Die Ergebnisse unserer Großen Anfrage sind alarmierend. Sie zeigen, dass die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in unserem Bildungssystem besonders hoch und stark ist. Sie zeigt, wie dramatisch die Situation dieser Kinder und Jugendlichen ist. Sie werden damit früh an den Rand des Schulsystems und damit letztendlich auch an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ihr Anteil an den Kita-Kindern sinkt, ihr Anteil bei den Schulabbrecherinnen ohne Abschluss steigt dramatisch und ihr Anteil in den Förderschulen ist überproportional hoch.
Es ist eine Tragödie, dass unser Schulsystem selbst nach 40 Jahren Einwanderung es nicht schafft, diese Kinder und Jugendlichen in unserem Bildungssystem mitzunehmen. Selbst die Situation der Kinder und Jugendlichen in der dritten Einwanderergeneration lässt noch immer Verbesserungen vermissen, schlimmer noch, ihre Situation verschlechtert sich kontinuierlich.
Ich möchte aber an dieser Stelle auch deutlich sagen, dass wir diese Misere nicht erst seit den letzten zwei oder drei Jahren haben. Sie existiert hier in Hamburg schon seit vielen Jahrzehnten. Allerdings ist festzustellen, dass es im Schuljahr 2001/2002 eine leichte Verbesserung gegeben hat und seitdem bis zum Schuljahr 2003/2004 die Verschlechterungen wieder zunehmen. Auch das gibt die Anfrage her.
Aber lassen wir einmal die Zahlen sprechen. Immer weniger Kinder aus Migrantenfamilien werden frühzeitig durch Kita-Besuch und Sprachförderung mitgenommen. Obwohl hier die Zahl der Kinder in den Kindertageseinrichtungen insgesamt deutlich angestiegen ist, ist aber der Anteil der Kinder aus Migrantenfamilien stark gesunken, und zwar von 21,1 Prozent auf knapp 17 Prozent.
Nach wie vor ist es den Trägern weitgehend überlassen, ob sie Sprachförderung betreiben oder nicht. Ein flächendeckendes Konzept für Hamburg und für die Kitas gibt es immer noch nicht.
Der Anteil dieser Kinder und Jugendlichen in den Hauptschulen ist nach wie vor sehr hoch. Auch hier ist eine Verschlechterung deutlich abzulesen. So ist die Zahl der Abgängerinnen und Abgänger ohne Hauptschulabschluss um 7 Prozent in diesem Vergleichszeitraum gestiegen und beträgt immer noch 23,2 Prozent. Das ist immer noch eine sehr hohe Zahl.
Das eigentlich Skandalöse ist aber das Aussortieren der Kinder und Jugendlichen in die Förderschulen. Hier ist ihr Anteil im Vergleichszeitraum noch weiter gestiegen und beträgt 40,5 Prozent. Das heißt, diese Kinder schlagen einen hoffnungslosen Bildungsweg ein. Und es kommt noch schlimmer. 90 Prozent – exakt sind das 89,9 Prozent – verlassen die Förderschulen ohne Hauptschulabschluss.
Diese Entwicklungen lassen uns Alarm schlagen und ich glaube, diese Entwicklungen zeigen, dass es hier so nicht weitergehen kann.
Das ist die Konsequenz aus dem selektiven Schulsystem, das immer weiter nach unten durchlässt und den Lehre
rinnen und Lehrern den Abschiebeweg gibt, statt konsequente Förderstrukturen zu entwickeln. Wir meinen, dass das weiterhin ein Skandal ist.
Ein anderer interessanter Aspekt, der sich aus der Großen Anfrage ergeben hat, ist, dass die Abbrecherquote bei den integrierten Systemen – ich weiß, das hören Sie hier nicht gern – deutlich geringer ist. So haben wir bei den integrierten Haupt- und Realschulen eine Abbrecherzahl von 17,1 Prozent. Demgegenüber steht eine Abbrecherquote bei den getrennten Haupt- und Realschulen von insgesamt knapp 26 Prozent. Das muss man sich einmal vor Augen führen.
Der Anteil der Kinder und Jugendlichen auf den Gymnasien ist erwartungsgemäß und traurigerweise nach wie vor sehr gering. Auch diese Zahl ist leider rückläufig. So ist sie im Vergleichszeitraum 2001/2002 zum Schuljahr 2003/2004 weiterhin zurückgegangen, und zwar von 12,2 Prozent auf 10,6 Prozent. Das einzig Erfreuliche in diesem Zusammenhang ist, dass hier die Abbrecherinnenquote mit 2,7 Prozent sehr gering ist. Ich glaube, das liegt daran, wenn die Kinder es trotz Benachteiligung und Bildungsbarrieren einmal geschafft haben, auf das Gymnasium zu kommen, dann machen sie auch das Abitur. Darwin scheint zu funktionieren, kann ich dazu nur sagen.
