herr Lenders, spricht von – ich zitiere, entschuldigen Sie bitte die Wortwahl –:

"Unterschicht und Abschaum der Straße"

Abschaum ist das, was sich beim Kochen an der Oberfläche absetzt, was abgeschöpft und in den Abfluss gespült wird. Diese Wortwahl zeugt von einer Verachtung der Bevölkerung von Stadteilen wie Neuwiedenthal, die unerträglich ist.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD und der GAL)

Da werden Mitglieder der Gesellschaft zu verachtenswerten Objekten erklärt, die man wegspülen muss. Abschaum hatte der damalige französische Innenminister Sarkozy die Bewohner der Banlieues genannt und damit die Brandfackel mitten in extrem problembeladene, abgehängte Stadtteile geworfen. Herr Lenders ist Polizeibeamter und Gewerkschaftsvorsitzender mit Einfluss auf die Polizei und auf die Einstellung von Polizisten. Er schafft ein Feindbild, das polizeiliches Handeln in benachteiligten Stadtteilen beeinflusst. Ein Feindbild, das sich dadurch verstärkt, dass Neuwiedenthal jetzt zum Gefahrengebiet erklärt wurde – Kriegsgebiet heißt es übrigens im "Hamburger Abendblatt" –, in dem die migrantischen Jugendlichen und jungen Männer zur Zielgruppe verdachtsunabhängiger Kontrollen werden. Die Verschärfung des Kontrolldrucks droht, Aufschaukelungsprozesse in Gang zu setzen. Ich fordere von der CDU und vom Innensenator, sich von der Entgleisung ihres Parteifreundes Lenders zu distanzieren.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

Was wir – abgesehen von der juristischen Aufarbeitung, von Sonderkommissionen und Ähnlichem – brauchen, ist der Dialog mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Neuwiedenthal und ähnlichen Stadtteilen, ein Dialog, in dem wir auch zuhören, ein Dialog über ihre Probleme, die Probleme ihrer Jugend dort, über ihre Vorstellungen, was zu ändern ist, und über Wege aus Perspektivlosigkeit und Abgehängtsein. – Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wort hat Herr van Vormizeele.

(Harald Krüger CDU: Die hatten alle eine schlechte Kindheit!)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ihr Redebeitrag, Frau Schneider, der Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern gemacht hat, hat die Grenze dessen, was man in diesem Hause als erträglich bezeichnen kann, weit ausgelotet; nach meiner Meinung war er weit darüber hinweg.

(Beifall bei der CDU)

Ich möchte beginnen, indem ich zunächst einmal meinen Respekt vor den Beamten bekunde, die am letzten Samstag in Neuwiedenthal Leib und Leben für unseren Rechtsstaat eingesetzt haben, und ich wünsche allen verletzten Polizeibeamten eine baldige und vor allem vollständige Genesung.

(Beifall bei der CDU, der GAL und der SPD)

Eine solch unfassbare Gewalttat, wie wir sie am letzten Wochenende in Neuwiedenthal erlebt haben, kann unter keinem Ansatz tolerabel sein. Wer auch nur im Ansatz versucht, Frau Schneider, diese Taten zu rechtfertigen, macht sich mitschuldig an immer mehr Gewalt in unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU und bei Michael Gwosdz GAL)

Unser Problem ist immer mehr der abnehmende Respekt vor der staatlichen Autorität. Wer Gewalt gegen Vertreter dieses Staates ausübt, übt Gewalt an der gesamten Gesellschaft aus. Die staatliche Autorität ist kein Ausdruck von Repression, sondern des gemeinschaftlichen Bemühens, in dieser Gesellschaft die Schwachen zu schützen. Reiche können sich Sicherheit kaufen, Arme nicht.

(Beifall bei der CDU)

Wer dieses System infrage stellt, stellt elementare Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens infrage und das ist mit uns als CDU nicht zu machen. Vorfälle wie in Neuwiedenthal, aber auch ein großer Teil der Auseinandersetzungen mit den sogenannten Krawall-Kids in den letzten Wochen und Monaten in der Schanze sind Ausdruck dieser Spirale aus Respektlosigkeit und Gewalt. Diese Spirale gilt es, gemeinsam zu durchbrechen. Dies kann nur mit einer gesellschaftlichen Gesamtanstrengung geschehen, bei der aus meiner Sicht ganz besonders die mit in die Verantwortung genommen werden müssen, die für die Weiterbildung und Erziehung von Jugendlichen Verantwortung tragen, die Eltern. Wir geben in diesem Jahr 223 Millionen Euro für die Hilfen zur Erziehung aus, dennoch zucken viele Erziehungsverantwortliche nur noch mit den Schultern, wenn sie ihre Unfähigkeit bei ihren eigenen gewaltbereiten

