Meine Damen und Herren, wir sollten am Ende vermeiden, dass die Menschen, die hier sind, Angst haben vor denen, die eventuell kommen, und die, die eventuell kommen, Angst haben davor, dass sie hier nicht willkommen sind. So kann man Zukunft nicht gewinnen.
Herr Präsident, der Brexit ist eine historische Entscheidung und gibt uns eine Chance, die nach menschlichem Ermessen in vielen Jahren nicht wieder kommt. Deshalb ist es richtig, diese Herausforderung anzunehmen und Zukunft zu gestalten. Das heißt dann eben: Risiken erkennen, Chancen wahrnehmen und die Herausforderungen meistern.
Aus gegebenem Anlass will ich auch noch ein Wort zu dem Thema Fusion der Deutschen Börse sagen. Das passt gut in die Landschaft. Dieser Landtag hat mehrfach deutlich gemacht, dass es sein politischer Wunsch ist, dass der Sitz dieser Börse bei uns bleibt. Das ist auch der politische Wunsch der Landesregierung.
Das muss man aber davon trennen, dass eine Aufsichtsbehörde – das ist das Wirtschaftsministerium – erst entscheiden kann, wenn es überhaupt einen Antrag gibt und wenn man die Verhältnisse kennt, aufgrund derer man einen Antrag zu bescheiden hat. An beidem fehlt es. Eine Genehmigungsbehörde, die, bevor sie einen Antrag hat, öffentlich verkündet, wie sie denn zu entscheiden gedenkt, würde mit Sicherheit nicht sachgerecht arbeiten. Ein solches Verfahren würde vor keinem Gericht Bestand haben.
Deshalb bleibt es dabei: Es wird ganz genau nach Recht und Gesetz entschieden. Den politischen Willen tragen wir gemeinsam. Die juristisch saubere Entscheidung werden wir dann treffen, wenn es so weit ist, wenn wir überhaupt einen Antrag vor uns haben.
Ich sage aber auch: Es ist völlig klar, dass diese britische Entscheidung für die zu treffende Genehmigungsentscheidung oder Ablehnungsentscheidung von allergrößtem Gewicht sein wird. Ich glaube, so weit darf man gehen. Deshalb habe ich die Hoffnung, dass sowohl die Frankfurter Börse, die Deutsche Börse, wie auch ihre Kollegen in London das angemessen würdigen und entsprechend darauf reagieren.
Meine Damen und Herren, wir haben uns auf 20 Minuten Redezeit verständigt. Das will ich nicht allzu sehr überschreiten. Aber lassen Sie mich noch einen Gedanken loswerden. Nach dieser Entscheidung gab es eine Flut von Stellungnahmen, was Europa jetzt tun muss. Die einen sprechen von Vertiefung, die anderen sprechen von Rückverlagerung in die nationalen Parlamente. Es wird gefordert, dass jetzt ganz viel unternommen werden muss, z. B. zur Bekämpfung der bedrückenden Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas. Das Schöne an all diesen Forderungen ist: Sie passen in nichts zusammen.
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Herr Schulz, hat in einem großen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor einigen Tagen unter der großen Überschrift „Mit Herzblut und Leidenschaft“ seine Sicht der Dinge dargestellt. Er hat deutlich gemacht, dass es schwierig für die Bürgerinnen und Bürger Europas ist, zu erkennen, wie das alles läuft. Ja, sehr erkenntnisreich, dieses komplizierte Entscheidungsgeflecht.
Seine Antwort lautet: Weiterentwicklung der Europäischen Kommission zu e i n e r europäischen Regierung und e i n e m europäischen Parlament. – Wenn Herr Schulz sagt: „mit Leidenschaft und Herzblut für Europa“, stimme ich ihm ausdrücklich zu. In dieser Fortentwicklung stimme ich ihm aber nicht zu. Es hätte eine Logik, aber ich halte es ungeachtet dessen für falsch, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass in den nächsten Jahren 27 Staaten so weitreichende Entscheidungen treffen werden. Aber man muss sich immer wieder klarmachen: Europa, das war die Vielfalt in der Einheit der Europäischen Gemeinschaft. Europa, wie wir es uns vorstellen, war nicht die Auflösung der Nationalstaaten mit einer Regierung, und deshalb ist das falsch.
