Protocol of the Session on November 30, 2016

Es gab auch die dunklen Kapitel in dieser 70-jährigen hessischen Geschichte, z. B. mit dem Terror der RAF insbesondere in den Siebziger-, aber auch noch in den Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre. Mit den Anschlägen auf das Frankfurter Kaufhaus Schneider im April 1968, Bombenanschlägen auf das Frankfurter Hauptquartier der US-Armee, der Ermordung Jürgen Pontos in Oberursel, der Ermordung Heinz-Herbert Karrys, zu der sich später die sogenannten Revolutionären Zellen bekannten, und nicht zuletzt auch mit dem tödlichen Bombenattentat auf Alfred Herrhausen ist eine Terrorwelle über unser Land gegangen, die ebenfalls an heutige Zeiten erinnert und nicht vergessen werden darf.

Nicht vergessen werden darf, dass seinerzeit, 1977, der eben schon zitierte Landtagspräsident Dr. Hans Wagner erklärte, dass der Staat seine volle Handlungsfähigkeit zeigen, aber auch besonnen reagieren müsse, insbesondere mit Blick auf das damals noch ungeklärte Schicksal von Hanns Martin Schleyer.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen auch heute noch vor der Herausforderung von Terrorismus. Wir werden als Gesellschaft, aber auch als Staat klare Antworten auf diese Herausforderungen geben müssen.

Ein sehr spannendes Kapitel war der Ausbau des Frankfurter Flughafens mit der Startbahn West und dem traurigen Höhepunkt am 2. November 1987, als zwei hessische Polizeibeamte, Klaus Eichhöfer und Thorsten Schwalm, ums Leben kamen. Es waren die Auseinandersetzungen um den Frankfurter Flughafen, die damals deutlich gemacht haben, dass auch Worte zunächst dazu geeignet sein können, Gewalt und Exzesse hervorzurufen. Ich zitiere den damaligen Ministerpräsidenten Holger Börner, der in einer Rede schon zu sehr früher Zeit, 1981, gesagt hat:

Wer monatelang mit hetzerischen Formulierungen und skandalösen Begriffsverdrehungen wie „Staatsstreich“, „Verfassungsbruch“ und anderen die rechtsstaatlichen Entscheidungen abwertet und den Polizeieinsatz als staatlichen Terror denunziert, trägt die Verantwortung für die Gewalt am Flughafen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Gewalt war und ist auch heute kein probates Mittel von Politik.

(Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Es war auch die Zeit der Entstehungsphase der GRÜNEN; Herr Kollege Wagner wird sicherlich darauf zu sprechen kommen. Es war eine Zeit, in der wir schon einmal erlebt haben, dass in unserem Land viele mit den etablierten Parteien nichts mehr anfangen konnten. Waldsterben, damals schon die Diskussion um Klimawandel, Frankfurter Flughafen, Atomwirtschaft, all das führte dazu, dass die GRÜNEN in eine Lücke vorstießen, wie sie selbst sagen, und damit nicht nur für ihre Entstehung, sondern auch für ihre Politik der folgenden Jahrzehnte einen Grund hatten.

Das unterscheidet sich von der Situation heute. Im Wesentlichen wird darüber gesprochen, dass viele mit den etablierten Parteien ein Problem verbinden. Ich glaube, im Namen aller feststellen zu können: Wer heute sagt, dass die Herausforderungen der Zukunft mit einfachen Antworten zu lösen sind, der missbraucht das vermeintliche erste Wählervertrauen von Bürgerinnen und Bürgern.

Die GRÜNEN haben damals keine einfachen Antworten gehabt, aber sie haben Antworten gehabt, über die man

trefflich streiten konnte. Die heutigen insbesondere rechtspolitischen Parteien haben keine Antworten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Parteien, die ausgrenzen, diskriminieren und spalten wollen, in deutschen Parlamenten keine Zukunft haben.

(Allgemeiner Beifall)

Ich könnte noch an die glückselige Zeit der Wiedervereinigung erinnern. Ich könnte sagen, dass Hessen sich hierbei nicht nur verantwortlich gezeigt hat, sondern Großartiges geleistet hat, für das wir heute noch sehr dankbar sein können.

Ich sollte zum Schluss darauf hinweisen, dass dieses Land nach 70 Jahren einer glücklichen Geschichte mit vielen Höhen und Tiefen am Ende aber einiges geschaffen hat: sozialen Frieden, weitestgehende Gerechtigkeit, eine Solidarität gegenüber den Schwachen und einen Wohlstand, von dem unsere Vorväter vor 70 Jahren nur hätten träumen können. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein solches Land ist am Ende auch in der Lage, aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu meistern.

Um diese Aufgaben, die vor uns liegen, meistern zu können, bedarf es aus meiner Sicht – Herr Präsident, ich komme zum Schluss – einiger gemeinsamer Vereinbarungen.

