Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Professor Kopitzsch. Am 13. Oktober 1946, also fast genau auf den Tag vor 60 Jahren, fanden in Hamburg die ersten Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Nach 14 Jahren Gewaltherrschaft gab es in einem deutschen Bundesstaat wieder ein Landesparlament, das frei und demokratisch von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt wurde.
Die drei in der Bürgerschaft vertretenen Fraktionen haben sich darauf verständigt, diesen historischen Neuanfang heute mit einer Festrede des Hamburger Historikers Professor Franklin Kopitzsch zu würdigen. Herr Kopitzsch, der sich bereit erklärt hat, die Geschichte der Bürgerschaft auf diese Weise zu dokumentieren, ist Leiter der Arbeitsstelle für Hamburgische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg.
Bevor wir mit der Tagesordnung der regulären Sitzung beginnen, darf ich daher Herrn Professor Kopitzsch an das Rednerpult bitten.
Dr. Franklin Kopitzsch: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Erinnern für Gegenwart und Zukunft: Von den Anfängen der Demokratie in Hamburg. Am 13. Oktober, vor fast genau 60 Jahren, wählten die Hamburgerinnen und Hamburger zum ersten Mal nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges ihr Parlament, die Bürgerschaft. Am 30. Oktober 1946 versammelte sich dann in diesem Plenarsaal die neu gewählte Bürgerschaft zu ihrer konstituierenden Sitzung. Diese Tage waren zentrale Marksteine in der hamburgischen Parlamentsgeschichte, vergleichbar mit dem 14. Dezember 1848, dem 6. Dezember 1859, dem 24. März 1919 und eng verknüpft mit dem 8. März 1933 und dem 27. Februar 1946, allesamt Daten, die es verdienen, stärker im historisch-politischen Bewusstsein der Hamburgerinnen und Hamburger verankert zu werden. Sie stehen für wichtige Stationen auf dem Weg zur Demokratie, der auch in Hamburg ein langer und schwieriger war.
Ich freue mich, dass Sie, Herr Bürgerschaftspräsident Röder, wie Ihre Vorgänger und Vorgängerinnen den Wert der historischen Erinnerung als Teil der politischen Kultur erkennen und mit Veranstaltungen und Veröffentlichungen dazu beitragen, dass der kritische Umgang mit unserer Geschichte, die aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von der Bürgerschaft gefördert werden.
Vom 5. Oktober bis zum 4. Dezember 1848 wählten rund 50 Prozent der wahlberechtigten über 22-jährigen männlichen Staatsangehörigen die Konstituante, die Verfassunggebende Versammlung. Der Dachdecker David Christopher Mettlerkamp, ein Veteran der Befreiungskriege und Mitbegründer des Kunstvereins, eröffnete am 14. Dezember 1848 im Haus der Patriotischen Gesellschaft an der Trostbrücke die erste Sitzung und erklärte:
"Gleiche politische und bürgerliche Berechtigung aller Staatsangehörigen an diejenigen Anordnungen ihrer gesellschaftlichen Beziehungen, nach denen sie unter wechselseitigen Dienst- und Hilfsleistungen miteinan
der ruhig und friedlich leben wollen, ist eine unabweisbare Forderung der Vernunft und des sittlichen Wollens."
"Wir sollen durch Vereinfachung und Sparsamkeit in unserem Staatshaushalt auf die Verbesserung unserer Finanzen, auf die Hebung unseres Wohlstandes hinwirken, auf gerechte Verteilung der Staatslasten, auf schnelle und wohlfeile Rechtspflege, auf zweckmäßigen und vollständigen Schulunterricht, auf Hebung des Gewerbstandes, auf Sicherung jedweder individueller Freiheit innerhalb ihrer sittlichen Grenzen sollen wir hinwirken und die dazu erforderlichen Gesetzesschranken bezeichnen."
So aktuell und modern sind zuweilen die Forderungen, die Programme der Altvorderen! Das Werk der Konstituante scheiterte 1849/50 an den gegenrevolutionären Kräften in der Stadt wie im Deutschen Bund und ihrem geschickten Zusammenspiel.
