Protocol of the Session on February 5, 2003

Nun aber zu den Extremfällen, um die es beim vorliegenden Antrag geht. Auch hier gibt es in der Tat besorgniserregende Entwicklungen, auch ich habe die Statistiken gelesen. Angeblich soll die Verschreibung von Ritalin in

den letzten sieben Jahren etwa um das Vierzehnfache gestiegen sein. Der Verdacht liegt in der Tat nahe, dass die chemische Keule menschliche Zuwendung ersetzen soll. Sicher wird es solche Fälle geben. Dennoch scheint mir eine solche Betrachtung zu kurz gegriffen. Es gibt einfach Kinder, die ohne medikamentöse Hilfe gar nicht mehr erreichbar sind. Das heißt, alle wohlgemeinten pädagogischen Methoden können das Kind nicht mehr erreichen. Das Kind muss erst mit Hilfe eines Medikaments so weit beruhigt werden, dass man mit der eigentlichen Therapie beginnen kann. Mit anderen Worten: Es ist ein Fehler, Ritalin zu tabuisieren. Es ist aber auch ein Fehler, einfach Ritalin zu verordnen, ohne die bestehenden sozialen und psychologischen Probleme des Kindes anzugehen. Deshalb kommt es nicht auf eine erbitterte Debatte für oder gegen Ritalin an, wie sie auch hier schon geführt wurde, vielmehr geht es darum, Ärzte, Lehrer und Eltern aufzuklären, wie man die genannten Syndrome behandeln kann. Dabei kann Ritalin in einigen Fällen eine Hilfe sein.

Frau Freudenberg, ich verstehe nicht ganz, warum Sie sagen, der Antrag sei inhaltsleer. Wir haben ganz konkrete Dinge hineingeschrieben. Wir wollen eine Aufklärungskampagne zur Enttabuisierung sowie bezirkliche Anlaufstellen. Ich kann mich entsinnen, dass in rotgrünen Anträgen bei allen Themen immer irgendwelche Anlaufstellen gefordert wurden; jetzt beantragen wir genau das. Ich kann Ihnen nur empfehlen, dem zuzustimmen. Das ist genau Ihre übliche Denkweise.

Schließlich dürfen wir bei allem Engagement für die Extremfälle nicht vergessen, dass auch viele andere Kinder unter mangelnder Aufmerksamkeit und Überforderung leiden, ohne dass sie gleich schlagzeilenträchtige Syndrome entwickeln. Auch diese Kinder verdienen unsere Aufmerksamkeit. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor.

Dann kommen wir zur Abstimmung, zunächst zum Überweisungsantrag. Wer stimmt einer Überweisung der Drucksache 17/2113 an den Schulausschuss zu? – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Letzteres war die Mehrheit. Der Überweisungsantrag ist bei einigen Enthaltungen mehrheitlich abgelehnt.

Der angekündigte Antrag wird nun nicht mehr kommen, dann lasse ich in der Sache abstimmen. Wer möchte den Antrag aus der Drucksache 17/2113 beschließen? – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Dieses ist mit großer Mehrheit so beschlossen.

Nunmehr gebe ich das Abstimmungsergebnis zur Wahl eines Deputierten der Justizbehörde bekannt. Es wurden 110 Stimmzettel abgegeben, alle gültig. Auf Herrn Philipp Djanani entfielen 83 Ja-Stimmen bei 18 Nein-Stimmen und 9 Enthaltungen. Damit ist er gewählt worden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf, Drucksache 17/2040: Bericht des Eingabenausschusses.

[Bericht des Eingabenausschusses: Eingaben – Drucksache 17/2040 –]

Wird das Wort gewünscht? – Die Abgeordnete Möller wünscht es und hat es.

(Dr. Dorothee Freudenberg GAL)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die spannendste Frage bei diesem Tagesordnungspunkt ist immer noch die, die wir uns schon vor vielen Wochen gestellt haben: Warum hat die Regierungskoalition eigentlich die öffentliche Befassung mit dem Antrag der SPD verhindert?

Auch nach zwei nichtöffentlichen Sitzungen des Eingabenausschusses und der Vorlage dieses Extraktes daraus, also des Berichts des Eingabenausschusses, erschließt sich mir die Antwort überhaupt nicht. Vielleicht lässt sich diese Frage heute hier klären.