Ja, es müssen sich alle in unserem Land die Grundlagen unserer Verfassung und die Grundsätze unseres Rechtsstaats bedingungslos zu eigen machen. Es muss möglich sein, Probleme offen, sachlich und im gegenseitigen Respekt vor der Würde des anderen an- und auszusprechen. Wir müssen alles daransetzen, dass unsere Hilfe und unsere Solidarität uneingeschränkt jedem gebühren, der unsere Hilfe braucht und der nicht aus eigener Kraft in der Lage ist, sein Leben und das seiner Familie zu meistern.

Wir brauchen nicht nur Mitgefühl für das Leid der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten, sondern wir brauchen auch Verständnis dafür, dass diese Menschen eine Zeit lang brauchen werden, um sich in der für sie völlig neuen Welt zurechtzufinden.

Es ist unsere gemeinsame und verantwortungsvolle Aufgabe, jeden Tag aufs Neue und mit ganzer Kraft für den Art. 1 unserer Hessischen Verfassung einzutreten:

Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich, ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, der Herkunft, der religiösen und der politischen Überzeugung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich erteile nun dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Herrn Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel, das Wort.

Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, verehrte ehemalige Kolleginnen und Kollegen und Ehrengäste! Wir feiern 70 Jahre Hessen. Wir haben wirklich allen Grund, zu feiern, wenn wir uns anschauen, was in den letzten 70 Jahren aus diesem Land geworden ist.

Dass wir das feiern können und dürfen, haben wir – Herr Boddenberg hat auch schon darauf verwiesen – zuallererst der Befreiung vom Faschismus durch die alliierten Streitkräfte zu verdanken. Dieser Dank wird immer währen.

(Allgemeiner Beifall)

Nach dem militärischen Sieg über den Faschismus kam der Wiederaufbau, der Wiederaufbau von Wohnraum, Energie, Verkehrswegen und den einfachen Dingen des Alltags, der Wiederaufbau einer funktionierenden Verwaltung und der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft.

Ich will an dieser Stelle zwei Institutionen bzw. Persönlichkeiten stellvertretend für all diejenigen, die dazu einen wichtigen Beitrag geleistet haben, besonders herausstellen, wenn ich Fritz Bauer und die Frankfurter Schule erwähne.

(Allgemeiner Beifall)

Die Hessische Verfassung war in ihrer Art fortschrittlicher und demokratischer als viele andere Verfassungen – das gilt insbesondere für die Sozial- und Wirtschaftsverfassung –, und wesentliche Impulse gingen von dieser Verfassung auch in das Grundgesetz ein.

Wahrlich eine Erfolgsgeschichte, die Hessen in den letzten 70 Jahren vorzuzeigen hat. Es gab auch viele dunkle Stunden, dazu hat Herr Boddenberg schon einiges gesagt. Ich möchte in Ergänzung wenigstens einige wenige nennen wie das große Grubenunglück in Borken, die Ermordung von Heinz-Herbert Karry, aber auch den Mord an zwei Polizisten an der Startbahn 18 West und auch die NSU-Mordserie, die unser Land erschüttert.

Hessen wird 70. Wie soll man eigentlich einer Institution gratulieren, dazu noch einer, die künstlich geschaffen wurde? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es da mit Gustav Heinemann:

Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Länder und Institutionen werden von Menschen geprägt, die sie formen, die ihnen Leben einhauchen, die für die Menschen in dem Land handeln, die sich für die Zukunft, für die Freiheit, für die Solidarität und den Wohlstand einsetzen.

Es sind die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, denen wir heute gratulieren und Dank sagen, in den Sport-, Kleintier- und Kulturvereinen, in den Feuerwehren, in den Rettungsorganisationen, in den Kirchen, in den Glaubensgemeinschaften, in den Gewerkschaften und Sozialverbänden, in den Wirtschaftsverbänden, in den Parteien und Wählergruppierungen und in den Tafeln und Flüchtlingsinitiativen.

(Allgemeiner Beifall)

Es sind Menschen wie die vielen Alleinerziehenden, die jeden Tag einen großen Beitrag für ihre eigene Familie, aber auch für diese Gesellschaft leisten; es sind Menschen wie Friedrich von Metzler, der als erfolgreicher Bankier und Kulturförderer unser Land prägt; es sind Menschen wie Herr Rodermund, der sich trotz dutzendfacher Enttäuschungen auf der Suche nach einer neuen Arbeit nicht aufgegeben hat und heute in einer Tafel in Gießen anderen Menschen hilft, die nach Hilfe suchen; es sind Menschen wie Dr. Hasina Farouq, die als Migrantenkind heute Stadtverordnete in Kassel ist und im Berufsalltag Erfolg hat – es

ist die Vielfalt der Gesichter und Menschen, die Hessen Gestalt gibt.