Erst ein Jahrzehnt später, vom 14. bis zum 21. November 1859, wählten die "volljährigen männlichen hamburgischen Staatsangehörigen" die neue Bürgerschaft. 84 Abgeordnete wurden in allgemeiner Wahl bestimmt, 60 von den Notabeln, Bürgern, die ein Ehrenamt innehatten, gewählt, 48 von den Grundeigentümern. Bei allen Modifikationen blieb es bis zum Ende des Kaiserreichs bei der Bevorzugung dieser beiden Gruppen. Alterspräsident der konstituierenden Sitzung am 6. Dezember 1859, wiederum im Haus der Patriotischen Gesellschaft, war der Kaufmann und Reeder Robert Miles Sloman, ein gebürtiger Engländer, der 1848 einer der engagiertesten Vorkämpfer einer deutschen Flotte gewesen war. Er sah in der neuen Bürgerschaft "das Werk des Fortschrittes, durch die öffentliche Meinung und die Tendenzen der Zeit hervorgerufen". Die Öffentlichkeit der Verhandlungen und die Freiheit der Diskussionen machten für ihn den entscheidenden Unterschied zur alten Erbgesessenen Bürgerschaft aus. Diese waren ihm "das Palladium unserer bürgerlichen Rechte und die Mittel, durch welche wir zur Erlangung der vielen Reformen, der wir bedürfen, kommen werden".
Erster Präsident wurde Johannes Versmann, der 1848/49 mit seinem St. Pauli-Bürgerverein und in der Konstituante für die Demokratie eingetreten war. Er erinnerte denn auch an "die vereitelten Hoffnungen, das Hin- und Herschwanken der Meinungen, die verschiedenen Partheiungen, welche unseren, gerade vor Allem ein friedliches Zusammenleben der Bürger heischenden kleinen Staat Jahrelang zerklüfteten. Er erhoffte sich mit dem 6. Dezember 1859 "den Anfang einer neuen glücklichen Ära für unsere geliebte Vaterstadt, den Beginn einer langen Epoche inneren Friedens und äußeren Glückes!".
Vizepräsident wurde 1859 ein Hamburger Jude, Gabriel Riesser. Als einer der führenden Köpfe der Paulskirche hatte er sich schon 1848/49 große Verdienste um den Parlamentarismus und die Grundrechte der Deutschen erworben. 1861 und 1862 wählte die Bürgerschaft Isaac Wolffson zu ihrem Präsidenten. Mit ihm wurde zum ersten Mal ein jüdischer Mitbürger Präsident eines deutschen Landesparlamentes. Ihm folgte von 1892 bis 1902 mit Siegmund Hinrichsen ein weiterer Hamburger Jude und um das Gemeinwohl verdienter Patriot.
Mit der Verfassung von 1860 setzte in der Tat ein Modernisierungsschub ein. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde Hamburg zur Millionenstadt, zum drittgrößten Hafen der Welt und zu einer Industriemetropole. Doch die Demokratisierung blieb stecken. 1890 gab es bei 623 000 Einwohnern 138 000 Reichstagswähler, aber nur 23 000 Bürgerschaftswähler. Nachdem 1901 und 1904 die ersten Sozialdemokraten in die nun im Rathaus beheimatete Bürgerschaft einzogen, führte die Bürgerschaftsmehrheit 1906 gegen den Widerstand der Vereinigten Liberalen um Carl Petersen und der Sozialdemokraten um Otto Stolten ein Klassenwahlrecht ein, das der Historiker Hans Wilhelm Eckardt treffend charakterisiert hat: Von nun 160 Sitzen in der Bürgerschaft stellte "die Minderheit der gut situierten Bürger 128, die Mehrheit der weniger gut verdienenden Bürger jedoch nur 24 Sitze" und "die Masse der Einwohner" war "überhaupt nicht repräsentiert". Eine Epoche "äußeren Glückes" war die Ära nach 1859, eine des "inneren Friedens" nicht. Sozialistengesetz und Politische Polizei, Choleraepedemie 1892, Hafenarbeiterstreik 1896/97, "Wahlrechtsraub" 1906 markieren die Konflikte und Krisen deutlich. Viel zu spät, im Oktober/November 1918, waren Senat und Bürgerschaft zu einer Verfassungs- und Wahlrechtsreform bereit.
