Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will mich zunächst für die ausführliche Beantwortung der Großen Anfrage bedanken. Herr Minister, die Antwort ist sogar fristgerecht eingegangen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es war im Jahr 2011, da habe ich an einer Lehrerfortbildung teilgenommen: Sicherheit an Holzbearbeitungsmaschinen. Das Wesentliche dabei war: Wir haben einen kleinen Drachen aus Holz gebaut, aus drei Sorten Holz zusammengeleimt. Das sieht etwa so aus wie Grisu, der kleine Drache. Den kennen Sie wahrscheinlich. Damit Sie sich vorstellen können, wie das aussieht: Am Ende ist das ein Türstopper geworden, um Türen offen zu halten – nur, damit Sie sich das vorstellen können.
Dieser kleine Drache steht im Grunde für das Fortbildungskonzept der Landesregierung für Arbeitslehre. Denn entweder gibt es an einer Schule keinen Arbeitslehreunterricht – oder es gibt einen Arbeitslehreunterricht, doch der wird überwiegend fachfremd unterrichtet. Unter dem Strich ist das aber alles bedeutungslos; denn Berufsorientierung hat heute für die Landesregierung gar nicht mehr viel mit Arbeitslehre zu tun, sondern ist Aufgabe von allen Lehrkräften. Den Lehrkräften, die keine Arbeitslehre studiert haben, bietet man solche Fortbildungen, wie ich sie eben beschrieben habe, den kleinen Drachen, an.
Diese Antwort auf die Große Anfrage ist eben leider wieder ein Beispiel dafür, wie weit weg die Landesregierung von der Unterrichtswirklichkeit in den Schulen ist. Das will ich Ihnen gerne darstellen, zuvor aber ein paar Bemerkungen zum Hintergrund dieser Großen Anfrage machen; denn ich vermute einmal, nicht jeder von Ihnen hat sie gänzlich gelesen.
Der Hintergrund ist, dass sowohl in der Allianz für Ausund Weiterbildung als auch auf dem fulminanten Bildungsgipfel eine große Einigkeit darin bestand, dass Berufsorientierung Aufgabe von allen Schulformen sein muss – gerade deshalb, weil zwar ein zunehmender Besuch von Gymnasien oder des Wegs zum Abitur – fast 50 % machen das – gut ist, wir aber trotzdem den Abiturienten zeigen
Gerade wir Sozialdemokraten halten nichts davon, schon in der 4. Klasse einzuteilen, ob jemand später eine Ausbildung macht oder studiert. Deswegen sollen alle Wege offen bleiben. Das ist eine gewisse Freiheit.
Eine solche Freiheit setzt auch voraus, dass man seine Alternativen kennt – deswegen auch am Gymnasium Berufsorientierung.
Wie gesagt, war das eigentlich einer der ganz großen Punkte – es gab ja nicht so viele –, bei denen man sich auf dem Bildungsgipfel einig war, dass das alle wollen.
Meine Damen und Herren, ich erinnere mich aber sehr gut, dass wir in diesem Zusammenhang darüber gesprochen haben: Wie machen wir das denn? Entweder machen wir auch im Gymnasium wieder Arbeitslehre – offenbar war das damals nicht die Mehrheitsmeinung –, oder aber man verankert das am Gymnasium in Politik und Wirtschaft. Eigentlich hatte ich es in Erinnerung, dass wir gesagt haben: Dann muss das aber auch mehr Stunden in PoWi mit sich bringen, denn das kann man nicht noch on the top machen.
Meine Damen und Herren, das war der Hintergrund für diese Große Anfrage – zu fragen: Was macht eigentlich die Landesregierung aus diesem Teilergebnis des Bildungsgipfels?
Heute ist leider keine Rede mehr von mehr Stunden. Das ist die erste große Enttäuschung bei dieser Antwort auf diese Große Anfrage.
Man bezieht sich ausschließlich auf den Erlass zur Ausgestaltung der Berufs- und Studienorientierung – aufgepasst – vom 8. Juni 2015. Der Bildungsgipfel jedoch endete am 17. Juli 2015. Das heißt aber doch, entweder war der ganze Gipfel eine Farce – denn selbst im Bereich der Berufsorientierung stand vorher schon längst fest, wohin die Reise geht, sodass man den Erlass schon geschrieben und veröffentlicht hatte, bevor der Gipfel zu Ende war –, oder aber Sie sind wieder einmal zurückgerudert, weil Ihre Mehrheit Ihren Plänen wieder nicht gefolgt ist.
Konkret zu den Antworten. Viele machen auf den ersten Blick einen durchaus schlüssigen Eindruck, wenn man sich die Haupt- und Realschule anschaut, denn dort gibt es sowohl in der ersten als auch in der zweiten Phase der Lehrerausbildung entsprechende Module. Auch das Fach Arbeitslehre wird angeboten. Problematisch wird es allerdings, wenn man sich die Berufsorientierung im gymnasialen Bildungsweg anschaut.