Im letzten Herbst wurde an der Hamburger Uni eine Befragung mit 200 Abiturienten mit Migrationshintergrund durchgeführt. Ein großer Teil von ihnen sind noch Studentinnen und Studenten, aber einige sind auch bereits im Berufsleben. Diese Befragung hat interessante Aspekte herausgearbeitet. Aber einen Aspekt finde ich besonders interessant und der hat sich sehr deutlich herauskristallisiert.
Meine Damen und Herren! Nur 8 Prozent der Befragten gaben an, über eine Gymnasialempfehlung Abitur gemacht zu haben. Das heißt also im Umkehrschluss, dass 92 Prozent der Abiturienten und Abiturientinnen mit Migrationshintergrund falsch eingeschätzt worden sind. Es stellt sich sehr berechtigt die Frage, inwieweit unsere Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer herkömmlichen Ausbildung tatsächlich in der Lage sind, die Potenziale dieser Kinder und Jugendlichen richtig einschätzen zu können.
Die Auswertung der Großen Anfrage zeigt aber auch im Zusammenhang mit dem Leitbild des Senats "Wachsende Stadt" – ich zitiere einmal einen Satz –,
"... ein integrationsfreundliches Klima zu schaffen und dies durch erfahrbare Aktivitäten zu untermauern",
Vor allem aber zeigt sich, dass Einzelmaßnahmen, also ein Sprachkurs hier und ein Förderprojekt da, ein nachhaltiges Integrationskonzept nicht ersetzen können.
Was aber ist nun zu tun, so weitermachen und hinnehmen, dass wir 40 Prozent unserer Kinder im Bildungssystem gegen die Wand fahren lassen? Wir sind verpflichtet, allen Kindern Rahmenbedingungen zu bieten, damit sie in Schule und Beruf erfolgreich sein können.
Dabei spielt natürlich die Beherrschung der deutschen Sprache eine ganz wichtige Rolle und sie ist Grundlage für den schulischen und beruflichen Erfolg, aber auch für gesellschaftliche und politische Partizipationen. Daher brauchen wir eine durchgehende und bildungsbegleitende Sprachförderung, die in der Kita beginnt und über die Vorschule, Schule und Berufsschule bis zur Weiterbildung reicht. Wir brauchen aber auch ein generelles Umdenken, und zwar weg von einer monolingualen und monokulturellen Orientierung hin zu einer Beachtung und Förderung der Mehrsprachigkeit und der Multikulturalität dieser Kinder, weil das ein ganz wichtiges individuelles Potenzial und gleichzeitig eine wichtige gesellschaftliche Ressource ist.
Wir leben in einer modernen, globalen Wissens- und Informationsgesellschaft und hier sind gerade Fähigkeiten wie Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenzen ein Wettbewerbsfaktor, ich will fast sagen, ein Standortvorteil und viele Unternehmen wissen das seit Jahren intelligent zu nutzen. BMW, Shell, Siemens setzen seit Jahren sehr erfolgreich im Bereich des Personalmanagements Diversitätsstrategien um. Das heißt, auch die Einstellungspolitik in Kita, Vorschule und Schule muss sich ändern. Hier muss sich die gesellschaftliche Realität auch widerspiegeln können. Zu einer interkulturellen Schülerinnenschaft gehört auch ein interkulturell lehrendes und erziehendes Personal, das natürlich auch eine wichtige Vorbildfunktion für diese Kinder hat.
Auch hier hat die Große Anfrage sehr deutlich gezeigt, dass der Anteil von Lehrerinnen und Lehrern und Erzieherinnen und Erziehern mit Migrationshintergrund verschwindend gering ist.
Letztlich muss auch die Aus- und Weiterbildung unserer Lehrkräfte überarbeitet und neu überdacht werden. Ich kann Ihnen ein Beispiel aus Kanada nennen. Es ist zwar eine sehr drastische Maßnahme, aber da müssen alle Lehrerinnen und Lehrer in einem Zeitraum von drei Jahren mindestens sechs Wochen Fortbildung machen und dabei ist das Thema Integration von Einwanderern ein wichtiges und verpflichtendes Thema. Wenn sie dem nicht nachkommen, druckt der Computer automatisch die Kündigung aus.
Es ist nicht zu akzeptieren, dass soziale und ethnische Herkunft über den Bildungserfolg und die Bildungschancen von Kindern entscheiden; das werden wir als Fraktion nicht hinnehmen.