Die Revolution erzwang eine grundlegende Neuordnung. Am 16. März 1919 wählten 80,6 Prozent der wahlberechtigten Männer und Frauen die neue Bürgerschaft. Alterspräsidentin wurde Helene Lange, eine der großen Vorkämpferinnen der deutschen Frauenbewegung, die seit 1916 in Hamburg lebte und am Sozialpädagogischen Institut unterrichtete. Sie gehörte der Deutschen Demokratischen Partei an.
Helene Lange war am 9. April 1848 geboren worden, in jenem Jahr, in dem erstmals auch die Frauen Gleichberechtigung und politische Teilhabe gefordert hatten. In ihrer Ansprache widmete sie sich dem "Neubau" des Staates und der zu schaffenden Verfassung als "Grundlage unseres Staatslebens, von der die überzeugende und überwindende Kraft politischer Gerechtigkeit und sozialen Geistes ausgeht". Bei allen politischen Gegensätzen gelte es, "Einheiten" zu suchen. Die erste dieser Übereinstimmungen war für sie:
"die Erhaltung des wirtschaftlichen Bodens, auf dem unsere Mitbürger aller Schichten, alle Männer, Frauen und Kinder dieses Staates leben. Wir haben die Verpflichtung, ihnen die Heimat als eine Stätte zu erhalten, die ihnen Arbeit, Entfaltung ihrer Kräfte und durch sie ein lebenswertes Dasein bietet."
Es gehe nun um "eine restlos demokratische Grundlage des neuen Staates". Um sie zu verwirklichen, gebe es
"keinen anderen Weg als den der unbedingten Gerechtigkeit, der demokratischen Gleichberechtigung. Sie kann allein unser leitender Gedanke sein. Sonst müßte alles, was wir schaffen, schnell wieder zerfallen. Wir Frauen"
"bringen diesen Optimismus mit. Sonst wären wir nicht hier. Wer ein Leben lang für Ziele gekämpft hat, die bis zu allerletzt in unerreichbarer Zukunft zu liegen schienen, der bringt aus diesen Kämpfen viel Zuversicht mit zu dem, was man noch nicht sieht."
Der Anteil der weiblichen Abgeordneten betrug 1919 10,8 Prozent. Nach Rückschlägen und Stagnation stieg
Der erste Präsident, der Sozialdemokrat Berthold Grosse, erinnerte in seiner Antrittsrede an die jahrzehntelangen Kämpfe um das Wahlrecht und erwartete eine neue Verfassung, aufgebaut
"auf dem gleichen Recht aller Staatsbürger und -bürgerinnen. Nicht die Bevorzugung mit Glücksgütern des Lebens, nicht 'Mehr Lohn und weniger Arbeit' – wie letzthin hier ausgesprochen wurde – soll der herrschende Gedanke sein, sondern für gleiche Leistung gleicher Anteil an den Gütern des Lebens, Freiheit und Wohlfahrt alles dessen, was Menschenantlitz trägt".
Trotz langer politischer Stabilität und auch im reichsweiten Vergleich eindrucksvoller Aufbauleistungen gerieten die demokratischen Kräfte in Hamburg im Sog der Weltwirtschaftskrise und der zunehmenden Polarisierung und Radikalisierung in die Minderheitsposition. Die nationalsozialistische Agitation konnte auch an in Hamburg seit dem Kaiserreich stark vertretene antidemokratische und antisemitische Strömungen anknüpfen, weite Teile des alten und neuen Mittelstandes gewinnen und – dauerhafte Mahnung bis heute – große Resonanz unter Jung- und Nichtwählern finden. In der vierten Sitzung der Bürgerschaft im Jahre 1933, am 8. März, wurde ein von großen Teilen des bürgerlichen Lagers unterstützter, von Nationalsozialisten geführter Senat gewählt. Hans Podeyn, der Fraktionsvorsitzende der SPD, hielt in dieser Sitzung eine Rede, die sich durchaus mit der von Otto Wels in der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 vergleichen lässt. Podeyn erklärte darin:
"Wir Sozialdemokraten denken jetzt mit Stolz an die Arbeit, die unsere Vertrauensmänner im Senat geleistet haben. Niemals waren uns die Ämter das Entscheidende. Wir haben sie aufgegeben, als sie nicht mehr die Möglichkeit einer aktiven Vertretung der Volksinteressen gaben.
