Protocol of the Session on April 19, 2007

Ich will sie aufzählen: Wir haben in den Neunzigerjahren – 1995/1996 – über autonome Schulen gesprochen, wir haben die Schulinspektionen gefordert, die Ganztagsschule, die Öffnung der Schule zum Stadtteil

(Zuruf von Dr. Andrea Hilgers SPD)

ja, das ist so, Frau Hilgers.

oder auch die Praxislerntage. Das sind Erfindungen, die wir 1997 gemeinsam verhandelt haben. Es ist gut, dass das jetzt Standard ist.

(Vereinzelter Beifall bei der GAL)

Sie werfen uns immer vor, alle hätten sich in der Enquete-Kommission bewegt, nur wir nicht. Ich würde es anders beschreiben. Wir haben uns deutlich bewegt, aber immer ein paar Jahre vor Ihnen. Man könnte auch sagen, wir waren immer einen Schritt voraus. Das gilt auch, davon bin ich überzeugt, für das Konzept "9 macht klug" gegenüber dem Zwei-Säulen-Modell. Wenn Sie sich andere Politikbereiche angucken – ich nenne beispielsweise den Klimawandel –, werden Sie feststellen, dass wir die Probleme früh erkannt haben und jahrelang in der Minderheit waren. Um der Sache willen muss man einen langen Atem haben. Insofern sind wir hoffnungsfroh.

(Beifall bei der GAL)

Für den langen Atem gibt es gewichtige Gründe. Frau Ernst, Sie haben es eben bedauert, dass für die Vision,

das Ziel einer Schule für alle, die individuell fördert, das Gegenteil einer Einheitsschule, in dem Zwei-SäulenModell eine Gefahr besteht. Auf die möchte ich jetzt im Einzelnen eingehen, weil wir auf diese Gefahren hinweisen müssen – davor haben auch Professoren gewarnt –, wenn wir in eine starre Versäulung der Schullandschaft kommen und nicht in eine Schulentwicklung, die in Richtung Integration und individueller Förderung geht.

Ich habe immer wieder betont, dass es keine wissenschaftlich begründeten Argumente gibt, warum Kinder nach zwei Begabungen – die Theorie der zwei Begabungen gibt es nicht – nach der vierten und nach der sechsten Klasse noch einmal sortiert werden sollen. Warum eigentlich in zwei Säulen, warum soll es neben den Stadtteilschulen Gymnasien geben oder umgekehrt?

In der Enquete-Kommission haben einige Wissenschaftler betont – übrigens auch Professor Bos –, dass sie grundsätzlich für eine Schule für alle sind und wissenschaftlich auch nichts dagegen spricht, politisch aber nicht durchzusetzen sei. Deshalb soll es jetzt besser zwei Säulen geben, als dass gar nichts passiert. Es fehlt schlichtweg der politische Wille, sich für diese Schule stark zu machen und die Menschen dafür zu gewinnen und davon zu überzeugen. Es geht nicht darum, "Schule für alle" top down durchzusetzen, es geht darum, dafür zu kämpfen und eine entsprechende Schulentwicklung einzuleiten. Ich bin optimistisch, dass wir in einer Legislatur eine ganze Reihe gemeinsamer Schritte machen können, bei denen hoher Konsens besteht. Eine Schulentwicklung, die eine solche Schulstruktur vor sich hat, kann sowieso nicht in einer Legislatur umgesetzt werden.

Dass es zwei oder mehr Schulformen geben soll, damit Schüler und Schülerinnen nach arm und reich sortiert werden, ist natürlich von allen Parteien öffentlich aus gutem Grunde abgelehnt worden, würde das doch bedeuten, dass man arme Kinder automatisch für die dümmeren Kinder hält. Das wäre natürlich auch eine fachlich dumme und politisch skandalöse Einschätzung.

Damit kommen wir zu dem weiteren Problem des ZweiSäulen-Modells. Alle Studien von LAU, KESS oder PISA zeigen, dass die Kinder nicht nach ihren potenziellen Leistungen oder Lernerfolgen sortiert werden, sondern in erster Linie nach sozialem Status und ihrer Herkunft.