Im Übrigen ist alleine die Debatte um CETA ein schönes Beispiel. Wer dem schulzschen Gedanken mit e i n e m Parlament folgt, kann nie auf die Idee kommen, dass nationale Parlamente darüber noch zu entscheiden hätten. Man kann das links- oder rechtsherum betrachten. Ich finde es richtig, wie es jetzt läuft, dass die nationalen Parlamente das machen. Aber die klare Regelung: „eine Regierung, ein Parlament“ führt konsequenterweise zu anderen Antworten, als sie hier breit diskutiert werden.
Meine Damen und Herren, zum Schluss. Niemanden kann kalt lassen, wenn in einigen Ländern Europas die Hälfte der jungen Menschen keine Arbeit und keine Perspektive hat. Das kann auch uns nicht kalt lassen. Wir sind in der fabelhaften Situation, die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit der Welt zu haben. Das ist toll. Jetzt ist die spannende Frage: Was können wir tun? – Es sind wieder viele unterwegs, die schuldenfinanzierte Milliardenprogramme fordern, damit sich dort etwas bewegt.
Ich kann und will, auch wenn die Zeit überzogen ist, nicht darauf verzichten, weil es mir wichtig ist: Über 6 Milliarden € hat die Europäische Union zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Verfügung gestellt. Das Geld ist entweder nicht abgerufen worden oder wirkungslos verpufft.
Die schlichte Wahrheit ist: Mit schuldenfinanzierten Programmen kann man Strukturveränderungen in den Ländern, die wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen, nicht ersetzen. Vielmehr müssen sie selbst etwas tun.
Unsere Solidarität kann nur gelten mit der Solidität derer, die dann unsere Solidarität entsprechend erfahren. Anders kann es nicht laufen.
Wenn ich ausdrücklich dafür plädiere, dass wir als Deutsche, weil wir so eine starke Wirtschaft haben, weil wir so ein starkes Land sind, uns mehr als andere engagieren, so kann ich aber auch vor unseren jungen Menschen nicht verantworten, dass wir ihnen dauerhaft Schulden auferlegen, die sie dann abtragen müssen, und wir im Ergebnis den anderen nicht einmal helfen.
Meine Damen und Herren, lieber Kollege Schmitt, das ist nicht deutsche Besserwisserei oder Belehrung. Das ist die schlichte Erfahrung aus den letzten Jahren.
Deshalb ist Europa jetzt auch gefordert, wichtige Strukturveränderungen vorzunehmen. Lieber Herr Kollege Schmitt, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie eine andere Auffassung haben. Wenn, dann wäre es bedauerlich. Ich kann es Ihnen gerne noch einmal erklären.
Packen wir es zusammen: Europa ist in einer schwierigen Lage. Man muss davon sprechen, dass es in einer ernsthaften Krise ist. Ich habe ganz bewusst zu Beginn gesagt, worum es aus meiner Sicht geht: nicht um die kleine Münze.
Krisen sind aber auch Chancen. Deshalb möchte ich gerne zum Schluss den ersten Ehrenbürger Europas zitieren. Der große französische Politiker Jean Monnet hat vor einem halben Jahrhundert formuliert: „Europa wächst an seinen Krisen“. – An diesem Wachstum für ein friedliches, für ein erfolgreiches Europa mitzuwirken und gleichzeitig die Chance für Hessen entschlossen wahrzunehmen, das ist für diese Landesregierung Auftrag und Verpflichtung zugleich. – Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, damit ist die Regierungserklärung abgegeben. Den Oppositionsfraktionen wachsen jeweils vier Minuten zu. Es sind jetzt also 24 Minuten pro Fraktion.
