Protocol of the Session on December 17, 2015

Beim letzten Konvent fanden die zwölf Sitzungen der Kommission vom 19.11.2003 bis 18.03.2005, mit einer Ausnahme in Form einer öffentlichen Anhörung, mit ausgewählten Teilnehmern – Herr Wintermeyer wird sich erinnern – hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Entscheidungen, welche zum Kompromiss führten, wurden sogar nur unter den vier Obleuten im stillen Kämmerlein getroffen. Dem wollen wir mit unserem Antrag entgegenwirken.

(Beifall bei der LINKEN)

In den Änderungsvorschlägen der Enquetekommission von 2005 ging es vorwiegend um die Eliminierung der sozialen Verfassungsbestimmungen. Das Verbot der Aussperrung wurde aufgeweicht und die Tarifautonomie gar mit betrieblichen Vereinbarungen gleichgesetzt. Die Pflicht, eine für „das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung zu schaffen“, wurde gestrichen. Art. 38 „Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes … zu dienen“ wurde der Satz vorangestellt: „Die wirtschaftliche Betätigung ist frei....“ Die Möglichkeit, Vermögen einzuziehen, welches die Gefahr des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht in sich birgt, wurde gestrichen. Der Sozialisierungsartikel, Art. 41, wurde ebenfalls gestrichen.

Daneben sollten die lästigen Hürden für Verfassungsänderungen beseitigt werden. Die verbindliche Volksabstimmung für eine Verfassungsänderung wurde gestrichen und durch eine Zweidrittelmehrheit für Änderungen der Verfassung im Landtag ersetzt.

Die Vorschläge der Enquetekommission scheiterten letztlich am Widerstand der SPD, unterstützt vom hessischen DGB. In ihrem Sondervotum zum Bericht der Enquetekommission kritisierte die SPD, dass die Änderungsvorschläge

zu einem Demokratieabbau in Hessen führen und an die Stelle einer sozialstaatlich geprägten Wirtschaftsverfassung vom Geist des Neoliberalismus getragene Verfassungsbestimmungen setzen …

würden. Eine Verteidigung des Art. 41 wurde in der öffentlichen Debatte aber auch von der SPD nicht ausdrücklich gefordert.

Was kennzeichnet nun diese Hessische Verfassung? – Ich will mich da auf zwei Aspekte konzentrieren.

Das eine ist das Bekenntnis zum Frieden und die konsequente Verurteilung des Krieges. Das Friedensbekenntnis ist zwar nicht allein spezifisch für die Hessische Verfassung. Es findet sich auch in den Aussagen des Grundgesetzes und in etlichen Landesverfassungen. Und doch ist die hessische Norm anders. Sie lautet in Art. 69:

(1) Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Der Krieg ist geächtet. (2) Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, einen Krieg vorzubereiten, ist verfassungswidrig.

Der zweite Aspekt, auf den ich leider aber nicht tiefer eingehen kann, sind die Fragen der Sozial- und Wirtschaftsordnung, bei denen die Hessische Verfassung eine eindeutige Ausnahmestellung hat. Sie sind auch das eigentliche Ziel der bürgerlichen Parteien. Ich will Erwin Stein, CDU, nach der Verabschiedung der Verfassung erster Kultusminister und zeitweise auch Justizminister in Hessen, sowie später 20 Jahre lang Bundesverfassungsrichter, zitieren. Er schrieb in einem Aufsatz im Jahre 1976 zum 30. Jahrestag der Hessischen Verfassung:

Von allen Nachkriegsverfassungen ist die Hessische Verfassung das erste Staatsgrundgesetz, das den Wandel von der nur liberal-humanitären zur sozialhumanitären Ordnung vollzogen hat.

Er erläutert das näher mit den Worten:

Mit der Anerkennung der sozialen Achtung des Menschen vollzieht die Verfassung die geistige Wende zum Sozialstaat. … Dazu gehören vor allem: das Recht auf Arbeit und Erholung, das Recht auf soziale Gleichheit und Sicherheit, das Recht auf Schutz der Gesundheit, das Recht auf Bildung und Erziehung, vor allem die Schulgeld- und Lernmittelfreiheit, sowie das Recht auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Fortschritt.

So weit Erwin Stein.

Was nun die Wirtschaftsordnung betrifft, so bezieht die Hessische Verfassung eine eindeutig antikapitalistische Grundposition. Art. 38 räumt den demokratischen Mitwirkungsrechten, der sozialen Gerechtigkeit und den Lebensbedürfnissen der Menschen klaren Vorrang vor den Interessen der Kapitaleigner ein.

Das Grundgesetz hat diese antikapitalistische Grundposition nicht übernommen. Aber es ist, wie auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt hat, wirtschaftspolitisch neutral. Es enthält auch die Vergesellschaftungsoption des Art. 15, sodass danach auch eine sozialistische Wirtschaftsordnung verfassungsmäßig möglich wäre. Das ändert natürlich nichts daran, dass 60 Jahre Kapitalismus die Rechtsordnung der Bundesrepublik seit ihrer Gründung wesentlich geprägt haben. Die politischen Entscheidungen wurden zugunsten des Kapitals getroffen, aber das Grundgesetz macht sie nicht unumkehrbar. Art. 15 des Grundgesetzes ist eine legale Grundlage für eine Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr van Ooyen, kommen Sie zum Schluss.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

Wenn uns heute jemand auf die Hessische Verfassung anspricht, dann werden wir lediglich auf die Todesstrafe angesprochen. Das ist aber nicht der Kern der Sache.

