Protocol of the Session on September 17, 2008

Dann bekommt das Wort Senatorin Goetsch.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Lassen Sie mich einen Blick auf den Bildungs- und Erziehungsauftrag unseres Hamburger Schulgesetzes werfen, um aufzuzeigen, wer bei all den Reformen im Mittelpunkt stehen sollte.

In Paragraf 2 des Hamburgischen Schulgesetzes ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag für die Schülerinnen und Schüler unserer Stadt festgelegt. Ich will nur den Absatz 2 vortragen. Zitat:

"Unterricht und Erziehung sind auf die Entfaltung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten sowie auf die Stärkung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler auszurichten. Sie sind so zu gestalten, dass sie die Selbstständigkeit, Urteilsfähigkeit, Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sowie die Fähigkeit, verantwortlich Entscheidungen zu treffen, stärken."

Zitatende. –

Wie schon in Paragraf 1 geht es um das Recht auf schulische Bildung. Im Schulgesetz werden ganz selbstverständlich die Rechte der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt gerückt und deshalb hat der Gesetzgeber die Schülerinnen und Schüler an den Anfang des Gesetzes gestellt. Damit hat die Bürgerschaft deutlich gemacht, dass nicht die Institutionen, sondern die Rechte und die Bildungschancen der Kinder ganz vorne stehen. Alles, was sich dann anschließt – Strukturen, innere Verfasstheit der Schule, Schulformen – folgt erst nachrangig den Rechten und Bildungschancen der einzelnen Schülerinnen und Schüler.

Seit 1997, als dieses Hamburgische Schulgesetz von der Bürgerschaft beschlossen wurde, hat die Bürgerschaft bei diesem Paragrafen in ihren Schulgesetzesnovellierungen bei der Reihenfolge und dem Inhalt keine Veränderungen vorgenommen. Also muss sich der Senat daran halten, was dort geschrieben steht. Deshalb kann es eben nicht darum gehen, zuerst zu überlegen, wie wir Räumlichkeiten und Schulformen erhalten, sondern wie wir den Rechten und den Bildungschancen der Kinder dieser Stadt gerecht werden.

Ich habe die Gründe schon mehrfach vorgetragen, aber sie sind so gravierend, dass ich sie noch einmal wiederhole. Immer noch hängt der Schulerfolg von der sozialen und kulturellen Herkunft der Eltern ab, immer noch sind 30 Prozent unserer Schüler laut PISA sogenannte Risikoschüler mit wenig Chancen auf Ausbildung und Arbeit. Ich sage es immer wieder: Unsere Hamburger Schülerinnen und Schüler sind genauso talentiert wie ihre Kolleginnen und Kollegen in Finnland, Kanada, der Schweiz und so weiter, wo die Lernerfolge größer sind. Bei dieser Problemlage kann es nicht darum

(Michael Gwosdz)

gehen, den Status quo zu erhalten, lieber Herr Rabe,

(Ingo Egloff SPD: Hat er doch gar nicht ge- sagt, Frau Goetsch!)

und sich nicht zu bewegen und zu warten, bis vielleicht irgendetwas in Bewegung kommt, sondern wir müssen handeln. Es geht nicht darum, wie wir Schulformen erhalten, sondern wie wir den Bildungschancen der Kinder dieser Stadt gerecht werden. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Schulformen und Schulräume haben sich den pädagogischen Zielen und Notwendigkeiten anzupassen und nicht umgekehrt.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Dazu hat die Enquete-Kommission der Hamburgischen Bürgerschaft im Jahr 2006 eindrucksvoll und einhellig diese Schieflage analysiert und Einigkeit darüber erzielt, dagegen vorzugehen. Es besteht Einigkeit, die Vielgliedrigkeit des Schulsystems zu reduzieren und gleichzeitig dringend und schnell den Unterricht durch neue Lernkultur, durch individualisierten Unterricht zu verändern und zu verbessern.

Es gibt interessanterweise neuerdings auch Einigkeit in diesem Hause, länger gemeinsam zu lernen. Es gibt Einigkeit bei den Regierungsfraktionen und dem schwarz-grünen Senat, es gibt Einigkeit bei der Oppositionspartei DIE LINKE und nur Sie von der SPD, Herr Rabe, wollen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten und schlagen eine Versäulung vor, obwohl man woanders davon ausgeht, die Entsäulung anzugehen – ich nenne nur das Stichwort Jugendhilfe.

(Ties Rabe SPD: Sie schlagen die Versäu- lung vor! Sie stabilisieren die Säulung!)

Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal ausführen, warum sich längeres gemeinsames Lernen und die gleichzeitige Reduzierung der Vielgliedrigkeit des Hamburger Schulsystems in mehrfacher Hinsicht auf Befunde der empirischen Bildungsforschung stützen können.

Die OECD hat 2006 geschrieben – Zitat –

"Die Abhängigkeit zwischen Schulleistungen und sozialer Herkunft wird durch längeres gemeinsames Lernen verringert. Es lässt sich nachweisen, dass die soziale Abhängigkeit geringer ist, wenn später und weniger institutionell differenziert wird."

