Protocol of the Session on June 22, 2016

Wir wollen auch keine Wiederholung des Desasters zulassen, über das wir hier gerade debattieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Unruhe bei der SPD und der LINKEN) )

Meine Damen und Herren, dieses Desaster begann bereits am 8. Dezember 2010,

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden- ten)

als die elfte Novelle des Atomgesetzes in Kraft trat. Das war der Kotau der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung und ihrer Parlamentsmehrheit vor den Interessen der Atomindustrie.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Er war übrigens maßgeblich angetrieben von der FDP, die hier und heute ihre Verantwortlichkeit so auffällig verdrängt. Anders gesagt: Wer nach den Verursachern unserer aktuellen Probleme der Atomwirtschaft sucht, sollte zuerst den Blick in das Wahlprogramm der FDP zur Bundestagswahl 2009 werfen. Das hat den schönen Namen „Die Mitte stärken. Deutschlandprogramm“. Wir lesen dort auf Seite 57 – ich zitiere –:

Der Ausstieg aus der Kernenergie ist zum jetzigen Zeitpunkt ökonomisch und ökologisch falsch.

Ein Stück weiter lesen wir:

Die Laufzeiten sicherer Kernkraftwerke müssen daher in diesem Sinne verlängert werden.

Meine Damen und Herren, in Kenntnis und Erwartung der Verlängerung der Laufzeiten dieser Kraftwerke hatte RWE präventiv die Stromabgabemengen bereits gedrosselt, sodass der Zeitpunkt der Abschaltung über den Wahltermin 2009 hinausrückte. Deswegen freute sich der RWE-Boss Dr. Großmann, den wir später als Zeugen im Untersuchungsausschuss kennenlernen durften, bereits über den schwarz-gelben Koalitionsvertrag 2009. Er ließ dann im Dezember 2010 die Champagnerkorken knallen, denn er konnte hoch vergnügt in die Weihnachtszeit gehen.

(Norbert Schmitt (SPD): Ja, stimmt!)

Keine 100 Tage später – am 11. März 2011 – wurde aller Welt auf grausamste Weise deutlich gemacht, dass es sichere Atomkraftwerke einfach nicht gibt, und zwar nirgendwo.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Menschliche Unzulänglichkeiten, unbeherrschbare Naturgewalten und eine nie zu 100 % fehlerfrei funktionierende Technik können sich nämlich zu einem Katastrophendreieck zusammenfügen, das in den Untergang führt.

(Norbert Schmitt (SPD): Ja!)

Perfektion gibt es weder bei Menschen noch bei der Technik. Also darf sie auch nie die Grundvoraussetzung für die Sicherheit der Energieversorgung sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, nachdem die Meldungen aus Japan im Laufe des 11. März 2011 zu uns kamen, war das Entsetzen groß. Wie wir aus der Arbeit des Untersuchungsausschusses wissen, begannen spätestens am Folgetag – am 12. März 2011 – hektische politische Aktivitäten. Die Öffentlichkeit war stark beunruhigt. Daher musste sich insbesondere die Bundesregierung äußern. Das, was wir dann über die Abläufe herausgefunden haben, sprach ich bereits bei der Vorstellung des Abschlussberichts an. Ich will es jetzt nicht wiederholen.

Mein Thema ist jetzt, wie das Geschehen aus grüner Sicht zu bewerten ist. Meine Damen und Herren, es gab in diesem Land – das muss man unterstreichen – einen rechtssicheren, weil vereinbarten, Atomausstieg, der von einer rotgrünen Bundesregierung

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

in Verantwortung des Umweltministers Jürgen Trittin gegen viele Widerstände – auch von unserer eigenen Partei,

denen die Konsenslösung überhaupt nicht recht war – durchgesetzt worden war. Alles, was uns jetzt beschäftigt, folgt aus dem politischen Riesenfehler, dass im Folgenden Schwarz-Gelb diesen Konsens ohne Not aufgekündigt hat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Das Motiv, das zu dieser Aufkündigung führte, mag die Überzeugung gewesen sein, dass Atomenergie – zumindest in Hochtechnologieländern – stets sicher und beherrschbar sei. Aber genau diese falsche Überzeugung begründete dann auch die Tiefe des Schocks, als am 11. März 2011 eine allseits geglaubte Gewissheit von einem Tsunami brutal weggespült worden war. Alles Folgende lässt sich leichter verstehen, wenn man die totale Verunsicherung der in Berlin politisch Handelnden, die daraus erwuchs, in die Betrachtung mit einbezieht.

Meine Damen und Herren, schnell war nämlich klar, dass etwas geschehen musste. Man wusste nur nicht, was. Da wurde aus dem Nichts heraus ein „Moratorium“ propagiert, und es wurde nach gesetzlichen Formulierungen gesucht, die Maßnahmen begründen könnten, um der Bevölkerung Beruhigung zu bieten und die Handlungsfähigkeit der Regierung zu demonstrieren. Inwieweit die heute schon mehrfach erwähnten, seinerzeit bevorstehenden Wahlen obendrein zur Hektik beitrugen, konnten wir letztlich nicht ermitteln. Das wurde von den Verantwortlichen stets nachdrücklich bestritten, obwohl es genau diesen Anschein hatte.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Schmitt (SPD): Sehr gut!)