Die Grundschulempfehlungen, also der Rat der Schulen nach der vierten Klasse, sind zu 40 Prozent falsch und das wird sich durch ein noch so differenziertes Diagnoseinstrument nicht merklich ändern. Leider hat sich die Mehrheit in der Enquete-Kommission beharrlich geweigert, die gesonderten Regionalstudien, eine genauere Auswertung der KESS-7-Studie, zur Kenntnis zu nehmen, weil diese Regionalstudien eindeutig zeigen, dass das Zwei-Säulen-Modell aus Gymnasium und Stadtteilschule oder zurzeit noch Gesamtschule schon längst existiert und da, wo es existiert, die soziale Spaltung total zementiert ist und fortgeschrieben wird.

Ich habe in der letzten Aktuellen Stunde schon kurz das Beispiel Finkenwerder angeführt; da gibt es bereits keine Haupt- und Realschule mehr. Es gibt noch ein paar Haupt- und Realschüler, die in Nachbarstadtteile gehen, aber die überwiegende Zahl der Kinder geht in Finkenwerder in die Gesamtschule und das Gymnasium. Beide Schulen stehen auf einem Gelände und die soziale Spaltung der Schülerschaft ist eklatant. Die Forscher sprechen von einer – Zitat – "erheblichen Differenz der sozia

len Lagen der Schülerschaften beider Schulformen". Zugespitzt könnte man sagen: Stellen Sie sich an das Schultor und fragen den Schüler "sage mir, wie viele Bücher du im Regal stehen hast, dann sage ich dir, in welche Schule du gehst".

Dies ist genauso übertragbar, wenn Sie sich die Regionalstudie von Wellingsbüttel anschauen, einem reicheren Stadtteil – das gleiche Bild wie in Finkenwerder. Es ist eine real existierende Zwei-Säulen-Welt, denn es gibt in diesem Stadtteil keine Haupt- und Realschülerinnen mehr, auch keine Haupt- und Realschule, aber wie in Finkenwerder ist der soziale Abstand der Kinder, die in die Gesamtschule und ins Gymnasien gehen, enorm – auch hier dieselbe soziale Spaltung. Das sollte uns warnen, eine Schulentwicklung in Richtung zwei Säulen einzuleiten.

(Beifall bei der GAL)

Weil es nach Ihrem Wunsch die Grundschulempfehlungen und die Wahl der Eltern weiterhin geben wird, wird es keine überzeugende Begründung geben, die plausibel machen würde, warum sich das Wahlverhalten der Eltern in Zukunft ändern sollte. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass mit einem Zwei-Säulen-Modell weiterhin die Sortierung nach Herkunft bleibt.

Mein Fazit: Obwohl die Regionalstudien in der EnqueteKommission vorlagen, wurden sie bei der Entscheidung der Mehrheit für ein Zwei-Säulen-Modell nicht beachtet. Nach außen ignorieren CDU und Teile der SPD die Belege für die soziale Spaltung auch im Zwei-Säulen-System beharrlich. Jetzt legen Sie natürlich großen Wert darauf, dass die Stadtteilschule besser ausgestattet wird, und natürlich will keiner, dass sozial schwächere Schüler noch weiter benachteiligt werden. Sie stecken jetzt alles in die Stadtteilschule – eine tolle Ausstattung, Profilierung, Berufsorientierung und dann wird es schon werden. Ich glaube nicht daran, denn wir haben den Beweis, dass es nichts genützt hat, mehr in die Hauptschule hineinzustecken und die Förderschulen besonders auszustatten. Eine bessere Ausstattung allein führt nicht zum Erfolg. Die Förderschulen produzieren 98 Prozent Jugendliche ohne Abschluss trotz der kleinen Gruppen und der guten Ausstattung; das wird so nicht gelingen.

Das Restschulphänomen der Ballung von sozialen Problemen führt zur Abkoppelung einer ganzen Generation von sogenannten Risikoschülerinnen. Daher ist das Versprechen, diese könnten auf der Stadtteilschule Abitur machen, wahrscheinlich eher ein leeres Versprechen, denn diesen Schülerinnen und Schülern wird in Zukunft ein gemischtes und anregendes Lernmilieu fehlen. Die erfolgreichen Gesamtschulen, die dann Stadtteilschulen heißen sollen, haben eine gute soziale und leistungsmäßige Mischung ihrer Schülerschaft und das würde in Zukunft eine Ausnahme bleiben.

