Protocol of the Session on May 19, 2016

Ein Mensch nimmt guten Glaubens an, er hab das Äußerste getan. Doch leider Gotts versäumt er nun, auch noch das Innerste zu tun.

Wenn man Karl Lehmann richtig beschreiben will, dann muss man sagen, dass dieses Wort von Eugen Roth in wunderbarer Weise auf ihn nicht zutrifft. Bei allem, was er in seinem aktiven Dienst getan hat, ging er wirklich bis an die Grenzen seiner Gesundheit. Das war auch am vergangenen Montag zu spüren. Die Frage ist: Wie sieht es mit dem Innersten aus? Aus welcher Haltung heraus hat er das getan? Ich glaube, das ist das, was ihn maßgeblich auszeichnet.

Er selbst – wir sollen ja nicht über ihn reden, deshalb lassen wir ihn sprechen – hat in der Antwort auf die Laudatio gesagt, was ihm wichtig ist. Er hat als ersten Punkt den

Menschen und das Bild vom Menschen genannt. Wer seine Veröffentlichungen kennt, weiß, dass es ihm insbesondere um den armen Menschen geht, den Menschen in seiner Armut, wie ihn Victor Hugo in „Les Misérables“, in „Die Elenden“, beschrieben hat. Für Karl Lehmann ist klar: Wenn man sich diesen Menschen zuwendet, dann muss man nicht – das hat er immer betont –, aber dann darf man am Ende auch nach Gott fragen, d. h. Theologie betreiben. Immerhin hat er 4.800 wissenschaftliche Veröffentlichungen auf den Markt gebracht.

Ich komme auf meine Eingangsbemerkung zurück. In nächster Nachbarschaft zum Landtag, gegenüber auf dem Schlossplatz, bin ich mit ihm in den „Andechser“ gegangen. Es war bekannt, dass wir dorthin kommen, deshalb stand die Crew des Hauses an der Tür, um ihn zu begrüßen. Auffallend war, dass er zunächst zum Küchenpersonal und zum Service ging und erst danach die Geschäftsführung begrüßt hat. Bevor er ins Haus ging – das meine ich nicht despektierlich –, sagte er: Ich hätte gerne zwei Weißwürste mit einer Brezel und einem Weißbier und die Speisekarte, damit ich mir in Ruhe etwas zu essen aussuchen kann.

(Allgemeine Heiterkeit)

Ich glaube, das ist es: für den Menschen eintreten und dabei das Leben nicht vergessen. – Ich danke Ihnen.

(Allgemeiner Beifall)

Herzlichen Dank, lieber Herr Kollege Ernst-Ewald Roth. – Das Wort hat der Ministerpräsident.

Sehr geehrter Landtagspräsident, meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte heute auch seitens der Landesregierung das Wirken von Kardinal Lehmann ein wenig beleuchten – nicht als Nachruf, sondern als Zwischenruf und als Würdigung.

Ich hatte bei dem Festtag die Gelegenheit, für unser Land zu sprechen, deshalb halte ich mich bewusst kurz. Ich freue mich, dass man heute Morgen die seltene Situation erlebt, dass das ganze Haus, das sonst, wie es so schön heißt, meinungsstark und selten einig ist, übereinstimmt: dass es nicht nur den Gräbern, sondern sogar den noch Lebenden eine einhellige Würdigung entgegenbringt. Allein das zeigt, welch außergewöhnliche Persönlichkeit wir zu würdigen haben.

Ich tue das namens dieser Hessischen Landesregierung und – das sage ich ganz bewusst – auch vieler Vorgängerregierungen. Sie wissen, dass es in Hessen eine Tradition der regelmäßigen Gespräche der Landesregierung mit den Bischöfen des Landes und mit den Kirchenpräsidenten gibt. Kardinal Lehmann – ich glaube, das wird mir niemand übel nehmen – war immer so etwas wie der Primus inter Pares.

Da ich das selbst mehr als 30 Jahre erlebt habe, könnte ich über vieles berichten. Aufgrund ganz vieler persönlicher Begegnungen kann ich das unterstreichen, was hier gesagt wurde: Er ist eine außergewöhnliche Erscheinung, er hat Begabungen, und er hat die Fähigkeit, seine Begabungen zum Segen vieler Menschen nutzbar zu machen.

