Protocol of the Session on May 8, 2002

Meine Damen und Herren, ich komme zum Brennpunkt Schule, zum Tatort Schule. Jeder dritte Schüler ist bewaffnet, Opfer sind Mitschüler, vor allem die jüngeren und schwachen. Erpressungen, Abziehen von Geld, Kleidung oder Handys und Wertgegenständen, massive Bedrohungen, oft über Monate hinweg, sind vielfach fester Bestandteil des Schulalltags geworden und lassen den Opfern Schulweg, Pausen und Freizeit zur Qual geraten. Häufig werden sie gegen ihren Willen selbst zur Begehung von Straftaten verleitet, um die unerbittlichen Schutzgeldforderungen ihrer Mitschüler erfüllen zu können.

Aus dem eher harmlosen Kräftemessen, wie noch vor wenigen Jahrzehnten üblich, sind Gewaltexzesse von äußerster Brutalität geworden. Das soll heißen, eine Verrohung der Sitten, ein Verlust von Regeln, Anstand und Grenzen haben Einzug in die Bildungsanstalt Schule gehalten und sind vielfach und vielerorts Schulalltag für Mitschüler und Pädagogen.

Mitverantwortlich dafür sind Eltern, die glauben, mit der Geburt der Kinder hätten sie die Aufgabe für die Gesellschaft erfüllt,

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und vereinzelt bei der CDU)

indem sie ihren Erziehungsauftrag an die Handy-, Videound Computerspielindustrie und an 28 Kanäle der Fernsehanstalten abgegeben haben sowie Pädagogen, die wegsehen, aber auch nicht hinsehen.

Festung Schule: Flächendeckende Videoüberwachung in Klassen- und Lehrerzimmern, in Gängen, auf Toiletten und im Pausenhof bis in den letzten Winkel, private Sicherheitskräfte, Schleusen und Metalldetektoren zum Aufspüren von Waffen oder gar bewaffnete und in Kampfsportarten geschulte Pädagogen, meine Damen und Herren, das kann es nicht sein. Ziel sind gewaltfreie Schulen und ein generelles Waffenverbot in den Schulen, aber auch verdachtsunabhängige Kontrollen vor und in den Schulen.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Da jeder dritte Schüler bewaffnet ist, sind Kontrollen unumgänglich. Schulische Hausordnungen oder andere Ordnungen sowie Waffenverbote festzulegen, können Sie in der Tat knicken, wenn keine wirksamen Kontrollen stattfinden.

Dass Kinder und Jugendliche Stich-, Hieb- und Schlagwaffen sowie Gas- und Schreckschusspistolen, aber auch Reizgas mit in die Schule nehmen können, dem muss ohne Wenn und Aber ein rechtsverbindlicher Riegel vorgeschoben werden. In England sollen 60 bis 70 besonders gefährdete Schulen unter Polizeischutz gestellt werden. Zudem gilt für Jugendliche unter 15 Jahren in Teilen Großbritanniens bereits eine Ausgangssperre in der Zeit von 21 Uhr bis 6 Uhr morgens.

Wenn wir als Ultima Ratio so reagieren müssen, um Gewalt von und an Kindern und Jugendlichen, von und an Schülern entgegenzuwirken, dann gute Nacht Deutschland, gute Nacht Hamburg.

(Michael Neumann SPD: Gute Nacht, Herr Bauer!)

Mit einer Verschärfung des Waffenrechts müssen wir ein Zeichen setzen, damit diese Gesellschaft Schusswaffen und entsprechende Stichwaffen ächtet, indem deren lega

(Thomas Böwer SPD)

A C

B D

ler Besitz rigoros eingedämmt und die illegale Beschaffung und der Besitz konsequent härter geahndet werden.

(Dr. Andrea Hilgers SPD: Bundesweit!)

Meine Damen und Herren, es gibt Gewalt, Aggression und Hass, auch nach Erfurt. Das darf uns nicht mutlos machen. Wir müssen uns Konflikten stellen. Die Verrohung der Gesellschaft, Egoismus, die Jagd nach dem Geld, der Kampf um den Aufstieg im Beruf, das wird sich nicht ändern, vielleicht wird es ein Stück menschlicher. Jeder ist gefragt und muss bei sich selbst beginnen.

(Glocke)

Herr Bauer, Sie müssen zum Schluss kommen.