Wir sind menschlich, aber auch volkswirtschaftlich gezwungen und in der Pflicht, diesen Kindern Rahmenbedingungen anzubieten, damit sie erfolgreich sein können. Für uns stellt sich die Frage, wie wir erklären und rechtfertigen können, warum wir letztendlich derart hohe Reparaturkosten aus Steuermitteln aufbringen müssen, um die Versäumnisse, Lücken und Probleme, die unser Bildungssystem produziert, zu kompensieren. Im Moment wird gerade im Bereich der beruflichen Bildung und der Qualifizierungen von Migrantinnen und Migranten viel Reparaturarbeit durch EU-Mittel geleistet. Die Anfrage hat ergeben, dass der Anteil 23,1 Prozent beträgt. Aber es ist
mit ziemlich großer Sicherheit davon auszugehen, dass dieser Anteil wegbrechen wird, weil in der nächsten Förderperiode der EU die neuen Beitrittsländer den Schwerpunkt bilden werden. Die Frage ist, wie sich Hamburg darauf vorbereiten wird.
Meine Damen und Herren! Der Senat vermarktet seine Schulpolitik positiv nach dem Motto: Wir sind einen Schritt weiter, das betont unsere Schulsenatorin in allen Zusammenhängen. Ich kann nur sagen, Sie hat Recht. Bildungspolitisch standen wir gestern vor dem Abgrund, mit ihrer Schulpolitik sind wir tatsächlich einen Schritt weiter.
Wir sind zwar ein Land der Dichter und Denker, aber bildungspolitisch und auch integrationspolitisch sind wir in Hamburg immer noch ein Entwicklungsland. Dies zu ändern muss aber absolute Priorität haben. Wir fordern den Senat auf, umgehend alles zu tun, um die Benachteiligungen der Kinder und Jugendlichen aus Migrantenfamilien abzubauen. Dazu bedarf es eines umfassenden Handlungskonzepts, das von der Kita, der Vorschule, der Schule bis zur beruflichen Bildung und Weiterbildung reicht. – Vielen Dank.
Meine Damen und Herren! Frau Güçlü, Zahlen sind natürlich etwas, mit dem man jonglieren kann und natürlich haben Sie sie auch "alarmistisch" interpretiert. Ich gebe zu, dass nicht alle Zahlen so schön sind, wie wir sie uns vielleicht in einigen Jahren wünschen. Aber wir müssen eines ganz klar machen: Wir sind heute im Jahr 2005 und die Zahlen, die wir dort lesen, sind schwerpunktmäßig noch einer Zeit zuzurechnen, in der es auch eine andere Regierung gab, nämlich eine rotgrüne Regierung.
Frau Güçlü hat in Ihrer Rede auch festgestellt, dass dieses Problem schon länger besteht. Sie sagt ja nicht, es sei erst seit 2001 so.
(Aydan Özoguz SPD: Das ist ja langsam lächer- lich! Was haben Sie denn in der Zwischenzeit ge- macht?)
Wir haben zumindest erkannt, dass man erst einmal Sprachstandserhebungen machen muss, dass man Kinder mit viereinhalb Jahren vorstellen muss. Und wir haben erkannt und arbeiten daran, dass die dort festgestellten Defizite auch möglichst verpflichtend weiter bearbeitet werden müssen. Ich gebe zu, dass wir daran noch arbeiten, seien Sie also nicht so ungeduldig. Wir werden nicht die Dinge von der Wiege bis zur Bahre als Gesamtkonzept vorstellen,
sondern zunächst einmal die Förderung der Kinder vor der Schule weiter verbessern und intensivieren. Wir haben Kindertagesheime, die zunehmend darauf ausgerichtet sind, sich auch mit Kindern auseinander zu setzen, die Sprachstandsschwierigkeiten haben. Wir haben Zahlen, die uns zum Teil auch nicht gefallen, aber wir müssen bei den Kindern gleich am Anfang ihrer Schulzeit mit guter
Sprache anfangen, damit erst gar nicht das Problem entsteht, dass sie nicht auf das Gymnasium kommen, weil sie vielleicht die Sprache nicht beherrschen. Es ist mir auch erzählt worden, dass in einigen Förderschulen durchaus Kinder sitzen, die da nicht hingehören, würden sie in ihrer Muttersprache sprechen. Nur, wir müssen natürlich alles daran setzen, dass sie hier deutsch sprechen.
Frau Güçlü, es wird kein Gesamtkonzept geben, sondern diese Regierung hat sich zu Recht vorgenommen, die Menschen dort abzuholen, wo sie individuell sind. Das heißt, das Geld wird nicht an eine Schule oder nach Zahlen mit der Gießkanne verteilt, sondern wir werden die Menschen nach ihren Fähigkeiten in verschiedene Systeme bringen. Hier sind wir noch nicht am Ende angekommen, aber es gibt einige Dinge, die wir Ihnen in Kürze zustellen werden.