Wenn wir eine neue, bessere Verfassung wollen, dann wird das eine Frage des politischen Kampfes sein. Dabei sollten

wir alle Versuche abwehren, den neoliberalen Charakter bisheriger Vorschläge einzuarbeiten. Wir sollten an die früheren Erkenntnisse der Verfassungsgründer anknüpfen, die schon einmal die Menschen dazu bewogen haben, über die Scheuklappen des Kapitalismus hinauszudenken. Dafür werden wir uns in der Kommission einsetzen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Herr van Ooyen. – Für die SPD-Fraktion hat sich ihr Vorsitzender, Herr Schäfer-Gümbel, gemeldet.

Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst will ich dort anschließen, wo mein Kollege Boddenberg begonnen und auch wieder geschlossen hat, nämlich bei dem Bekenntnis dazu, eine Verfassungsreform möglichst gemeinsam auf den Weg zu bringen. Deswegen will ich an der Stelle ausdrücklich sagen, dass wir nach intensiven Gesprächen – das kann man nicht anders sagen – aus meiner Sicht einen runden Einsetzungsbeschluss zustande gebracht haben, der ausdrücklich viele Fragen offenlässt. Denn wir wissen, auch mit Blick auf die Beteiligung, die wir anstreben, die öffentliche wie auch die parlamentarische, dass wir im Lauf der nächsten zwei Jahre sicherlich eine Vielzahl von Fragen diskutieren werden, deren Ergebnis heute nicht feststeht; sonst würde der Prozess auch keinen Sinn machen. Deswegen meinerseits ganz herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen einschließlich der LINKEN, die sich in den Vorgesprächen rege daran beteiligt haben – unabhängig von Einschätzungen, die es dazu gibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Boddenberg hat auch einige Bemerkungen dazu gemacht, wie wir uns den Prozess vorstellen: auf der einen Seite die Enquetekommission als Sonderausschuss des Hessischen Landtags mit Unterstützung von Fachleuten aus den unterschiedlichsten Disziplinen, auf der anderen Seite mit einem Teil, der sich an die Öffentlichkeit richtet, im Rahmen von Schülerwettbewerben, von Anfragen an Universitäten und Hochschulen, sich in diese Debatte einzumischen, aber auch an alle anderen gesellschaftlichen Gruppen. Denn wenn wir über die Verfassung reden, reden wir über die Grundlagen unseres Gesellschafts- und Staatssystems. Deswegen ist es richtig, dass das so geöffnet wird, um am Ende zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen.

Ich will dabei nicht verhehlen, dass wir als sozialdemokratische Landtagsfraktion uns gewünscht hätten, diesen Prozess früher zu beginnen, um nach Möglichkeit mit der Bundestagswahl 2017 einen möglichen Volksentscheid zu einer neuen Verfassung abzuschließen, unter anderem weil wir eine Idee davon hätten, auch das Staatsorganisationsrecht anzupacken, also die Regeln, die sich mit den Fragen beschäftigen: „Wie arbeitet eigentlich dieses Parlament, wie arbeitet die Regierung, wie arbeiten aber auch die verschiedenen Ebenen zusammen?“, und das schon in einer Form, die möglicherweise Ausfluss auf die nächste Legislaturperiode ab dem Jahr 2019 hat, und nicht erst mögli

cherweise ab 2024, wenn ein neuer Landtag gewählt würde. Das bedauern wir ausdrücklich.

Das wird aber aus unserer Sicht – das räume ich ausdrücklich ein – fast nicht möglich sein. Bei dem Programm, das sich die Enquetekommission vornehmen soll, ist es unrealistisch, ernsthaft bis zur Bundestagswahl 2017 einen Beschlusstext so vorzulegen, dass er parlamentarisch bearbeitet werden kann und anschließend auch noch sinnvoll in der Öffentlichkeit beraten werden kann – was zu Problemen führt, wenn man die Zeit dafür schlicht und einfach nicht hat.

Wir bedauern auch ein Stück weit – aber ich glaube, dass zumindest das politische Verständnis dafür auf allen Seiten da ist –, dass es, anders als bei der letzten Verfassungsreform, nicht möglich war, eine wirklich klare und harte Ansage aus den Reihen der Regierungsfraktionen zu bekommen – Ihr strukturelles Argument kann ich dabei nachvollziehen –, dass wir entweder eine Verfassungsreform zusammen machen oder sie nicht machen. Das war damals die klare Aussage und Zusage von Dr. Jung, der seitens der damaligen Regierungsfraktionen die Verhandlungen geführt hat, um am Ende klarzumachen, dass, wenn es in einer weitreichenden Verfassungsreform nicht zu einem möglichen Konsens kommt, der weite Teile des Landtags abbildet, sie eben nicht gemacht wird. Das war übrigens der Grund, warum die Verfassungsreform beim letzten Mal gescheitert ist – Willi van Ooyen hat darauf ausdrücklich hingewiesen –: weil es in einer sehr zentralen Frage zu keiner Verständigung gekommen ist.