Zitatende. –

Der Bildungsökonom Wößmann hat es 2007 so formuliert:

"Je früher Schüler also in unterschiedliche Schulformen selektiert werden, umso größer ist der familiäre Einfluss auf die erzielten Schülerleistungen."

Im Klartext: Kinder, die von zu Hause wenig Unterstützung bekommen, haben einfach Pech gehabt, wenn sie zu früh in unserem System aussortiert werden. Das wollen wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Ein Mythos, dem wir entgegentreten müssen, ist auch, dass die leistungsstärkeren Kinder besser lernen würden, würde man sie nur möglichst früh von den leistungsschwächeren trennen. Dazu auch noch einmal der Forscher Wößmann, der zum Zusammenhang zwischen Schülerleistungen und sozioökonomischem Status sagt – Zitat –:

"Frühe Selektion geht nicht mit einem stärkeren Anstieg des durchschnittlichen Leistungsniveaus einher. Offenbar schneiden nicht einmal die besten 25 Prozent oder gar nur die besten 5 Prozent der Schüler besser ab, wenn die Aufgliederung früh erfolgt."

Die PISA-Forscher von 2000 sagen:

"Im internationalen Vergleich steigt tendenziell die Lesekompetenz mit einer sich lockernden Koppelung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb. [Es] hängt maßgeblich vom Erreichen eines befriedigenden Niveaus der Lesekompetenz in den unteren Sozialschichten ab."

(Ties Rabe SPD: Aber keiner empfiehlt die Primarschule!)

Das alles sollten Sie sich einmal auf Ihre Fahnen schreiben. Um das Bildungsniveau in deutschen Schulen insgesamt anzuheben, müssen Ungleichheiten reduziert werden. Dazu gibt es Modellrechnungen von Wilms im Jahr 2006 für die UNESCO, insbesondere Kinder aus schwachen sozioökonomischen Verhältnissen und mit Migrationshintergrund stärker zu fördern und weniger auszugrenzen und nicht zu früh auszugrenzen. Jedes zweite Kind in unserer Grundschule hat einen Migrationshintergrund. Es schreit geradezu nach der Notwendigkeit anzufangen und zu handeln. Es geht darum, die Verminderung der sozialen Ungleichheit zu erreichen und sich verstärkt den vernachlässigten schulstrukturellen Fragen zu widmen, wie die Simulationsstudien von Müller-Benedikt 2007.

Die verbreitete Auffassung, wonach nur über die Herstellung vermeintlich leistungshomogener Lernmilieus, was einige immer so gerne wollen, durch frühe äußere Differenzierung ein hohes Leistungsniveau erreichbar sei, lässt sich nicht aufrechterhalten – laut Arbeitsgruppe Internationale Vergleichsstudie 2003. Ebenso sagen andere vergleichende Studien von 2003, dass es auf ganzheitliche Reformen ankommt. Sodann sind wir bei unserer Hamburger Schuloffensive und Bildungsreform, wo es darauf ankommt, die Strukturveränderungen mit der Etablierung einer neuen Lernkultur mit neu ausbalancierten Verantwortungsstrukturen

(Zweite Bürgermeisterin Christa Goetsch)

und der Professionalisierung des schulischen Personals zu verbinden. Auf gut Deutsch heißt das: Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer, um in der Lage zu sein, mit Heterogenität in den Klassen entsprechend der Fortbildungsoffensive umzugehen, die zum 1. Februar 2009 vom Landesinstitut in großem Umfang vorbereitet wird.

Gerade weil wir in Hamburg – und das ist so wichtig – die Veränderung der Schulstrukturen untrennbar mit der Verbesserung des Unterrichts verknüpfen, hat unser Senat auf der Basis des Koalitionsvertrags eine umfassende Schuloffensive angestoßen, die zum einen der Notwendigkeit Rechnung trägt, dass das Schulangebot so gestaltet wird, wie es im Schulgesetz vorgeschrieben wird, nämlich dass die Rechte und Chancen der Schülerinnen und Schüler gewahrt bleiben, und zum anderen mit Augenmaß die größtmögliche Veränderung mit möglichst breiter Beteiligung der Menschen in und um die Schule umzusetzen.

Meine Damen und Herren! Wir sprachen gerade davon, dass eine Schulreform zwei Legislaturen oder bis zu zehn Jahren dauert. Wir fangen 2010 an, aber wir fangen an, wir steigen ein mit einer sorgfältigen Vorbereitung. Deshalb freue ich mich, vielleicht 2015 gemeinsam im Sinne von Enja Riegel, der bekannten Schulleiterin der Helene-LangeSchule in Wiesbaden, auf den Beginn dieser Reform blicken zu können und sagen zu können: Es hat sich alles gelohnt, Schule kann gelingen. – Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Ich halte zunächst einmal fest, dass die Abgeordnetenredezeit in der Aktuellen Stunde fünf Minuten beträgt. Das soeben waren 195 Prozent der Abgeordnetenzeit.

Das Wort bekommt die Abgeordnete Artus.