Ja, das sind vier Minuten pro Fraktion. – Damit eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion der SPD, Herr Abg. Schäfer-Gümbel. Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren! Ich will zunächst dem Ministerpräsidenten für seine Regierungserklärung zu einem wahrlich wichtigen Thema danken, weil es uns die Gelegenheit gibt, in diesem Parlament über die Konsequenzen aus dem Brexit nicht nur für Hessen, sondern vor allem auch für Europa und damit uns alle zu diskutieren. Ich will aber gleich am Anfang sagen, dass es neben manch Verbindendem zu der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten auch manches Unterschiedliche zu sagen geben wird.
Vertrauen durch Stabilität – darum geht es aus meiner Sicht, wenn wir Europa zusammenhalten wollen. Viele haben den Blick dafür verloren, was auf dem Spiel steht. Europa ist ein Friedensprojekt und damit in allererster Linie den Menschen verpflichtet – allen Menschen, auf Lesbos, auf Lampedusa und in London, egal wo sie sind. Wir sind in Europa eben mehr als eine Verwaltungseinheit. In den letzten Jahrzehnten ist es uns gelungen, Mord, Grauen und Krieg in Europa zu überwinden.
Das ist die Idee, die Menschen unterschiedlicher Länder und Kulturen über Jahrzehnte hat zusammenwachsen lassen, die die Angst voreinander überwunden haben: die Idee, dass wir uns schrittweise annähern, eine Idee, die Frieden und Vertrauen schafft. Die Europäische Union hat unserer Generation so viel gegeben – es ist kaum möglich, das alles aufzuzählen –: Schüleraustausche, Interrail, Erasmus-Auslandsjahre, Arbeiten in Spanien, Bezahlen mit dem Euro und vor allem – das kann nicht häufig genug wiederholt werden – die Freiheit von Angst vor dem Nachbarn.
Dieses Europa gehört den Menschen. Es gehört den Menschen, die sich täglich um Verständigung bemühen, den Ehrenamtlichen, den Städtepartnerschaften, den Schülerinnen und Schülern, die sich mit europäischen Nachbarn austauschen, den Menschen, die an Europa glauben und uns vertrauen wollen. Um aber Vertrauen zu gewinnen, brauchen wir Stabilität.
Der menschliche Reflex wäre nun, zurückzuschrecken und zu sagen: „Wir sind zu weit gegangen“. Kaum hatten die Briten abgestimmt, setzte die Kakofonie der selbst ernannten Experten ein: „Wir brauchen mehr Europa“, „wir brauchen weniger Europa“, „wir brauchen ein Kerneuropa“, „wir müssen mehr Haushaltskonsolidierung betreiben“, „wir müssen mehr ausgeben“.
Die Menschen in Europa sind verunsichert. Die Verunsicherung rührt daher, dass Europa nicht in der Lage war, eine zufriedenstellende, eine menschliche Antwort auf die beiden größten europäischen Krisen der letzten Jahre zu finden, die Bankenkrise und die Flüchtlingskrise. Die Bewältigung – wenn man überhaupt davon sprechen kann – der Ersteren hat bei vielen Menschen das ungute Gefühl hinterlassen, irgendwie übers Ohr gehauen worden zu sein. Irgendetwas war nicht ganz richtig und nicht ganz fair.
Dann wurden Sparprogramme über Sparprogramme verordnet. Viele Menschen in vielen Ländern sahen ihre schlimmsten Befürchtungen in Bezug auf die Bankenkrise
bestätigt. Sie müssen die Wettschulden begleichen für ein Spiel, an dem sie nie teilnehmen wollten. Einige wenige haben eine wilde Party gefeiert, ein rauschendes Fest, und der große Rest in Europa darf sich nun ums Aufräumen kümmern. Das war und ist nicht gerecht.