Da hilft ein Blick auf die Stundentafel. Während Hauptschüler in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 16 Wochenstunden Arbeitslehre bekommen, bekommt ein Gymnasiast in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 gerade einmal sieben Stunden PoWi. Diese sieben Stunden – da sind wir uns wahrscheinlich einig – sind wahrscheinlich nicht genug, zumindest nicht wirklich viel für Politik und Wirtschaft.
Spricht man mit Lehrkräften aus der Praxis, dann erfährt man, dass die Antwort auf die Große Anfrage ein Beispiel dafür ist, dass die Ansichten der Landesregierung und der Erlass nicht wirklich viel mit der Unterrichtswirklichkeit zu tun haben. Viele Probleme wollen oder können Sie nicht mehr erkennen, weil Sie sich zu sehr in Statistiken und Erlassen verlieren und gar nicht wirklich wissen, wie das vor Ort umgesetzt wird.
Um ein Beispiel zu nennen: Die Landesregierung argumentiert, der Erlass sage, allen Schülern solle ein Berufswahlpass ausgehändigt werden. Damit sei die Kuh vom Eis, weil es ja im Erlass stehe. – In letzter Zeit hören wir den Satz „Weil es eben irgendwo steht“ relativ oft. Sie wissen aber offenbar nicht, wie viele Berufswahlpässe nach dem Schulabschluss in der Schule liegen bleiben und inhaltlich ein ziemlich düsteres Bild abgeben. Das heißt: Nur deshalb, weil es in einem Erlass steht, heißt das nicht, dass es wirklich konsequent umgesetzt wird.
Das Problem spitzt sich im gymnasialen Bildungsgang zu, weil es da das Fach Arbeitslehre als Ankerfach nicht gibt. Vielmehr ist dort die Rede von Querschnittsaufgaben und fächerübergreifendem Unterricht. Querschnittsaufgaben sind natürlich sinnvoll. Selbstverständlich muss man in jedem Unterrichtsfach schauen, was da für Berufe verankert sind. Trotzdem muss es unserer Meinung nach ein echtes Ankerfach für die Berufsorientierung geben. Das kann eigentlich nur das Fach Arbeitslehre sein, und deshalb kann man sich nur wünschen, dass dieses Fach auch an den Gymnasien umgesetzt wird.
Das ist gar nicht so weit hergeholt. Manche hier im Hause reden ja gern über die Neunzigerjahre. Ich halte mich da immer zurück, denn ich schaue lieber in die Zukunft. Auch ich will ausnahmsweise in die Vergangenheit schauen. In den Neunzigerjahren hatte ich in meinem gymnasialen Bildungsgang Arbeitslehreunterricht – sogar bei einem echten Arbeitslehrelehrer. Davon können die heutigen Schülerinnen und Schüler nur träumen,
denn die Quote der fachfremd unterrichteten Arbeitslehrestunden steigt, während fast die Hälfte der dafür ausgebildeten Lehrkräfte das Fach überhaupt nicht unterrichtet. 70 % des Arbeitslehreunterrichts wurde 2013 dort, wo er angeboten wurde, fachfremd gegeben. Fast 12.000 der insgesamt 16.500 Stunden im Fach Arbeitslehre wurden fachfremd unterrichtet. Diese Landesregierung ist der Totengräber der Arbeitslehre. Das muss sich ändern.
Bei der Lehrerausbildung sieht es nicht wirklich besser aus. Auf die Frage, was in der Lehrerausbildung getan wird, liest man:
Das ist ein Satz, der mich sofort misstrauisch macht. Wenn ich mir anschaue, welche Module in der Antwort aufgeführt werden, die alle sehr allgemeiner Natur sind, kann ich
leider nur folgendes persönliche Fazit ziehen: Die Berufsorientierung ist jenseits der Haupt- und Realschule in der Lehrerausbildung leider nicht verankert.
Ich fasse zusammen. Wir haben einen Erlass, der vieles vorgibt, was nicht falsch ist. Ich nenne insbesondere die Erstellung eines fächerübergreifenden Curriculums an allen Schulen. Die Gretchenfrage ist aber: Findet all das überhaupt statt? Wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen Lehrkräften zur Organisation von Betriebspraktika, von Betriebserkundungen und Berufsinformationsangeboten aus? Wie wird die Schulsozialarbeit in die Berufs- und Studienorientierung einbezogen? Wo wird überhaupt Schulsozialarbeit betrieben? Ich rede hier von echter Schulsozialarbeit und nicht von der Krücke USF, meine Damen und Herren. Wie werden Schülerinnen und Schüler in regionalen Veranstaltungen zur Berufs- und Studienorientierung informiert? Sind an allen Schulen Curricula zur fächerübergreifenden Berufsorientierung entwickelt und umgesetzt? Man könnte ja sagen, das Gütesiegel Berufs- und Studienorientierung sei das Qualitätsmerkmal hierfür. Wann haben alle Schulen dieses Gütesiegel? Es wird, wenn man sich die aktuellen Zahlen anschaut, noch eine ganze Weile dauern, bis alle Schulen das haben. Wie werden alle diese Maßnahmen evaluiert? Bekommen die Ansprechpersonen in den Schulämtern und Schulen für die Berufs- und Studienorientierung eigentlich Entlastungsstunden? Wie werden die Lehrkräfte dafür qualifiziert?