Zur Erinnerung noch einmal ein kurzer Rückblick. In einem Fünf-Minuten-Beitrag habe ich im November letzten Jahres die völlig überzogene nächtliche Abholung einer ausreisepflichtigen Familie mit fünf Kindern thematisiert. Listigerweise war ihnen am Vormittag noch eine vierwöchige Duldung ausgesprochen worden. Die Regierungskoalition wird sich sicherlich noch an ihre denkwürdige, aber nicht sonderlich ruhmreiche Reaktion hier erinnern. Wir hatten eine Sitzungsunterbrechung und Ähnliches. Der Senat wurde dann letztendlich durch einen Antrag der CDU zur Berichterstattung im Eingabenausschuss aufgefordert, nichtöffentlich selbstverständlich, denn es ging hier ja um einen Einzelfall. Die Persönlichkeitsrechte waren so schon mühsam genug zu schützen.

Nun gab es Ende November einen Antrag der SPD mit dem Ersuchen an den Senat, seine Abschiebepraxis in zwei Punkten zu ändern, ein ganz normaler bürgerschaftlicher Antrag an den Senat. Dieser Antrag wurde an den Eingabenausschuss überwiesen mit dem Ziel, dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit beraten zu werden. Nachdem formale Argumente einschließlich rechtlicher Nachfragen und Überprüfungen schließlich aus Sicht der Regierungskoalition nicht stichhaltig waren, denn letztendlich sind nur Eingaben nichtöffentlich zu behandeln und alle anderen Anträge selbstverständlich nicht, wurde mit Mehrheit durchgesetzt, dass auch dieser nichtöffentlich behandelt wurde.

Meine Damen und Herren! Die öffentliche Debatte in dieser Stadt über die hemmungslose Abschiebepolitik unter Senator Schill findet allerdings längst in der Öffentlichkeit statt. Flüchtlingsorganisationen und Kirchen thematisieren zum Beispiel älter gemachte Jugendliche oder den Generalverdacht gegenüber den Amtsärzten und Amtsärztinnen oder auch den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, gerne auch mal gegenüber den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, das Nichtanerkennen von Attesten und anderes. Der UNHCR ist inzwischen auf den hamburgischen Umgang mit Flüchtlingen aufmerksam geworden. In diesem Parlament wollen Abgeordnete Transparenz und öffentliche Debatten verhindern. Die Idee der Demokratie scheint mir nicht verstanden. Der jetzt vorliegende Bericht zeigt deutlich auf, wie willkürlich die Ausländerbehörde bei Abschiebungen handelt. Kriterien für die Durchführung von Abschiebungen gibt es zum Beispiel nicht. Die Entscheidung liegt im Ermessen des Entscheidungsbefugten, so nachzulesen im Bericht.

Nehmen wir noch einmal dieses kleine interessante Beispiel: Die Familie mit fünf Kindern hat um 1.30 Uhr nachts zwei Stunden Zeit zum Packen. Die FDP – auch das kann man im Bericht nachlesen – findet, eine ausreichende Vorbereitungszeit vor der Abschiebung habe einen höheren Stellenwert als die Tageszeit der Abschiebung. Sind zwei Stunden okay? Diese Liberalität ist unerträglich.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Damit wir uns hier nicht falsch verstehen: Frühmorgendliche Abholungen gab es auch unter Rotgrün.

(Elke Thomas CDU: Genau!)

Es ist gut, dass sich die CDU daran erinnert. Aber all Ihre Forderungen nach Transparenz, meine Damen und Herren von der CDU, scheinen Sie völlig vergessen zu haben.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Für uns ist es natürlich erfreulich, dass die SPD einen Verzicht auf die behördliche Begleitung von Familien zur Nachtzeit und eine Anweisung an die Ausländerbehörde, keine längeren Duldungen zum Zweck der Täuschung über die tatsächlich unmittelbar bevorstehende Abschiebung eingereicht hat. Das ist positiv zu vermerken, wir behalten das im Kopf. Erreicht wurde jedoch etwas ganz anderes. Die Abschiebetechnik der Behörde stellte sich in seiner ganzen Undurchsichtigkeit und Willkür dar. Einmal wird erklärt – auch wieder nachzulesen –, ausschlaggebend für die Abholung in der Nacht sei ausschließlich die Abflugzeit in Verbindung mit ausreichender Zeit zum Packen; da haben wir wieder diesen liberalen Ansatz. Auf die Nachfrage der GAL folgt dann allerdings die Antwort, eine Begleitung erfolge nur bei der begründeten Annahme, dass sich die Betroffenen der Abschiebung entziehen würden. Was denn nun, Uhrzeit oder irgendwelche begründeten Annahmen?