Wissenschaftliche Brillanz und bischöfliche Autorität hat er anscheinend mühelos mit gelebter Bodenständigkeit verbunden. Wenn er bei der Fastnacht oder beim Fußball war, war er kein Fremdkörper, der sich verirrt hatte. Wenn er zur Politik kam, hatte er etwas zu sagen, und jeder tat gut daran, zuzuhören. Er gab mehr als 30 Jahre lang Orientierung und – ich wiederhole es heute bewusst und gerne – Antworten, auf die man gehört hat. Das hat Martin Schulz in seiner Rede bereits richtig gesagt.

Diese Kombination und eine Fähigkeit, die Fragen der Zeit zu stellen, sind eine große Gabe. Für seine Tätigkeit als Seelsorger und als Bischof von Mainz – man muss hier immer wieder erwähnen, dass das Mainzer Bistum eigentlich ein hessisches Bistum ist, denn es liegt zu zwei Dritteln in Hessen –, aber auch für seine Arbeit als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und für viele gute Begegnungen sagt die Hessische Landesregierung Danke.

Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße das nicht nur, weil wir heute Morgen das seltene Glück haben, freudig eine einheitliche Bewertung vorzunehmen, sondern weil eine solche Persönlichkeit allemal Anlass dazu gibt.

Ich will noch einen Gedanken hinzufügen: Kirche und Staat sind zwei verschiedene Dinge. Sie sind in Deutschland aus guten Gründen getrennt. Trotzdem sind sie beide Teil einer Gesellschaft. Sie sind immer wieder miteinander verschränkt: Das, was bei dem einen oder dem anderen geschieht, hat Auswirkungen auf uns alle. Es ist nicht allzu lange her, dass Vorgänge in einem anderen Bistum unseres Landes diesen Landtag mehrfach beschäftigt haben. Dort, im Bistum Limburg, haben viele Menschen Sorgen gehabt. Dort ist viel Vertrauen verloren gegangen. Dies nicht zu erwähnen wäre unredlich.

Der Staat hat sich in innerkirchliche Dinge nicht einzumischen. Aber wenn beide Teil einer Gesellschaft sind, sollten wir sensibel für das bleiben, was sie verbindet und was besonders schwierig ist.

Ich empfinde es als ein besonderes Glück – deshalb finde ich es gut, dass wir das nicht so einfach haben vorbeiziehen lassen –, dass, obwohl auf der einen Seite viel Vertrauen verloren gegangen ist, wir auf der anderen Seite, weit über den Kreis der Gläubigen des Bistums hinaus, das Gegenteil zeigen können, und zwar durch eine Persönlichkeit, die aufgrund ihrer Art und der Art, wie sie das Amt geführt hat, über viele Jahre hinweg ein ganz außergewöhnlich hohes Maß an persönlicher Glaubwürdigkeit erworben hat, aber auch, was vielleicht noch wichtiger ist, für Vertrauen in die Institution Kirche gesorgt hat. Es ist eine gute Gelegenheit, zu zeigen, dass wir, bei allem Respekt vor der Trennung von Staat und Kirche, in einem Bundesland zwar zum einen Sorgen hatten und manchmal auch noch haben, zum anderen aber große Freude – ich sage bewusst: auch Dankbarkeit – empfinden, dass eine solche herausragende Persönlichkeit das leisten kann, was unsere Gemeinschaft braucht.

Katholiken, Protestanten, Gläubige und Ungläubige brauchen gelegentlich ein Zeichen, dass man Institutionen zwar nicht zu verehren braucht, aber dankbar sein muss und kann, wenn es über Jahrzehnte gelingt, authentisch zu bleiben, Vertrauen zu erwerben und so den Menschen Orientierung zu geben.

Das ist aus meiner Sicht das Wichtigste dieses Zwischenrufs. Deshalb sage ich bewusst: Kardinal Lehmann war ein

Glücksfall für die Gläubigen in seinem Bistum. Er war ein Glücksfall für seine Kirche. Er war aber auch ein Glücksfall für unser Land Hessen. – Vielen Dank.

(Allgemeiner Beifall)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident.