Meine Damen und Herren! Auch die Gymnasien sind keinesfalls Inseln der Seligen. Das Zwei-Säulen-Modell ist auch deshalb schlecht, weil es die Gymnasien in der Mittelstufe so lassen wird wie bisher: zu große Klassen, zu hoher Leistungsdruck in den Klassen 5, 6 und 7 wegen des Abiturs nach zwölf Jahren und wenige, meist gar nicht individualisierte Lernformen. Viele Eltern, die ihre Kinder auf dem Gymnasium haben, wissen ein Lied davon zu singen und sie kennen auch den Wirtschaftsfaktor Nachhilfe oder Nachhilfe Mama.

Nicht zuletzt ist das Zwei-Säulen Modell auch deshalb schlecht, weil es in zwei Säulen stecken bleibt und eine ganz zentrale Aufgabe nicht erfüllt. Wir brauchen so viele junge Leute wie möglich, die gut ausgebildet sind. Unsere Gesellschaft, unsere Ökonomie kann es sich gar nicht leisten, ein einziges Talent zu verschenken, das aus bildungsfernen Familien stammt. Wir brauchen alle Talente und deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass plötzlich in der Wirtschaft oder auch in konservativen Kreisen – ich will jetzt nicht wieder Herrn Späth oder Frau Süßmuth zitieren, ich könnte auch Professor Sinn zitieren – alle davon abraten, diese Gliedrigkeit weiter zu verstärken.

Meine Damen und Herren! Wir werden alle Punkte, die wir gemeinsam empfohlen haben, unterstützen und auch entsprechend so abstimmen. Allerdings werden wir in der Strukturfrage den weiteren Schritt gehen. Unser Ziel bleibt eine Schule, die die soziale Spaltung besser bekämpft, die bessere Leistungen der Schülerinnen und Schüler möglich macht, die individuell versus einer Einheitsschule fördert. Wir bleiben bei unserem Ziel "9 macht klug" und werden uns dafür weiter einsetzen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL)

Das Wort bekommt Herr Heinemann.

(Ingo Egloff SPD: Die haben nur einen, der darauf was sagt!)

– Genau – Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! In der Tat hat sich in den letzten Jahren etwas bewegt. Wir hatten im Jahr 2000 in Hamburg ein Klima in der Schulpolitik, in dem insbesondere der linke Flügel dafür gesorgt hat, dass viele Schulen an den PISA-Untersuchungen nicht teilgenommen haben, sondern sie boykottierten, weil man Angst vor den Ergebnissen hatte. Da hat sich in der Stadt und auch auf der linken Seite einiges verändert.

(Beifall bei der CDU)

Frau Ernst sagt, was die Reformbemühungen der letzten Jahre anbelange, habe die Enquete-Kommission an diversen Stellen ausdrücklich die Reformanstrengungen der Regierung bestätigt. Das steht sogar im gemeinsam von uns unterschriebenen Vorwort der Obleute und es gibt dafür auch diverse Beispiele. Die Klassenfrequenz in den sozialen Brennpunkten ist zum Beispiel ausdrücklich ein Thema der Enquete-Kommission ebenso wie der Professionenmix an der Ganztagsschule.

(Wilfried Buss SPD: Das ist Ihnen ja auch nicht eingefallen!)

Herr Buss, ich erinnere mich noch sehr genau, dass Sie sich hier aufgeregt haben, als wir Sprachfördermittel aus den Walddörfern in die sozialen Brennpunkte umgeschichtet haben.

(Wilfried Buss SPD: Polemik, Polemik!)

Genau das war Ihre alte Politik der Gießkanne. Wir haben, so wie die Enquete-Kommission es jetzt gefordert hat, nach den KESS Indizes bereits die Gelder dahin umgeschichtet, wo sie wirklich gebraucht werden.

(Beifall bei der CDU - Wilfried Buss SPD: Das stimmt überhaupt nicht, genau andersrum müssen Sie reden!)