Das macht aus meiner Sicht den Kern unseres Landes aus: Zusammenhalt und Integration sind das, was eigentlich die Gestaltungslinie, das konstitutive Element, unseres Bundeslandes ist. Hessen kennt seit Jahrhunderten Einwanderer und Flüchtlinge: Flamen, Hugenotten, Wallonen, Waldenser, Schlesier, Ost- und Westpreußen, Sudetendeutsche, Donauschwaben, Portugiesen, Italiener, Türken, Kurden und Marokkaner, um nur einige wenige zu nennen.

Warum sage ich das? – Weil ich an einer Stelle Herrn Boddenberg ein klein wenig widersprechen möchte: in der Einschätzung der Integrationsleistung von vor 70 Jahren gegenüber heute. Ich will es ganz bewusst nicht mit meinen Worten sagen, sondern mit den Worten von Hannah Ahrendt, die es in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ von 1943 wie folgt formulierte:

Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind …, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.

Hessen hat – um es mit den Worten von Hannah Ahrendt zu sagen – Menschen eine neue „private Welt“ gegeben. Das ist der tiefere Sinn, das Angebot und Versprechen unseres ehemaligen Ministerpräsidenten Georg August Zinn, als er den Satz sagte: „Hesse ist, wer Hesse sein will.“

(Allgemeiner Beifall)

Zinn ging es nicht um eine Leitkulturdebatte, es ging ihm nicht um Sprachprüfungen – es ging ihm zunächst um ein Angebot nach dem Motto: „Ihr seid hier zu Hause; ihr habt hier eine neue Heimat, wenn ihr es wollt.“ Das ist aus meiner Sicht bis heute das weitestgehende Integrationsversprechen, das je ein deutscher Politiker abgegeben hat. Er hat es nicht nur in großen Reden formuliert, sondern er hat dazu einen „Hessenplan“ vorgelegt, in dem die Maßnahmen beschrieben wurden, wie man das macht, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt funktioniert und eine Balance zwischen den Neubürgern und den Einheimischen gewahrt bleibt.

Mit dem „Hessenplan“ hat der Gedanke der sozialen Integration eine Breitenwirkung erzielt, die im ganzen Bundesgebiet weithin zum Vorbild wurde. Die hessische Sozialdemokratie hat am gestrigen Abend Wenzel Jaksch, den ehemaligen Vorsitzenden der Seliger-Gemeinde, der sudetendeutschen Sozialdemokraten, hier im Hessischen Landtag geehrt. Wenzel Jaksch, der eine so beeindruckende Persönlichkeit war – in der Abgrenzung zum Faschismus auf der einen Seite und der Vertreibungspolitik auf der anderen Seite – und der gleichzeitig als Flüchtlingsbeauftragter in Hessen ganz wesentlich Mitautor des „Hessenplans“ war, hat in so besonderer Art und Weise genau für diese Balance in Hessen gestanden.

Hessen ist ein Beispiel dafür, dass Fortschritt möglich ist. Hessen ist ein Beispiel dafür, dass Zukunft gestaltbar und eine Frage der Machbarkeit und des Willens ist.

Das ist das Eigentliche, was aus meiner Sicht an einem Tag wie heute nicht nur bleibt, sondern vor allem auch Verpflichtung für morgen ist: dass Hessen ein Beispiel dafür ist, dass der Mut zu Reformen mit dem „Hessenplan“ am Ende Erfolge mit sich bringt. Die Integration, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Schaffung von Wohnraum in einem Ausmaß, das sich heute angesichts der Rahmenbedingungen von vor 70 und 60 und 50 Jahren nur wenige vorstellen können – Herr Boddenberg hat darauf ebenfalls verwiesen –, sind die eigentliche Leistung dieses Bundeslandes.

Es ist eben am Ende ein Erfolgsbeispiel dafür, dass Reformpolitik funktioniert. Aus den Trümmern wurde die Basis für wirtschaftlichen Aufschwung, Wohlstand und Teilhabe für alle entwickelt. Die Schaffung von Infrastruktur, die Stärkung des ländlichen Raums und die damit verbundenen Perspektiven für alle Menschen, insbesondere auch im ländlichen Raum, sind das, was wir als die eigentliche Erfolgsgeschichte dieses Bundeslandes beschreiben können.

Weil wir eben nicht die Vollversammlung eines Geschichtsvereins sind, sondern der Hessische Landtag,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Genau!)

will ich diesen Geburtstag am heutigen Tage ganz bewusst nicht nur nutzen, um zurückzublicken, sondern auch, um einen Blick nach vorne zu wagen. Denn damals wie heute sind einige der Herausforderungen geblieben; manche stellen sich heute neu – sicherlich in einem anderen Kontext und auf einem völlig anderen Niveau, aber die Herausforderungen bleiben.