Bevor wir zum nächsten Punkt kommen: Es ist noch eingegangen und auf Ihren Plätzen verteilt ein Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Flüchtlinge in Deutschland und Europa menschenwürdig aufnehmen und versorgen, Drucks. 19/3412. – Die Dringlichkeit wird bejaht. Dann wird dies Tagesordnungspunkt 73. Wenn keiner widerspricht, können wir ihn direkt nach dem zu diesem Thema passenden Tagesordnungspunkt 59 der Aktuellen Stunde aufrufen und ohne Aussprache abstimmen. – Das ist der Fall. Das machen wir so.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 57 auf:

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend eine Aktuelle Stunde (Homo- und Transphobie auch in Hessen bekämpfen – Opfer rehabilitieren) – Drucks. 19/3395 –

Das Wort hat der Kollege Kai Klose, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es war am 17. Mai 1990, dass die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel und damit deren Definition als psychische Erkrankung gestrichen hat. Der 17. Mai jedes Jahres wurde deshalb zum internationalen Tag gegen Homophobie erklärt. An diesem Tag wird daran erinnert, dass die Diskriminierung von homo-, bi- und transsexuellen Menschen immer noch Alltag ist, in anderen Ländern und Kulturkreisen, aber auch in Europa und in Deutschland.

Für uns ist das Anlass, das Thema auch hier im Landtag aufzurufen. Es geht bei Homophobie keineswegs um die Angst vor Homosexuellen. Längst umfasst der Begriff Feindseligkeit, Hass und sogar gewalttätige Angriffe gegenüber Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten. Leider ist das bis heute an der Tagesordnung. Wir müssen alles dafür tun, diese wieder wachsenden Tendenzen entschieden zu bekämpfen und sie zu ächten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie der Abg. Heike Hofmann (SPD))

In dieser Verantwortung sind wir auch, weil in unserem eigenen Land zwischen 1933 und 1945 eine fünfstellige Zahl schwuler Männer aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt wurde, an ihnen Kastrationen und andere abscheuliche medizinische Versuche durchgeführt wurden und viele von ihnen ermordet wurden. Auch nach der Nazizeit waren schwule Männer weiterer Verfolgung ausgesetzt. Der von den Nazis verschärfte § 175 des Strafgesetzbuchs blieb bis 1969 in Kraft. 50.000 Männer wurden Opfer dieses Paragrafen. Sie wurden verfolgt, drangsaliert und verurteilt, weil sie sind, wie sie sind.

Die Geschichte des 97-jährigen Frankfurters Wolfgang Lauinger, der vergangene Woche hier im Landtag zu Gast war und der aufgrund der Vermutung, ein „175er“ zu sein, sieben Monate in Untersuchungshaft saß, gibt ein eindrückliches Beispiel: Wolfgang Lauinger wurde 1950 von einem schon bei den Nazis tätigen Staatsanwalt eingesperrt, der als Beweis Gestapo-Akten aus der NS-Zeit heranzog. Es schmerzt uns heute, dass das in der jungen BRD möglich war. Aber wahr ist, dieser § 175 war von Beginn an mit Art. 1 unseres Grundgesetzes unvereinbar;

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

denn nicht die Würde des heterosexuellen Menschen ist unantastbar, sondern die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich will deshalb bei dieser Gelegenheit auch allen Fraktionen nochmals ausdrücklich dafür danken, dass wir uns 2012 und 2013 einstimmig bei den Opfern dieses Unrechts entschuldigt und die Aufarbeitung ihrer Schicksale beschlossen haben. In diesem Haushaltsjahr stehen auch die Mittel für Ausstellungen und Dokumentationen zur Verfügung. Staatssekretär Dreiseitel hat den Auftrag dafür ausgeschrieben. Wir kommen dem Ziel endlich näher.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Ich will aber auch der hessischen Justizministerin, Eva Kühne-Hörmann, danken, die im vergangenen Jahr die Vorlage eines Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetzes vorgeschlagen und das auch in der Justizministerkonferenz der Länder eingefordert hat. Das scheint nun nach Jahren der Prüfung endlich auch bei der Bundesregierung zu fruchten; denn vergangene Woche hat der Bundesjustizminister angekündigt, ein solches Gesetz vorzulegen. Das ist ausdrücklich richtig, es ist überfällig, und wir begrüßen das.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es kommt jetzt aber auch darauf an, zügig zu liefern. Die Zeit heilt nämlich keineswegs alle Wunden, und die Zahl der Männer, denen wir noch zu Lebzeiten ihre Würde zurückgeben können, nimmt stetig ab. Jede weitere Hängepartie in dieser Frage wäre unmenschlich.