Deshalb leben ganze Familien in Griechenland von den bescheidenen Renten der Großmütter. Deshalb sind Millionen junger Menschen in Europa arbeitslos. Deshalb gibt es in Griechenland nach kurzer Arbeitslosigkeit keine Krankenversicherung mehr. Deshalb verlieren in Spanien viele Menschen ihr Zuhause. Was bleibt, ist ein Gefühl von Ungerechtigkeit und Unsicherheit.
Die Flüchtlingskrise führt uns jeden Tag unser Versagen vor Augen, das Versagen als Staatengemeinschaft und unser Versagen als demokratische Staaten. Wir haben viel zu lange weggeschaut in Zeiten, als Italien und Griechenland versuchten, der Fliehenden quasi im Alleingang Herr zu werden. Bequem war es doch, sich auf Dublin zu berufen. Es erschien doch opportun, Mare Nostrum die Gelder zu verweigern, als Italien allein und ohne jegliche europäische Unterstützung versuchte, die Menschen im Mittelmeer zu retten. Erst als die Menschen sich auf den Weg über die Alpen machten, zu uns kamen, erst dann wurde es plötzlich ein europäisches Problem – als ob es vorher keines gewesen wäre.
Was wir brauchen, ist Stabilität. Wir brauchen Sicherheit und Verlässlichkeit, und wir brauchen dringend wieder das Gefühl, gemeinsam etwas geschaffen zu haben, was beschützenswert und erhaltenswert ist. Es erstaunt mich kaum noch, dass Herr Schäuble diese brisante Situation nutzte, um an die Kette seiner politischen Irrtümer noch ein paar Perlen mehr zu reihen. Auch so kann man übrigens in die Geschichte eingehen. Erreichen wird er jedenfalls nur eines, nämlich Rückschritt. Jeder, der meint, den Menschen Sicherheit zu geben, indem wir uns zurückbewegen, ist nicht nur historisch mit Blindheit geschlagen, sondern hat auch noch in bedauernswerter Weise nicht verstanden, worum es in diesen Tagen und Wochen in Europa eigentlich geht.
Wie häufig in der Geschichte ist alles, was erreicht wurde, irgendwann selbstverständlich geworden. Dies kann niemandem zum Vorwurf gemacht werden; denn genau das war das Ziel der europäischen Einigung. Die Erfolge werden hingenommen, das Erreichte ist selbstverständlich geworden. Dennoch herrscht ein Gefühl der Verunsicherung und Verlorenheit. Viel wird noch über Brexit zu reden und zu schreiben sein. Aber erste Untersuchungen haben ergeben, dass es sich bei den Austrittsbefürwortern nicht um „alte weiße männliche Globalisierungsverlierer“ handelte, wie es uns in den ersten Stunden als Analysen vorgelegt wurde. Ein näherer Blick auf die Auswertung zeigt, dass es sich bei der Stimme für oder gegen den Brexit vor allem um eine Wertedebatte handelte. Es war eine Stimme von Menschen, die Ordnung mögen, für die Sicherheit, Wurzeln und Verlässlichkeit eine große Rolle spielten, versus Menschen, die kulturelle Unterschiede begrüßen, die Individualismus, Offenheit und Freiheit begrüßen.
Was wir brauchen, ist Stabilität. Mit Stabilität kommt Sicherheit, mit Sicherheit kommt Vertrauen. Wir können
nicht zurück, weil wir uns mitten auf dem Weg befinden. Kein Wanderer würde jemals zurückkehren, wenn das Ziel besser erreichbar ist als der Ausgangsort. Jeder Rückschritt würde die Unsicherheit, die zuerst überall herrscht, nur vertiefen. Wir müssen dringend die Schritte gehen, die auf eine gemeinsame Geldpolitik folgen, und das bedeutet vor allem und als Allererstes, wir brauchen endlich eine gemeinsame Fiskalpolitik in Europa.