Die Toten von Erfurt sind Mahnung und Hoffnung. – Danke schön.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Das Wort hat Herr Dr. Maier.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Bauer, ich glaube, Sie machen einen systematischen Fehler, wenn Sie kritisieren, dass sich die Leute jetzt weniger für die Opfer als für die Täter interessieren. Man interessiert sich doch für das, was man sich nicht gut erklären kann. Wir stellen uns die Frage, wie ein Täter zu dieser Tat kommt. Schiller hat nicht die Erzählung „Die Opfer des Sonnenwirts“, sondern „Ein Verbrecher aus verlorener Ehre“ geschrieben. Das ist das Thema und der Gesichtspunkt, um den es geht.

Unter den vielen öffentlichen Beiträgen, die ich gehört und gelesen habe, waren zwei Stimmen, die ich am beeindruckendsten fand. Zum einen ein Artikel von Wilhelm Heitmeyer in der „Zeit“, der in der Frage mündet: „Woher bekommen junge Menschen, die nicht mithalten können, ihre Anerkennung?“

Das ist offenkundig das Problem. Hier ist jemand explodiert, der immer weiter in seine Einsamkeit hineingetrieben worden ist und der zwei Botschaften empfangen hat: Einerseits von der Schule: Humanität, Gewaltlosigkeit et cetera und aus der Gesellschaft gleichzeitig den Ruf nach Leistung, Selbstdurchsetzung und Aufstieg. Er stand plötzlich vor dem Nichts und hat sich nicht getraut, mit jemandem darüber zu kommunizieren, und ist auf eine grausame Weise explodiert. Ich meine, wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir nicht nur die Explosion verhindern, sondern diese Aufladung minimieren können.

Die zweite Stimme, die ich eindrucksvoll fand, war die von Sibylle Tönnies in der „Frankfurter Allgemeinen“. Sie stellte fest, dass Lehrer die ersten sind, die schon dem Kind das Messer zeigen, das die Gesellschaft trennt, nämlich die Gesellschaft der Abiturienten, der Leute mit Karriereaussichten und gesellschaftlich höherrangig Dazugehörigen und der zwei Drittel, die kein Abitur haben und die das als einen Makel empfinden. Dieser Junge hat das offenkundig ganz massiv so wahrgenommen und ist auch in seiner Umgebung darin gefestigt worden.

In einer solchen Situation blickt man auch auf die Geschichte zurück: Wir kennen aus der Literatur die Wahrnehmung von der Selbstaggression, dem Scheitern der

Schüler, von Hermann Hesses „Unter dem Rat“ bis Musils „Zögling Törleß“, den Selbstmord. Noch heute verüben mehr Jugendliche Aggressionen gegen sich selbst und bringen sich eher um, weil sie eine Leistung in der Schule nicht bringen oder weil sie vor der Karriere versagen, als dass sie nach außen explodieren. Es verändert sich aber tatsächlich etwas. Die jüngere Generation wird extrovertierter und die Selbstaggression nimmt an Bedeutung ab. Wenn das so ist, beseitigen wir es nicht dadurch, dass wir all die sinnvollen Dinge gegen Gewalt und Waffen unternehmen – dafür bin ich auch –, sondern die eigentliche Frage wird lauten: Wie bekommen wir es hin, dass junge Leute, die an der Karriere zu scheitern drohen, trotzdem Anerkennung gewinnen können und auch Aussicht darauf haben. Ich glaube auch nicht, Herr Böwer, dass es eine Perspektive wäre, die ganze Gesellschaft als Mädchen zu erziehen, denn es gibt nun mal Jungen und Mädchen auf der Welt.

(Michael Neumann SPD: Gott sei Dank!)

Jungen sind eben spontan ein Stück aggressiver. Das ist aber nicht das Problem – das sind sie schon sehr lange –, solange das Verlaufsformen findet, die gesellschaftlich integrierbar sind. Sie können nicht alle zur Magersucht erziehen; das kann doch nicht das Thema sein.

(Vereinzelter Beifall bei der GAL, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive – Karl-Heinz Ehlers CDU: Das ist eine erstaunliche Erkenntnis, Herr Maier!)

Wir haben uns früher natürlich auch geprügelt und dabei aber eine Form der Aggression gegeneinander ausgebildet, die reguliert war. Gegenwärtig läuft sie aber auseinander und darin steckt das Problem.