Ich komme zum Schluss. Der Erlass zur Studien- und Berufsorientierung ist leider ein Papiertiger. Wir brauchen eine Stärkung des Arbeitslehreunterrichts an allen Schulformen. Wir brauchen einen Arbeitslehreunterricht, der gesunde Ernährung, technische Allgemeinbildung, Nachhaltigkeit, vernetztes Denken sowie das Lernen mit Kopf, Herz und Hand miteinander verbindet. Wir fordern, der Entprofessionalisierung durch immer mehr fachfremden Unterricht entgegenzutreten. Nehmen Sie das Fach Arbeitslehre ernst. Stärken Sie das Fach Arbeitslehre. Dann können Sie sich viele Aktivitäten sparen, deren Nutzen zweifelhaft ist. Das wäre eine wirkliche Stärkung der Berufsorientierung.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft befindet sich – wie alle Gesellschaften – in einem stetigen Wandel. Damit ist natürlich auch ein Wandel in der Berufswelt verbunden. Die Sorge, immer mehr junge Menschen an die Universitäten zu verlieren, erscheint mir aber etwas übertrieben; denn immer mehr Berufe werden akademisiert oder in weitere kleinere Berufsfelder fachzersplittert. Das kann man gut oder nicht gut finden, aber ein Wandel in der Berufswelt sollte uns nicht zwangsläufig Angst machen.
Wahr sind aber zwei Faktoren: Die Studierneigung der Schulabgängerinnen und Schulabgänger erhöht sich. Die
Hochschulen werden voller und die akademischen Berufe anscheinend gefragter. Das mag verschiedene Ursachen haben, auf die ich später noch einmal zurückkomme.
… alle hessischen Schülerinnen und Schüler [sollen] durch abgestimmte und qualifizierte Maßnahmen zur Berufs- und Studienorientierung auf die Berufswelt vorbereitet werden, damit sie am Ende ihrer Schulzeit eine gezielte Berufswahlentscheidung treffen können, die die eigenen Interessen und Kompetenzen berücksichtigt und sie in eine duale Ausbildung oder ein Studium führt.
Ich weiß, dass eine solche Entscheidung häufig beim Verlassen der Schule noch nicht getroffen werden kann, dass sowohl die Reife als auch der Überblick fehlen; aber dieses als Ziel auszugeben, erscheint mir durchaus sinnvoll.
Wenn wir uns die Antworten der Landesregierung auf die Große Anfrage anschauen, dann fällt eines auf: Die Gymnasien bekleiden nach wie vor eine Sonderstellung, obwohl sie sich selbst damit brüsten, die meistgefragte Schulform zu sein. Während Lehramtsstudierende der beruflichen Schulen sowie der Haupt- und Realschulen in der zweiten Phase der Lehrerausbildung bereits während des Studiums auf die Vermittlung der Berufsorientierung vorbereitet werden, scheinen zukünftige Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer dies nicht zu brauchen. Jedenfalls ist es in den Modulen nicht verankert. Warum ist das so? – Weil man nach wie vor anscheinend der Meinung ist, dass die Gymnasialklientel keine Berufsorientierung braucht, die zu einem Ausbildungsberuf führen würde.
Herr Kultusminister, hier findet sich ein erstes Indiz dafür, warum die Studierneigung zunimmt: So wird den jungen Menschen schon frühzeitig vermittelt, dass Absolventinnen und Absolventen der angeblich besten Schulform keine duale Berufsausbildung beginnen sollen, sondern ein Studium anstreben werden. Dies bestätigt auch die Anlage zur Großen Anfrage. Gefragt wird nach den Schulen, die das Gütesiegel Berufsorientierung Hessen tragen. Von den insgesamt 139 Schulen, die in Hessen Gütesiegelschulen für Berufsorientierung sind, sind gerade einmal sieben Gymnasien in insgesamt lediglich vier Schulamtsbezirken.
Ich will nicht sagen, dass kein Umdenken stattfindet. Wie der Kultusminister hier erwähnt hat, sind verpflichtende Praktika auch in Gymnasien mittlerweile Bestandteil der dort stattfindenden Berufsorientierung. Allerdings sieht das Praktikum in der Oberstufe durchaus auch eine Orientierung auf das Studium vor. Das ist an sich natürlich sinnvoll, stärkt aber nicht unbedingt das Bemühen, beide Wege als gleichwertig zu setzen, was wir für sinnvoll halten.
Eingangs erwähnt habe ich, dass die erstarkte Studierneigung verschiedene Gründe hat. Einen habe ich eben aufgezählt; aber es gibt weitere. Beispielsweise zeigt uns die aktuelle OECD-Statistik, dass Akademikerinnen und Akademiker nur ca. halb so stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind wie die Absolventen dualer Ausbildungen. Ebenso zeigt die Statistik, dass das Einkommen von Akademikerinnen und Akademikern durchschnittlich höher liegt als das der Absolventen dualer Ausbildungen. Hier muss unseres Erachtens dringend der Hebel angesetzt werden, um die