Herr Präsident, sehr geehrte Herren und Damen! Wäre ich auf eine Schule für alle gegangen, wäre ich vermutlich nicht sitzen geblieben und hätte voller Scham und Demütigung das Gymnasium verlassen müssen und hätte nicht erst wieder auf der Berufsschule Spaß am Lernen bekommen und ein gutes Zeugnis hingelegt. Das schaffen viele nicht. Es schaffen diejenigen nicht, die eine Reihe weiterer Demütigungen ertragen müssen, sei es bei der Arbeitsagentur, bei Vorstellungsgesprächen oder weil ihnen aufgrund ihres sozialen Status keine Chance gegeben wird. Sie wissen wie ich, dass in keinem Land der Bildungserfolg so abhängig vom sozialen Status ist wie in Deutschland.

(Wilfried Buss SPD: Genau!)

Ich arbeite in einem guten Job, der angemessen bezahlt wird und mir ein weitgehend sorgenfreies Leben ermöglicht. Ich arbeite mit einigen Frauen

und Männern zusammen, die eine ähnlich abgebrochene Schulkarriere wie ich hinter sich haben und denen es später wie mir nur durch einen immensen Kraftaufwand gelungen ist, nach diesem Schuldesaster zwei qualifizierte Berufe zu erlernen, um sich eigenständig zu ernähren und durchs Leben zu gehen.

Bei uns im Betrieb wird fast niemand mehr ohne Abitur eingestellt. Die Zeiten sind vorbei. Nur halb perfekte Lebensläufe bei Bewerbungen werden aussortiert. Wer sitzen geblieben ist, keinen Auslandsaufenthalt oder keine Praktika vorweisen kann, der kann es gleich vergessen. Aber wie soll jemand eine Chance bekommen, der in der Pubertät eine Talfahrt in der Schule hatte und die zehnte Klasse ein- oder zweimal, wie ich, nicht schafft und nicht das nötige Kleingeld der Eltern zur Verfügung hatte, um den Lebenslauf aufzuhübschen. Das Prinzip Nase und Beziehung regiert wieder zunehmend bei der Stellenbesetzung in den Betrieben.

Eine Schule für alle ist gerechter als alle anderen Schulmodelle.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Druck, der auf Kindern lastet, das Gymnasium schaffen zu müssen, damit aus ihnen etwas wird, wäre nicht mehr da. Sage mir doch keiner, dass auf den Gymnasien alles in Ordnung wäre. Als wir im Januar und Februar mit dem Wahl-O-Mat in verschiedenen Gymnasien waren, habe ich genug Probleme mitbekommen. Schüler und Schülerinnen würden und müssten sich zwangsweise nicht mehr als Elite fühlen und diffusen Erwartungen entsprechen, genauso wenig wie sich die anderen Kinder als Menschen zweiter Klasse fühlen müssten, was unweigerlich von den Eltern und der Gesellschaft vermittelt wird, wenn sie nicht auf das Gymnasium gehen.

Wenn Sie in der Bürgerschaft der Auffassung sind, dass sich Leistung lohnen muss, dann handeln Sie auch danach. Wenn sich Leistung lohnen soll, dann muss sie sich unabhängig vom sozialen Status der Eltern lohnen. Alles andere ist Heuchelei.

Eine Schule für alle ist leistungsfähiger als alle anderen Schulmodelle. Die Schulleistungen in Deutschland sind insgesamt nur mittelmäßig, bis auf die Grundschulen. Sie aber sind Schulen für alle. Das ist der bestechende Beweis für die Richtigkeit dieser Schulform. Bewiesen ist auch, dass heterogene Lerngruppen – Christa Goetsch hat es erwähnt – effektiver sind als homogene, weil das Klima leistungsfördernder ist. Eine Schule für alle kann gelingen, wenn die jetzigen Schulsysteme schrittweise umgebaut werden unter Beteiligung aller. Hamburg sollte keine halben Wege in der Schulpolitik gehen, auch wenn es jetzt eine Koalition gibt, in der schwarz-grüne Kompromisse geschlossen werden. Aber bitte keine Kompromisse, die sich auf Jahre auswirken und zulasten der Ge

(Zweite Bürgermeisterin Christa Goetsch)

neration geht, die jetzt schulpflichtig wird. Bis zum Jahr 2020 kann ein Umgestaltungsprozess erfolgen, der es ermöglicht, dass niemand umgeschult werden muss. Wir von der Fraktion DIE LINKE unterstützen daher die Volksinitiative "Eine Schule für Alle", weil es aus unserer Sicht um das Privileg geht, besser lernen zu können, nicht mehr gedemütigt zu werden, egal, ob auf dem Gymnasium oder in der neunten oder zehnten Klasse oder schon vor der Einschulung ausgelesen zu werden, wie das mit dem Schulmodell der Fall sein dürfte, das jetzt in Hamburg eingeführt werden soll.

Die Schule für alle wird auch den sogenannten Eliten gut tun, wie die Überschrift eines Artikels in der "Hamburger Lehrerzeitung" in der Dezember-Ausgabe des letzten Jahres lautete: Die Schule für alle ist ein Mercedes für alle.