Daß Sie sich trotz dieser Schwierigkeiten auf den Weg gemacht haben, verdient unsere Bewunderung. Für Ihre Antwort auf diese Erfahrung in den Themen und in den Tönen sind wir Ihnen dankbar.
„Literatur und Politik in Deutschland, die Geschichte ihres Verhältnisses zeugt von Distanz und Mißachtung, von Argwohn und Vorbehalt“,
sagen Sie in Ihrem Essay über das Lächeln der Macht. Sie selbst haben sich dadurch nie besonders beeindrucken lassen, sondern sich immer wieder politisch geäußert und engagiert.
Ihre Sympathie für und mit Israel, Ihre Werbung für die Aussöhnung mit Polen – beispielhaft symbolisiert durch die Teilnahme an der Reise mit Willy Brandt, worauf der Bürgermeister auch schon hingewiesen hat – sind Beispiele für diese Einmischung. Wobei Sie sich, glaube ich – ich weiß es nicht, aber ich vermute es –, über die realen Möglichkeiten von Literatur eine sehr eigene Meinung gebildet haben. Denn Sie sagen:
„Literatur verändert nicht die Realität, aber unser Verhältnis zur Welt, die Art, wie wir sie sehen, die Urteile, die wir über sie fällen, die Erlebnisbereitschaft, die wir für sie aufbringen.“
Und natürlich gehört in diesen Zusammenhang Ihr berühmtes Wort vom Schriftsteller als Ein-Mann-Partei. Mitgliedsbeiträge, Satzungsdiskussionen, Wahlkampfkosten-Rückerstattung hat diese Partei nicht zu erwarten, aber Anhänger, Freunde, Gleichgesinnte und vor allem Leser. Diese Zahl reicht allemal, um jede Sperrklausel zu überwinden, und der geistige Einfluß reicht sowieso weit darüber hinaus.
Dieser Einfluß ergibt sich auch vor allem durch die Institution Schule; ergibt sich für die nachwachsende Generation, denn Sie sind unverändert seit vielen Jahrzehnten einer unserer meistgelesenen Autoren, der nicht nur mit der „Deutschstunde“ manche gleichnamige Veranstaltung zur gedanklichen Auseinandersetzung, Diskussion, Kritik und allerlei Interpretationsübungen geführt hat.
Beim letzten Stichwort mag man mir eine kleine persönliche Anmerkung in dieser Laudatio nachsehen; hätte ich mir doch durch eine ebenso vollständige wie unverzeihliche, aber mit großer jugendlicher Vehemenz vertretene Fehlinterpretation Ihrer kleinen Geschichte „Die Lieblingsspeise der Hyänen“ fast die Deutschnote im Abitur ruiniert.
Nun haben wir als Parlament ja doppelt Glück. Wir müssen keine politische Ehrung vornehmen. Das würde ja auch vielleicht manchen Zank und Streit herbeiführen. Und wir müssen als Parlament – Gott sei Dank – auch keinen Literaturpreis vergeben. 121 kleine Reich-Ranickis suchen einen Autor. Das würde schön etwas abgeben. Nein, es geht um das Ehrenbürgerrecht der Freien und Hansestadt Hamburg.
Also blättern wir – ich bin der erste, ich habe Glück, meine Zitate kommen zuerst – kurz in dem Text „Leute von Hamburg“. Wir finden dort den Satz:
Da erhebt sich natürlich sofort die Frage aller Fragen, ohne die jeder Deutschunterricht seit Jahrhunderten Bankrott anmelden müßte. Was will uns der Dichter damit sagen?
Bevor wir uns erneut der Gefahr von Fehlinterpretation aussetzen, lassen wir ihn lieber selbst zu Wort kommen:
„Hamburg ist eine wirkliche Stadt mit wirklichen Leuten, die sich überwiegend rollengerecht verhalten.“
„durch schöne Reserve und merkantilen Biedersinn, durch blonde Korrektheit und eine flügellose Vernunft.“
„Hamburg beweist, daß die Lektüre einer Bilanz ähnliche Wonnen gewähren kann wie ein Shakespeare-Sonett.“
Ich wage den zaghaften Zwischenruf – empirisch völlig unabgestützt, deshalb als Frage –, ob Hamburger Kaufleute
„Das Hamburgische sei die Kunst, die Welt am Lieferanteneingang zu empfangen und ihr das Gefühl zu geben, dies sei die größte Auszeichnung, die man hier zu vergeben hat.“
Aber Sie haben auch ein forderndes Verhältnis zu Ihrer zweiten Heimat. So, als Sie vor 40 Jahren schon unsere Schutzgöttin Hammonia angerufen haben:
„Oh, lasse es werden, daß wir uns ein bißchen aufregen können, erschrecken und protestieren, Hammonia; wir wollen nicht rasen um des Rasens willen, wir wollen, dir zuliebe, auch weiterhin Bürger bleiben, aber gib uns ein bißchen Leidenschaft. Laß uns nicht immer schicklich ins Leere dösen. Bravheit mit Gleichgültigkeit verwechseln; gib uns die Leidenschaft des Versuchens, des Antwortens und des Daseins.“
Ich glaube, daran hat sich seit dem Jahr 1961 doch manches verändert! Und Sie haben mit Ihrer Persönlichkeit und mit Ihrem Werk entscheidenden Anteil daran.
Schließen wir den Kreis am Schluß vom international anerkannten Schriftsteller zu Ihrer kleinen Straße in Othmarschen, der Sie bescheinigen – vielleicht auch charakteristisch –, daß es dort weder Paraden noch Barrikaden jemals geben werde, und zu der Sie dann sagen:
Und das Fazit ist doch jetzt ganz klar: Wer sich so äußert, der ist mittlerweile selbst ein Hamburger geworden, der sich für einen Hamburger hält.