Wir stehen jetzt in der Opposition. Wir sehen, dass uns diese Opposition durch eine rücksichtslose Machtpolitik erschwert werden soll. Mag der sozialistische Befreiungskampf dadurch gehemmt werden, bezwungen wird er nicht!
"dass Millionen Arbeiter in Deutschland, 220 000 Männer und Frauen in Hamburg, unerschütterlich zur Sozialdemokratie stehen. Diese Treue, die lebendig geblieben ist trotz schwerster Verantwortung und trotz stärksten Drucks, gibt uns die sichere Gewähr, dass wir Sozialdemokraten auch die jetzt begonnene zweite Periode der Verfolgung und des Terrors überwinden werden."
Herbert Ruscheweyh, wie Podeyn Sozialdemokrat, seit 1931 Bürgerschaftspräsident, dankte den aus dem Amt geschiedenen Senatsmitgliedern. Es war ihm "die verbindliche Pflicht menschlicher Gerechtigkeit" anzuerkennen, "dass die scheidenden Senatoren in den schweren Jahren ihrer Amtsführung unter Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit das Beste für Hamburg erstrebt haben". Die neuen Senatoren mahnte er:
"Mit ihrer Arbeit, meine sehr geehrten Herren, stehen Sie vor Hamburgs Forum nicht allein. Hamburg ist
Deutschlands Ausfalltor in die Welt. Das war es. Das soll es bleiben. Übernehmen Sie Ihr Amt vor der Bürgerschaft aus dem wahren Geist des Wortes, das in überzeitlich gewordener Sprache jeden begrüßt, der Hamburgs Rathaus betritt: Libertatem, quam peperere maiores nostri, digne studeat servare posteritas."
Solange es ihm als Präsident möglich war, trat Ruscheweyh für die Rechte des Parlaments und der Abgeordneten ein. Solange es ihm als Anwalt möglich war, half er verfolgten Sozialdemokraten und Kommunisten.
"Wir haben den Willen, das wieder gutzumachen, was in den letzten 14 Jahren versäumt worden ist und hoffen, dass Gott uns die Kraft gibt. Missverstandener Sozialismus, falsche Theorien undeutsch denkender Sozialromantiker haben unsere blühende Handelsstadt in einen Trümmerhaufen verwandelt."
Im Mai 1933 wurde auch in Hamburg die Gleichschaltung vollzogen. Die neu zusammengesetzte Bürgerschaft trat am 10. Mai zusammen. Vorangegangen war ein Gottesdienst in der St. Jacobi-Kirche. In seiner Predigt huldigte Senior Karl Horn Adolf Hitler. Für ihn war er "der gottgesandte Reichsschmied unserer Tage". Seine Zuhörer forderte er auf: "Fest bleiben in dem Werk der Erneuerung unseres Volkes bis ans Ende. Warten können, aber fest bleiben". Das sei die Aufgabe der neuen Zeit, "in diesem Morgenrot der Freiheit". Das Werk der vermeintlichen Erneuerung führte bis ans bittere Ende und verwandelte Hamburg in einen Trümmerhaufen, wie ihn die Stadt nie zuvor erlebt hatte.
"1945 Trümmer- und Leichenberge, die in der europäischen, deutschen und hamburgischen Geschichte ihresgleichen suchen. Als die britischen Truppen am 3. Mai 1945 in Hamburg einrückten, bestanden ganze Stadtteile nur noch aus Trümmerflächen, waren rund 300 000 Wohnungen und damit mehr als die Hälfte des Hamburger Wohnungsbestandes zerstört. Hunderttausende ehemaliger Einwohner lebten als 'Butenhamborger' außerhalb der Stadt oder hausten provisorisch in Kellerwohnungen und Notunterkünften. Mehr als 100 000 Hamburger waren als Soldaten gefallen oder Opfer des Bombenkrieges geworden. Die einstmals blühende jüdische Gemeinde der Hansestadt bestand 1945 nur noch aus Rudimenten. Tausende Hamburger Juden waren in die Emigration getrieben und rund 10 000 ermordet worden. Im nahegelegenen Konzentrationslager Neuengamme hatten mehr als 50 000 Häftlinge das Kriegsende nicht überlebt, waren ermordet, durch Arbeit vernichtet oder durch elende Lebensbedingungen zugrunde gerichtet worden."