Deshalb hätten wir es – da bin ich mit Professor Karpen einig – als parlamentarische Pflicht gehabt, dieses Wahlrecht einmal zu probieren, um dann wirklich zu wissen, ob es wirklich so schrecklich ist, wie Sie es alle ausmalen. Ich habe in der Aktuellen Stunde kein Geheimnis daraus gemacht, dass sich die SPD auch für ein anderes Wahlrecht entschlossen hätte. Wir belegen jedoch Respekt und Verantwortung in dieser Frage deutlich anders und kommen zu dem Schluss, dass wir uns nicht gegen Volkes Willen entscheiden wollen.
Ein Punkt ist in dieser Debatte noch nicht ausreichend beleuchtet worden, nämlich der Punkt, wie knappe Mehrheiten damit umgehen, das Wahlrecht zu ändern. Ich habe meinen armen Assistenten diese Woche über mehrere Stunden in die Dokumentation geschickt, damit er herausfinde, ob es jemals einen Akt in dieser Stadt gegeben habe, dass die Bürgerschaft nicht im Konsens oder ohne eine Zweidrittelmehrheit und ohne offene Diskussion das Wahlrecht verändert hätte.
Das hat es niemals gegeben, dass eine einzelne Fraktion mit ihrer knappen Mehrheit negative Parlamentsgeschichte schreiben will.
(Beifall bei der SPD und der GAL – Bernd Reinert CDU: Es hat sich auch noch nie jemand einem Gespräch entzogen!)
Da gehört es vielleicht zu den, wie man neudeutsch immer sagt, Peanuts, wenn man sagt, man könnte es nicht durchführen, weil die Anzahl der Wahlhelfer so unheimlich groß sein muss. Wir haben alle in der letzten oder vorletzten Parlamentssitzung gemeinsam über den digitalen Wahlstift gesprochen. Ich glaube, wenn man den einführt, dass man nicht über 45 000 Wahlhelfer in dieser Stadt reden müsste. Selbst wenn wir 45 000 Wahlhelfer brauchen sollten, denke ich, ist es ein demokratischer Akt von vielen Leuten, die sich auf den Weg gemacht haben, dieses Wahlrecht ändern zu wollen, dann auch als Wahlhelfer in dieser Stadt zur Verfügung zu stehen.
Weil wir uns natürlich auch in den Bereich der Märchen und Legenden begeben haben, will ich mit einer Legende doch noch aufräumen, nämlich mit der Legende, das Angebot an die SPD-Fraktion, uns in dieser Frage mit ins Boot zu nehmen. Ich denke, dass wir dieses Wahlrecht aus Respekt vor dem Volke so durchführen wollten und wir wollten in dieser Frage eindeutig nicht mit Ihnen in einem Boot sitzen. Deshalb ist es auch dazu gekommen, dass wir diese Angebote, die eigentlich keine offenen Angebote waren, natürlich auch ablehnen mussten. Das ist doch ganz eindeutig.
Deshalb ist es Legende, in dieser Frage von einer totalen Verantwortungslosigkeit von uns zu reden. Enden möchte ich mit einer Pressemitteilung. Es ist oft so, dass die aufgehoben werden und einige sich das auch merken. 13. Juni 2004 – das Datum wird vielen von uns noch in Erinnerung sein –:
"Die Wähler haben entschieden. Der Entwurf der Initiative hat, wenn auch knapp, die notwendige Stimmenzahl erreicht. Damit hat der Wähler eine Entscheidung getroffen, die wir respektieren werden."
(Werner Dobritz SPD: Das werden wir plakatieren! – Gegenruf von Bernd Reinert CDU: Denn man zu! Immer noch besser als Ihr Foto zu plakatieren! – Heiterkeit bei der CDU – Michael Neumann SPD: Das sagt der Richtige!)