Das größere Problem aber ist, wie wir den riesigen Karrieredruck ein Stück aus den Schulen herausnehmen können, damit es nicht immer wieder explodiert, und zwar insbesondere bei einer jungen Generation, die nicht mehr so autoaggressiv gezügelt ist, wie es noch vor dreißig, vierzig Jahren der Fall war. Ich meine, dass es nicht nur eine Gewaltdiskussion ist, die wir führen müssen, sondern wir müssen darüber reden, wie die Menschen, die innerhalb der Gesellschaft schlechter wegkommen, eine anerkannte Rolle schon innerhalb des Schulsystems bekommen können. Wir müssen diesen unglaublichen Aussiebungsmechanismus verändern, Chancen geben und vor allen Dingen auch darauf setzen.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort hat Herr Schrader.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Nach einem solchen Vorkommen ist es in der ersten Zeit normal und verständlich, dass auch in der Öffentlichkeit und vonseiten der Politik Reaktionen emotional erfolgen. Das ist vielleicht auch richtig so. Aber nachdem einige Tage vergangen sind, ist es auch an der Zeit, wieder mit der notwendigen Besonnenheit über anstehende Maßnahmen und Entscheidungen zu befinden.

Ich habe es als richtig empfunden, dass in der ersten Runde der Aktuellen Stunde die Bildungspolitiker aller Fraktionen das Wort hatten. Der Gewalt wird zuallererst bei der Erziehung in der Familie vorgebeugt und danach in der Schule. Das ist ein gedanklicher Schritt, den die Bildungs

(Frank-Michael Bauer Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

politik wieder verstärkt einbinden muss. Wie gelingt es uns, Alarmsysteme in den Schulen, die heute vielfach den ersten Zugang zu Problemfällen haben, so auszudehnen, dass die Familien in die Vorbeugung mit eingebunden werden, ehe etwas so grausam schief geht, wie es hier offenbar passiert ist?

Allmählich sprechen die Innenpolitiker. Sie müssen sich mit der Frage befassen, wie in solchen Fällen, in denen schon viel schief gegangen ist, noch ein großes Maß an Sicherheit gewährleistet werden kann.

Ein zentraler Fehler – den nach meiner Meinung in der Vergangenheit alle Parteien gemacht haben – ist die an sich richtige These, dass eine Gefahr nur von illegalen Waffen ausgeht, sie aber so einzuschränken, dass die Gefahren der legalen Waffen weitgehend negiert werden. Es ist schon sehr merkwürdig, dass wir jetzt über eine Forderung nachdenken, verdachtsunabhängige Kontrollen vor Schulen als Lösung zu sehen.

Wir haben nicht nur in Schulen ein Problem mit offensichtlich in falsche Hände geratenen legalen Waffen, sondern allerorts und auch in jeder denkbaren Entfernung von Schulen. Die Diskussion auf Schulen und Schüler zu verengen und den Schlag hineinzubringen, dass an Schulen Horte der Gewalt vorherrschen, halte ich für falsch und diesem Vorgang in keiner Weise angemessen.

(Beifall im ganzen Hause)

Es erscheint mir auch merkwürdig – ich weiß nicht, wie ich das vermitteln soll –, dass wir darüber diskutieren, legale Waffen einer Altersbeschränkung zu unterwerfen. Herr Woestmeyer hat vorhin schon ausgeführt, dass es nicht darauf ankommt, wie alt ein Täter ist, wenn er mit einer legal in seinem Besitz befindlichen Waffe durchdreht, sondern wie wir insgesamt den legalen Waffenmarkt so reglementieren, dass man ihn überblicken kann.

(Erster Vizepräsident Berndt Röder übernimmt den Vorsitz.)

Es erscheint mir auch nicht vermittelbar, wie wir legale Waffen in den Handel geben können, ohne dass diese an irgendeiner Stelle registriert sind. Deswegen muss sich nach meiner Meinung eine Novellierung des Waffenrechts zuvorderst auch mit der Frage eines zentralen Waffenregisters für Jagd- und Sportwaffen – sofern man sie noch zulassen will – befassen. Denn wir müssen das Vollzugsdefizit, das wir auch in diesem Fall wieder erkennen mussten, in den Griff bekommen.

Die Waffen und 500 Schuss Munition waren legal erworben worden. Selbst wenn das nicht in legaler Form passiert wäre, hätte es niemand kontrollieren und verhindern können. Das stelle ich nicht vor Ort an beliebigen Stellen durch verdachtsunabhängige Kontrollen sicher, sondern dadurch, dass ich die Handelswege überblicken kann.

Die Novellierung des Waffengesetzes steht nun sicherlich ein weiteres Mal an; es wird dazu auch eine Bundesratsbeteiligung geben. Ich bin sicher, dass auch Hamburg über die Innenbehörde im Bundesrat entsprechend dazu beitragen wird, dass wir an dieser kleinen zur Verfügung stehenden Schraube mögliche Lücken schließen können. Die Aufgaben für die Bildungs- und Jugendpolitiker ist viel größer und wird uns hier sicherlich noch häufiger beschäftigen. – Danke.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Vahldieck.