Meine Damen und Herren, der 17. Mai mahnt, auch in der Gegenwart wachsam zu sein. Der teilweise tief verwurzelte Hass gegenüber Homosexuellen lebt fort. Die Gleichsetzung von Homosexualität mit Pädophilie, der Gedanke, Homosexualität heilen zu wollen, die Ausgrenzung von Menschen, die irgendwie anders sind: Das nimmt im Gefolge der rechtsextremistischen Hetzerinnen und Hetzer der AfD wieder zu – manches ganz unmittelbar, was die Stimmung angeht, aber auch mittelbar, weil das dumpfe Gefühl von „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ wieder um sich greift und Minderheiten bevorzugt zum Gegenstand des Hasses werden. Wir Lesben, Bisexuelle und Schwule genauso wie diejenigen mit abweichenden geschlechtlichen Identitäten sind aufgrund unserer historischen Erfahrung, wohin das führen kann, besonders hellhörig und nicht von ungefähr von Beginn an Teil des Widerstands gegen diese Partei – wehret den Anfängen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und der FDP)

Auch in Zukunft haben wir das eine oder andere zu tun, um diesen Tag vielleicht irgendwann überflüssig zu machen. Beispielsweise brauchen wir in Deutschland endlich auch ein zeitgemäßes Transsexuellengesetz. Wir GRÜNE wollen die Öffnung der Ehe und das Ende des Adoptionsverbots. Wir kämpfen weiter für die vollständige Gleichstellung; denn alles andere ist Diskriminierung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielfalt ist Chance und Bereicherung – keine Bedrohung. Auch viele gesellschaftliche Institutionen und Unternehmen haben das längst begriffen. Unsere Koalition bekennt sich zu Akzeptanz und Vielfalt. Wir treten gegen jede Form der Diskriminierung ein, und wir ergreifen konkrete Maßnahmen, wie den Aktionsplan und die Förderung von Antidiskriminierungsprojekten. Der 17. Mai ist jedes Jahr einer der Tage, der uns daran erinnert, warum das so wichtig ist. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vielen Dank, Kollege Klose. – Das Wort hat Frau Abg. Hofmann, SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist längst überfällig, dass verurteilte homosexuelle Männer in unserem Land rehabilitiert werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Aufgrund des sogenannten Homosexuellen-Paragrafen 175 sind Tausende von Menschen nicht nur in der NS-Zeit, sondern auch davor, bis zum Jahre 1994 in mehr oder weniger großer Härte und Dynamik verfolgt, stigmatisiert und aufgrund dieses Unrechtsparagrafen verurteilt worden – nur deshalb, weil sie sich lieben und liebten. Es ist beschämend und gehört zu den dunkelsten Kapiteln des Nachkriegsdeutschlands, dass sämtliche sexuelle Handlungen, auch bloß erotisch interpretierbare Annäherungen zwischen zwei Männern, bis 1969 unter Strafe standen und dieser Paragraf erst 1994 – das muss man sich leider auf der Zunge zergehen lassen – ersatzlos gestrichen wurde.

Es kam von 1969 bis 1995 – die Zahl der Verurteilungen ist von Kollegen Klose schon genannt worden – zu 50.000 Verurteilungen, aber auch zu weiteren 100.000 Ermittlungsverfahren gegen Homosexuelle in unserem Land. Was das für die einzelnen Betroffenen bedeutet hat, nämlich dass sie zum Teil in ihrer bürgerlichen Existenz vernichtet worden sind, dass sie ständig unter Angst leben mussten, stigmatisiert und verfolgt wurden – es gab sehr viele Selbstmorde –, können wir, glaube ich, nur erahnen, auch dass an dieser Stelle die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen mit Füßen getreten worden sind. Hier ist größtes Unrecht geschehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)