Ich glaube, um diese Debatte vernünftig begreifen zu können, müssen wir uns noch einmal klar machen, was der Kern dessen war, was der Volksgesetzgeber gewollt hat. Der Kern dessen, was er gewollt hat, war offenkundig eine sehr weitgehende Personalisierung des Wahlrechts. Warum – das muss man sich dann ja fragen – will der Volksgesetzgeber eine so weitgehende Personalisierung des Wahlrechts? Das kann man nur mit Blick auf uns beantworten, denn das hat offenbar etwas mit der Zustimmung zu tun, die die Parteien als Parteien in der Republik finden, mit dem Misstrauen, das internen Parteistrukturen gegenüber besteht et cetera. Dass das so ist, wissen wir auch alle. Deswegen führen Sie, aber auch wir, sehr personalisierte Wahlkämpfe. Sie kommen diesem Misstrauen gegenüber den Parteien auch dadurch entgegen, dass Sie einen "Ole-Wahlkampf" aufblasen. Der Wähler sagt aber jetzt: "Ole-Wahlkampf" okay, aber wir möchten auch über die anderen Personen als Personen entscheiden und das war der Sinn dieser Volksgesetzgebung. Jetzt müssen wir einmal schauen, was daraus geworden ist. Was bleibt an Personalisierung übrig, an Möglichkeiten, die einzelnen Personen auf der Liste, in den Wahlkreisen, als Wähler zu bestimmen und nicht die Vorgabe, die von der Partei kommt, einfach zu bestätigen. In Bezug auf die Liste ist zunächst schon einmal der Umstand weg, dass man da überhaupt kumulieren und panaschieren kann. Das heißt, bei der Liste haben der Wähler und die Wählerin keinen Zugriff mehr. Aber jetzt kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt dazu, der noch nicht erwähnt worden ist: Der Volksgesetzgeber hatte eine Verteilung der Listen und der Wahlbezirksplätze nach 50 : 71 beschlossen. Das heißt, er hatte das zentrale Verhältniswahlrecht gegenüber dem Wahlkreiswahlrecht geschwächt. Im Bund ist das 50 : 50 und hier sollen nur 50 der Abgeordneten durch die Liste, also entspre
Was machen Sie jetzt durch Ihre so genannte BerlusconiKlausel? Sie führen ein, dass, wenn eine Partei eine Mehrheit auf der zentralen Liste erzielt, dann auf jeden Fall die Mehrheit im Parlament haben wird. Das heißt, Sie etablieren wieder das Verhältniswahlrecht als ausschlaggebend in der Stadt und machen die Wahlkreisstimme zu einer Nebensache.
Da das nicht wie auf der Bundesebene funktionieren kann, wo bei 50 Prozent der Zweitstimmen automatisch immer die Mehrheitsfraktion die Nase vorne hat, müssen Sie noch einführen, dass Sie dann eine Partei privilegieren, wenn sie die absolute Mehrheit hat. Das ist aber gegenüber einer Koalitionsbildung, die auch eine Mehrheit zustande bringen würde, eine direkte Unterprivilegierung. Das ist direkt die Privilegierung der Mehrheitspartei zu Ungunsten einer Koalitionsbildung und das darf eigentlich nicht sein.
Nein, nein. Sie führen doch überhaupt erst ein, dass die Wahl der Listenstimme bedeutender als die Wahl der Wahlkreisstimme ist. Das führen Sie damit wieder ein.
Sie etablieren jetzt das Übergewicht des Verhältniswahlrechts, das Übergewicht der Nichtzugriffsmöglichkeit der Wählerinnen und Wähler auf die Personenzusammensetzung des Parlaments. Sie schaffen damit die Situation, dass die Stimmen, die für die Gesamtliste der Stadt abgegeben werden, qualitativ bedeutsamer sind als die Stimmen, die im Wahlkreis abgegeben werden. Das sollte aber gerade abgeschafft werden.
Dann bleibt das Letzte übrig: Hat denn die Wählerin, der Wähler jetzt eine Zugriffsmöglichkeit auf die Wahlkreiskandidatur? Da lassen Sie ja kumulieren. Gleichzeitig führen Sie aber die so genannte Relevanzschwelle ein. Diese Relevanzschwelle ist so hoch und massiv, dass es selbst für bekannte Personen vermutlich unmöglich sein wird, sie zu überspringen, weil eine große Anzahl von Wählerinnen und Wählern einfach die Partei ankreuzen wird.
Nein, ich sage nicht, der Wähler ist dumm. Ich sage nur, dass Sie einen Komplexitätsgrad geschaffen haben, der vorher gar nicht in dem Gesetz enthalten war. Vorher stand in dem Gesetz nur, dass man aus den Listen Personen ankreuzen konnte. Jetzt schaffen Sie einen zusätzlichen Komplexitätsgrad. Jetzt können Sie nämlich entweder die Wahlkreisliste oder Personen ankreuzen und damit dequalifizieren Sie das Ankreuzen von Personen.