Das ganze Thema Frühförderung haben Sie komplett verschlafen. Wir haben das eingeführt, darüber haben wir gestern diskutiert. Ich weiß nicht, wie Sie sich Ihre Forderung - das ist einer der wenigen Punkte, bei denen wir in der Enquete-Kommission auseinander waren -, zum 1. August 2008 bereits an allen Haupt- und Realschulen keine getrennten siebten Klassen mehr einzurichten, vorstellen. Normalerweise sagen Sie immer, wir müssen die Schulen mitnehmen, wir müssen in den Schulen Schulentwicklungsprozesse einleiten. Jetzt fordern Sie auf einmal, dass die Schulen für nur ein Jahr ein Konzept entwickeln, denn man legt ja nicht einfach zwei Klassen zusammen, sondern muss dafür auch pädagogisch ein Konzept erstellen. Ein Jahr später gibt es dann schon wieder ein neues Konzept für die Stadtteilschule, das ist völliger Unsinn.

(Wilfried Buss SPD: Nein, das muss doch durch- wachsen!)

Die Schulen sollen sich jetzt darauf konzentrieren, in regionalen Schulentwicklungskonferenzen gemeinsam zu überlegen, wie sie Stadtteilschulen gründen und sich nicht für ein Jahr in irgendwelchen merkwürdigen Reformprozessen verzetteln, die uns überhaupt nicht weiterführen.

(Beifall bei der CDU - Wilfried Buss SPD: Das sind drei Jahre! Sie müssen das doch durchwach- sen lassen!)

- Für ein Jahr, Herr Buss.

Ein letzter Punkt, Frau Ernst, auf den Sie leider überhaupt nicht eingegangen sind. Vielleicht haben Sie sich in Ihrer Fraktion nicht durchsetzen können, aber ich verstehe überhaupt nicht, warum die SPD heute gegen die zentrale Forderung der Enquete-Kommission stimmt, zum 1. August 2009 Stadtteilschulen und Gymnasien einzuführen. Wir stimmen hier über das Petitum ab und nicht über den gesamten Antrag; das ist bekanntlich immer so. Sie stimmen ja auch bei den anderen Unterpunkten zu und es gibt nur eine Lösung, warum Sie gegen diesen Unterpunkt stimmen: Sie haben in Ihrer Fraktion verloren. Die linke Einheitsschulfront hat sich bei Ihnen durchgesetzt und es nicht erlaubt, dass diesem Punkt zugestimmt wurde. Man muss ganz klar sagen: In der Enquete– Kommission gab es eine SPD–Mehrheit und in der Fraktion offensichtlich eine andere SPD–Mehrheit; Sie haben dort verloren. Die SPD spricht sich offensichtlich nicht für das Ergebnis der Enquete–Kommission aus und behält sich die Hintertür offen, um nachher die Gymnasien abzuschaffen; das ist leider Fakt.

(Beifall bei der CDU - Ingo Egloff SPD: Hören Sie doch mal auf mit dem Quark, das glaubt Ihnen sowieso keiner!)

- Dann stimmen Sie doch zu, Sie haben heute die Möglichkeit. Zeigen Sie es offen und sagen es aber bitte auch im Landesvorstand offen.

(Ingo Egloff SPD: Quatsch! - Wilfried Buss SPD: Das steht doch in unserem Antrag drin, was wir wollen!)

Dann stellen Sie sich aber bitte auch öffentlich hin, Herr Egloff, wenn Herr Buss wieder Unsinn redet, Frau Boed

dinghaus irgendetwas erzählt und sagen Sie, das ist die Position der SPD. Wir führen Stadtteilschule und Gymnasien ein, werden das entsprechend langfristig tun und nicht früher ändern als nach einem Schülerdurchlauf; sagen Sie das.

(Beifall bei der CDU - Bernd Reinert CDU: Ge- nau!)

Das Wort bekommt Herr Lein.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich will das, was meine Vorredner, insbesondere Frau Ernst, an Würdigung der Arbeit der EnqueteKommission hier gesagt haben, nicht wiederholen. Es ist vieles dabei, dem ich mich persönlich anschließen möchte. Es war eine angenehme Arbeit, es war eine offene Arbeit, es war eine Arbeit, die insbesondere bei den ersten vier Teilthemen zu großer Übereinstimmung geführt hat und das ist immerhin anerkennenswert. Es wird ein Steinbruch für viele Entscheidungen der nächsten Jahre sein, was man nicht einfach marginalisieren kann.