(Elke Thomas CDU: Also das ist doch... Da haben wir so lange drüber diskutiert!)

Duldungen – lesen Sie es nach – werden genauso beliebig ohne Kriterien, ohne Vorgaben für wenige Tage oder vier Wochen ausgestellt, auch wenn der Abschiebetermin selbstverständlich ist. Der Grundsatz von Treu und Glauben, das verlässliche Handeln einer Behörde soll für Ausreisepflichtige nicht gelten. Wer gegen das Ausländerrecht verstößt, hat faire Behandlung verwirkt; das ist ein unerträglicher Zustand.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Die Vertreter der PRO-Fraktion weisen die Täuschungsabsicht, die im SPD-Antrag formuliert ist, zurück. Aber was ist das denn sonst, wenn nicht Täuschung, wenn so getan wird, als ob es noch keinen Termin gebe und man einer siebenköpfigen Familie vier Wochen Duldung gibt?

Die Umsetzung des Ausländerrechts, die Abschiebepraxis in dieser Stadt, der Umgang mit einer Minderheit in dieser Stadt gehört nicht in interne Sitzungen. Dies muss hier und an möglichst vielen Orten dieser Stadt hinterfragt werden, laut und öffentlich und deutlich kritisiert und letztendlich korrigiert werden. Das unwürdige Verhalten der Behörde gegenüber den Flüchtlingen muss ein Ende haben.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Polle. Ich bitte auch am Präsidiumstisch um Aufmerksamkeit für den jeweiligen Redner.

(Glocke)

Herr Abgeordneter, einen Moment, bitte. Die Aufmerksamkeit ist zu wenig geteilt worden. – Danke schön. Nun haben Sie das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Rücksichtnahme auf besonders schutzwürdige Belange von Kindern bei Abschiebungen scheint es in Hamburg

nicht mehr zu geben. Das jedenfalls ist unser Resümee aus dem Ihnen vorliegenden Bericht des Eingabenausschusses.

Abschiebungen bei Nacht und Nebel werden auch in der Zukunft stattfinden.

(Vizepräsident Peter Paul Müller übernimmt den Vorsitz.)

Die Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 10. Oktober 2000 scheint nicht mehr zu gelten. Dort heißt es:

„Die gesetzlichen Vorgaben, wonach zur Nachtzeit... Vollstreckungsmaßnahmen grundsätzlich nicht durchgeführt werden, werden beachtet...“

Das Ganze fußt auf Paragraph 10 Verwaltungsvollstreckungsgesetz. Nun könnten Sie immer sagen, juristisch sei alles in Ordnung. Da stimmen wir Ihnen zu. Aber politisch und humanitär war das eine Missachtung der elementaren Bedürfnisse von Kindern.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Was hat ein Vorgehen dieser Art eigentlich für Auswirkungen auf die Nachtruhe zum Beispiel auch der Mitbewohner in einem Mietshaus, wenn zehn beamtete Staatsdiener die Treppen hoch poltern und die Familie um halb zwei Uhr nachts aus dem Schlaf wecken?

(Burkhardt Müller-Sönksen FDP: Wie reden Sie eigentlich über Polizeibeamte? und Zurufe von der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Es waren zehn beamtete Staatsdiener, es waren nicht nur Polizeibeamte, es waren auch noch andere Personen dabei. Das wissen Sie auch.

(Burkhardt Müller-Sönksen FDP: Waren Sie dabei?)

Nun können Sie natürlich im Bericht nachlesen, dass nur in etwa 1 Prozent aller Fälle Personen nachts aus der Ruhe geholt werden, um abgeschoben zu werden. In der Tat ist das wenig und wenn wir das noch auf Familien mit Kindern beziehen, ist das noch weniger. Aber für die Betroffenen ist das überhaupt kein Trost.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Wir meinen, dass hier konsequentes Handeln, das wir auch unterstützen, in Brutalität umkippt.