Ohne diese Relevanzschwelle wirkte sich die Begünstigung von Kandidaten auf der Liste sofort zugunsten von Verschiebungen aus. Das ist durch die Relevanzschwelle beseitigt. Das heißt, von all diesen Personalisierungsversuchen, die der Volksgesetzgeber gewollt hat, ist im Grunde nichts übrig geblieben. Dann sagen Sie, es sei
ein unbeträchtlicher Eingriff, der da passiert ist. Sie haben aber den Sinn dessen, was der Volksgesetzgeber gemacht hat,
direkt ins Gegenteil verkehrt, und zwar insofern, dass Sie den personellen Durchgriff überall entweder fast ganz ausgeschaltet haben oder aber sehr stark erschwert haben. Da kommt man dann tatsächlich an ein politisches Konsensproblem.
Wenn wir gemeinsam Volksgesetzgebung beschlossen haben und wir dem Volksgesetzgeber, der sich mit der Mehrheit seiner Aktivbürger in einer wichtigen Angelegenheit, in der es geradezu um die Struktur unserer Stadtpolitik und nicht nur um Privatisierungsfragen geht, eindeutig entschieden hat, und Sie dann dem Aktivbürger die Entscheidung um die Ohren hauen, grenzt das, wenn man so etwas macht, an eine Krise der Republik.
Nein, ich meine mit "Krise der Republik" doch nicht, dass jetzt die Stadt untergeht, aber Sie untergraben die Vertrauensbasis, die in Bezug auf Wahlergebnisse da sein muss. Wahlen sind doch dafür da, dass im gesellschaftlichen Streiten nach der Wahl wieder Frieden herrscht. Das Wahlergebnis muss ja konsensstiftend und friedensstiftend sein.
Wenn Sie die Situation haben, dass ein Wahlrecht über die ganze Stadt debattiert und unter den Aktivbürgern mit einer doch deutlichen Mehrheit bestätigt worden ist, und zwar – was das völlig Überraschende war – gegen das Votum der beiden Großparteien in der Stadt, dann ist doch eine ziemliche Aktivität nötig, wenn Bürgerinnen und Bürger gegen das Votum der beiden Großparteien sagen, nein, wir wollen es anders. Und dann kommen Sie her und sagen als eine dieser Großparteien, nein, wir aber nicht, wir drehen das um. Damit greifen Sie im Grunde ein Fundament der Willensbildung in der Republik an und stellen es infrage. Ich rede von Stadtrepublik und nicht vom Bund. Da machen Sie, glaube ich, einen Fehler, der uns als Hamburg schadet.
Einmal unterstellt, Sie hätten Recht, was Sie bezüglich des Wahlrechts sagen und es tatsächlich so ist, dass dieses Wahlrecht unpraktizierbar ist, dann wäre es doch das Vernünftigste, man lässt die Bürgerinnen und Bürger, die sich da eingemischt haben, diese Erfahrung machen. Stattdessen treiben Sie schwarze Pädagogik
und sagen, ihr habt zwar gesprochen, aber Kinder, ihr hättet fast die Finger in die Steckdose gesteckt, damit ist jetzt Schluss, jetzt kommt ihr wieder ins Ställchen.
So handeln Sie gegenwärtig. Was wir in der Bundesrepublik aber wirklich am Dringendsten brauchen, ist, dass wir wieder in der Lage sind, die Zahl der sich aktiv an der Politik Beteiligenden zu erhöhen. Wir haben immer noch ganz passable Wahlbeteiligungen. Selbst die Volksabstimmungsergebnisse sind nicht so schlecht wie immer gesagt wird. Wenn sich insgesamt fast 40 Prozent betei
ligt haben, dann ist das für ein gerade eingeführtes Gesetz und für eine Bevölkerung, die nicht an Volksabstimmung gewöhnt ist, ein ganz gutes Ergebnis.
Und dann ziehen Sie das weg. Gerade wenn Sie sich hier als Hamburg-Partei etablieren wollen – was Sie immer erklären –, dann dürfen Sie dabei nicht die Fundamente wegbohren, auf denen wir als Demokratie stehen. – Danke schön.