Nach den Aussagen der Zeugen ist jedenfalls unstrittig, dass alle inhaltlichen Vorgaben – nämlich, welche Atomkraftwerke für wie lange mit welcher Begründung vorübergehend stillgelegt werden sollten – vom damals zuständigen Bundesumweltminister kamen. Damit sollte eigentlich für alle genauso unstrittig sein, dass die Haftung für die Richtigkeit dieser inhaltlichen Vorgaben eindeutig beim Bund liegt. Das haben wir heute leider nicht gehört.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Unter strenger juristischer Betrachtung war nämlich das, was den Ländern vom Bundesumweltministerium vorgegeben wurde, rechtlich fehlerhaft. Das hat der Verwaltungsgerichtshof durch ein mittlerweile rechtskräftiges Urteil festgestellt und somit die hessischen Stilllegungsverfügungen für rechtswidrig erklärt, nachdem der hessische Betreiber, die RWE Power AG, das Land verklagt hatte.

Meine Damen und Herren, damit Sie mich jetzt nicht vorsätzlich missverstehen: Die materielle Rechtswidrigkeit der hessischen Stilllegungsverfügungen beruht eindeutig auf den Vorgaben des Bundes. Das heißt allerdings nicht, dass das Land gar keine Verantwortung für die Stilllegungsverfügungen hätte. Die vom VGH ebenfalls festgestellte formelle Rechtswidrigkeit der Stilllegungsverfügungen betrifft die Wahrnehmungskompetenz des Landes – und damit seine Verantwortung. Ich hoffe, das war auch nie strittig.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Der Ausschuss stellt dazu in seinem Bericht ganz klar fest, dass die Entscheidung, auf eine Anhörung zu verzichten,

von der hessischen Umweltministerin getroffen wurde und somit auch verantwortet wird. Das habe ich bei der Vorstellung des Berichtes bereits gesagt.

Im Übrigen trägt eine Ministerin stets für alle Entscheidungen ihres Ministeriums die Verantwortung – das kann man schon in der Verfassung, Art. 102, nachlesen, dazu bräuchte es keinen Untersuchungsausschuss.

(Zurufe von der SPD)

Insoweit treffen Kritiken – die heute nochmals wiederholt wurden –, der von mir vorgelegte Bericht des Untersuchungsausschusses würde Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern irgendetwas in die Schuhe schieben, überhaupt nicht zu.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Widerspruch bei der SPD)

Eine umfassende Information zur Vorbereitung der Entscheidung der Hausspitze ist im Ministerium Aufgabe der Fachabteilung und wird durch Organisationsvorgaben sichergestellt. Auf dieser Grundlage liegt dann die politische Verantwortung, selbstverständlich, bei der Ministerin.

Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt aus grüner Sicht etwas genauer auf die Problematik der Anhörung schauen, dann wissen wir alle jetzt: Sie hätte nicht unterbleiben dürfen. Das hat der Verwaltungsgerichtshof rechtskräftig festgestellt.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das hat Tarek schon vorher gesagt!)

Wir können – dies vor dem Hintergrund der bereits geschilderten Lage – aber die damals getroffene Entscheidung noch ein Stück weit nachvollziehen. Die Richtschnur lautete, das wurde schon berichtet: Wir machen es wie die anderen Länder auch. – Das halten wir durchaus für verständlich, auch wenn wir mittlerweile wissen, dass es falsch war.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Fakt aber besteht: Alle anderen Länder haben auch keine Anhörung durchgeführt.

Jetzt aber kommt es: Spätestens mit der Klage von RWE, die am 1. April 2011 einging, musste sich Hessen aus dem gedanklichen Geleitzug der Länder verabschieden; denn es war das einzige verklagte Land. Eine intensive Prüfung der Klageschrift im Hinblick auf mögliche Risikominimierung musste deshalb auch die Frage der Nachholung der Anhörung aufwerfen.

(Beifall des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Die darauf folgende Entscheidung gegen eine Nachholung, die nach übereinstimmenden Zeugenaussagen ohne Beteiligung der Hausspitze des Umweltministeriums erfolgte, war aus unserer Sicht nicht nur falsch, sondern geradezu fatal.

(Beifall des Abg. Stephan Grüger (SPD))

Dies hätte womöglich vermieden werden können, wenn die Entscheidung an die Ministerin herangetragen worden wäre. Umgekehrt wäre nach dem Vorliegen der Klageschrift auch ein aktives Eingreifen der Ministerin in Wahrnehmung ihrer Verantwortung möglich gewesen – schließlich handelte es sich keineswegs um ein Allerweltsthema.

In Erinnerung an die Geschichte der hessischen Auseinandersetzung mit der Atomindustrie, personifiziert durch eine Reihe grüner Umweltminister von Joschka Fischer bis zu Priska Hinz lässt sich jedenfalls feststellen, dass alle diese ihre Streitigkeiten für das Land erfolgreich beenden konnten. Vielleicht lag das daran, dass GRÜNE jemals weder Vertrauen in die Atomtechnik noch gegenüber den Kraftwerksbetreibern hatten; oder es mag auch daran gelegen haben, dass dann im Verfahren keine Maßnahme ausgelassen wurde, um die Rechtsposition des Landes zu verbessern.