(Christiane Schneider)

und gewalttätigen Jugendlichen verkünden. Das können wir so nicht länger akzeptieren. Wir sollten darüber diskutieren, ob es nicht mehr und mehr dazu kommen muss, dass wir die Eltern von gewalttätigen Jugendlichen im Rahmen unterlassener Aufsichts- und Fürsorgepflicht früher und deutlich konsequenter in die Verantwortung nehmen können.

(Beifall bei der CDU)

Ohne diese tiefgreifende Verdeutlichung der Verantwortung von Eltern werden wir dieses gesellschaftliche Phänomen nicht mehr in den Griff bekommen. Dazu gehört auch, Straftätern deutlich zu machen, dass ihre Taten Konsequenzen haben. Eine Tat darf nicht folgenlos bleiben. Wir müssen die Diskussion, ob wir uns bei der Anwendung des Jugendstrafrechts nicht manchmal in die falsche Richtung bewegt haben, wieder deutlich intensiver führen. Wenn wir feststellen, dass die überwiegende Anzahl der Straftäter zwischen 18 und 21 Jahren nach dem Jugendstrafrecht abgeurteilt wird, dann haben wir entweder eine Fehlentwicklung in dem Reifeprozess unserer jungen Menschen oder eine Fehlentwicklung in der Rechtsanwendung. Beides kann man so nicht hinnehmen. Wir brauchen aber auch, das ist mir sehr wichtig, ein klares Bekenntnis zu den Menschen, die staatliche Autorität jeden Tag in der Praxis ausüben. Polizeibeamte stehen jeden Tag mit ihrem Leben für diesen staatlichen Schutz von Schwachen. Dafür verdienen sie Respekt und Anerkennung und nicht Beschimpfungen und Häme.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der GAL und der SPD)

Wer der Polizei immer wieder eine strukturelle Begehung von Straftaten vorwirft, die sich dann regelmäßig als falsch erweist, legt damit auch eine Axt an wesentliche Wurzeln unseres gesellschaftlichen Konsenses. Keiner macht aus Polizeibeamten Heilige, aber wer der Polizei immer wieder unterstellt, strukturell Gewalt auszuüben, muss sich fragen lassen, welche Form von Gesellschaft er eigentlich will. Gewalt auf allen Ebenen wollen wir nicht. Wir müssen als Demokraten zu dem gemeinsamen und – vielleicht für einige in diesem Hause auch radikalen – Grundkonsens kommen, dass Gewalt in jeder Form gesellschaftlich geächtet werden muss, und zwar lautstark, kompromisslos und vor allem ausnahmslos.

(Beifall bei der CDU und der GAL)

Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens und des Nein-Sagens bei Gewalt gegen Schwache, wir brauchen ein klares Bekenntnis zum Schutz unserer Polizei vor Gewalt und wir brauchen Konsequenz für diejenigen, die diese Gesetze brechen. Lassen Sie uns damit heute in dieser Debatte beginnen.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der GAL)

Das Wort hat Herr Dr. Dressel.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Schneider, ich möchte Ihnen in einem Punkt recht geben, wir können hier und heute die konkreten Ursachen der Eskalation, wie es an dem Abend anfing, nicht aufklären, sondern das muss ermittelt werden. Dafür haben wir Strafverfolgungsorgane und es war auch heute in der Zeitung zu lesen, dass die Staatsanwaltschaft sich damit befasst. Deswegen finde ich, dass sich an dieser Stelle eine Vorverurteilung in irgendeine Richtung wirklich verbietet.

(Beifall bei der SPD, der CDU und der GAL)

Wir sollten in der Tat über die grundsätzlichen Ursachen gesellschaftlicher Art reden, aber auch darüber, was in dieser Stadt konkret von den Behörden und vom Senat getan werden kann angesichts dieser dramatischen Einzelfälle, die aber durchaus ein Spiegelbild haben in den Zahlen, die wir der Gewaltentwicklung zurechnen müssen. Ich nenne nur einmal ein Schlaglicht: Wir haben seit 2005 eine Zunahme der Gewalt im öffentlichen Raum um 70 Prozent. Diese Zahl ist alarmierend und zwingt den Senat zum Handeln.