Und uns bereitet es am Schluß ein stilles, händereibendes Vergnügen, Sie in einem Punkt am heutigen Tage doch zu widerlegen, denn das höchste an Auszeichnung sowieso und auch an räumlicher Auszeichnung, was wir zu bieten haben, ist eben doch nicht der Lieferanteneingang, sondern sind Plenarsaal der Bürgerschaft und großer Festsaal, und das ist in Ihrem Fall auch genau richtig so.
Wir sind stolz auf unseren neuen Ehrenbürger! Wir gratulieren Ihnen und wünschen Ihnen persönlich weiterhin alles Gute.
Frau Präsidentin, verehrter Herr Lenz, meine Damen und Herren! Natürlich ist solch eine Verleihung der Ehrenbürgerschaft eine große Stunde eines Parlamentes, das sehr viel Formerfordernis hat und mit sich bringt, aber natürlich ist so etwas auch nicht ohne Emotionen und persönliche Gedanken ausgestattet. Als mich der Bürgermeister über den Plan informierte, daß der Senat diesen Antrag stellen wollte, hatte ich drei erste Impulse. Vermutlich einmal den gleichen, den wir alle haben, nämlich Stolz und Freude, diese Ehrenbürgerschaft verleihen zu können. Das zweite – gebe ich zu – war die Frage an den Bürgermeister: „Mein Gott, wohnt der in Hamburg?“
Das spricht aber eher gegen mich und für Ihre Bescheidenheit, Herr Lenz, daß ich das nicht gewußt habe. Das dritte ist, da verbinden mich diese Emotionen und ersten Eindrücke mit dem, was mein Vorredner ausgesprochen hat: Stolz und Freude auf der einen Seite, aber auch – ich gebe es zu – mit Gedanken an die Schulsituation, der man auf der anderen Seite ausgesetzt war. Von beiden ist schon gesagt worden, daß Sie wohl der meistgelesene Autor in deutschen Schulen seien, und so etwas hinterläßt verschiedene Eindrücke.
Ich erinnere mich mit gemäßigter Freude daran, daß selbst die humorvollen, unterhaltsamen Geschichten aus „So zärtlich war Suleyken“ Grund genug für den Deutschlehrer waren, immer zu fragen: Was hat er wohl – unabhängig von Humor und Komik – damit sagen wollen? Und es wurde regelrecht die Komik ausgetrieben mit endlosen Besinnungsaufsätzen über diese ja sehr persönlichen Anekdoten, humorvollen und komischen Geschichten. Das sind aber Dinge der persönlichen Erfahrung, die vermutlich die meisten von uns haben, die in der Schulzeit – im nachhinein glücklicherweise – auf sie gestoßen sind.
Lassen Sie mich mit einem Zitat eines anderen Literaten – unabhängig von den persönlichen Emotionen – Ihre Bedeutung beschreiben.
„Meine Erkundungsreise im Dezember 1957 begann in Hamburg. Jemand hatte den Norddeutschen Rundfunk darauf aufmerksam gemacht, daß es sich vielleicht lohne, ein ausführliches Interview mit mir zu machen. Das war mir sehr recht, denn der in Warschau genehmigte Betrag in Westmark reichte für kaum mehr als für Übernachtungen in billigen Hotels. Vor dem Haus des Senders, wo ich warten sollte, kam ein Mann auf mich zu, sehr jung, sehr blond und etwas schüchtern. Er sollte mich interviewen. Ob so ein Anfänger es einigermaßen schaffen würde? Es zeigte sich sehr rasch: Er machte es routiniert und vorzüglich.“
Meine Damen und Herren, daß dieser Mann 44 Jahre später – dieser damalige Anfänger – Ehrenbürger Hamburgs werden würde, ahnte Marcel Reich-Ranicki vermutlich nicht, der diese Zeilen im vergangenen Jahr zu Papier brachte.
Siegfried Lenz ist ein großer Literat – das wissen wir alle –, aber es ist nicht immer das untrügliche Zeichen großer Literaten, auch von vielen gelesen zu werden. Das Vergnügen machen Sie vielen, denn ihre hohe Auflage ist nicht nur etwas, das sich in Bestseller-Listen niederschlägt, Ihre Werke werden nicht nur gekauft, nicht nur zu Weihnachten verschenkt, nicht nur in Leder gebunden ins Bücherregal gestellt, sondern sie werden auch gelesen, und das zeichnet einen großen und auch populären Literaten aus, und das ist gut so, meine Damen und Herren. In Ihren Büchern kommt – neben Ihrer masurischen Heimat – immer wieder Hamburg vor. Hier leben Sie – wie ich es jetzt auch gelernt habe – seit Ende des Krieges, und mit den ersten Seiten aus dem „Vorbild“ in der Hand käme ein Ortsfremder, zumindest im Inneren der Stadt, sogar ohne Stadtplan aus, wenn er sich an diese ersten Seiten Ihres Romanes halten würde.
So ganz nebenbei beschreiben Sie schöne Seiten der Stadt, typische Seiten der Menschen, aber auch Umstände, die die Menschen, die hier leben und arbeiten, seit Jahren und Jahrzehnten bewegt haben und immer noch bewegen.
„Seit zwanzig Minuten fahre sie um den Hauptbahnhof herum, immer in derselben Richtung, sie habe es sich abgewöhnt, hier nach einem Parkplatz zu suchen.“