Das war in den Vorverhandlungen und Vorgesprächen nicht möglich; das bedauern wir. Aber ich glaube, dass die politische Sensibilität dafür auf allen Seiten da ist.

Damit will ich allerdings ein paar inhaltliche Bemerkungen machen, weil jenseits der vier Punkte, die Herr Boddenberg schon aufgeschrieben und erläutert hat, auch auf der Grundlage des Koalitionsvertrags von Schwarz-Grün, die zu überprüfen sind, aus unserer Sicht eine Reihe von weiteren Punkten dazukommen muss.

Ich will mit dem Wichtigsten beginnen: Was ist das Besondere an der hessischen Landesverfassung im Vergleich zu allen anderen Verfassungen im Bundesgebiet und, noch stärker akzentuiert, im Vergleich zum Grundgesetz? Das ist ihre konsequent freiheitliche und soziale Ausrichtung.

(Beifall bei der SPD)

Die Hessische Verfassung ist die am stärksten akzentuierte in freiheitlichen Fragen und in Fragen des sozialen Ausgleichs.

Das Spannende für uns an dieser Debatte ist – deswegen habe ich das an einer Stelle schon mit einem konkreten Projekt unterlegt –: Wie schaffen wir es, die älteste Landesverfassung der Republik so zu modernisieren, dass sie nicht in die Gefahr gerät, die Willi van Ooyen hier beschrieben hat? Wie schaffen wir es, diesen freiheitlichen und sozialen Kern so zu modernisieren, dass er nicht nur historisch beschreibt, welche Themen es in der Vergangenheit gab, sondern dass wir eine Landesverfassung mit Wirkungsmächtigkeit bauen, die sagt, wie wir auch im Zeitalter der Globalisierung unter völlig veränderten Rahmenbedingungen diesen Kern weiterentwickeln? Gibt es überhaupt die Chance dazu und, wenn ja, in welcher Form?

Deswegen haben wir darauf hingewiesen, dass beispielsweise bei der Frage der kostenfreien Bildung aus unserer

Sicht am Verfassungstext nachzuarbeiten ist, ausdrücklich auch in Würdigung – jetzt muss ich aufpassen, dass ich nichts Unparlamentarisches sage – eines aus unserer Sicht nach wie vor ungewöhnlich überraschenden Ergebnisses einer Mehrheit des Staatsgerichtshofs zum Thema Studiengebühren.

(Beifall bei der SPD – Janine Wissler (DIE LINKE): Allerdings!)

Dieses Urteil hat uns doch sehr überrascht angesichts des Textes, der vorliegt. Deswegen wird das eine der Fragen sein, die wir ganz dezidiert in die Gespräche dieser Verfassungsenquetekommission einbringen.

Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, der uns an den Anfang dieser Plenarwoche bringt, den es ebenfalls lohnt in die Verhandlungen einzubringen, nämlich die Übersetzung des weitreichendsten Integrationsversprechens, das je ein Politiker abgegeben hat, nämlich der aus meiner Sicht nach wie vor wirkungsstärkste Ministerpräsident unseres Bundeslandes, Georg August Zinn, als er Anfang der Sechzigerjahre den denkwürdigen Satz formulierte: „Hesse ist, wer Hesse sein will.“

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Zu überlegen, wie wir das Integrationsversprechen von Georg August Zinn, das nun wirklich weitreichende Bedeutung hat, jenseits der Punkte, die, wie gesagt, aus dem Koalitionsvertrag herkommen, in der hessischen Landesverfassung verankern können, finde ich eine sehr wichtige und spannende Aufgabe der Enquetekommission. Aus meiner Sicht gilt es, die Aufgabe zu erfüllen, wie man die derzeit geltende Landesverfassung mit dem starken freiheitlichen Kern und dem starken sozialen Kern modernisiert.

Das sind die Fragen, die uns besonders beschäftigen und die wir einbringen werden. Wir werden sicherlich noch andere Fragen einbringen, die zu regeln sind.

Wir wollen in der Enquetekommission noch etwas anderes tun. Das ist auch im Text verankert. Auch das halten wir für notwendig, wenn wir über die Verfassung reden. Es ist zu überprüfen, welche Wirkungen eigentlich die Verfassungsänderungen der letzten Jahre in der Wirklichkeit haben.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir über die Staatsziele, wie beispielsweise den Sport oder die Kultur, reden, muss man fragen: Welche Wirkung hat das denn in der Realität? Ist der Sport, wenn er als Staatsziel beschrieben wird, weiterhin eine freiwillige Aufgabe, oder nicht? Welche Auswirkungen hat das auf die konkrete Politik und für das Handeln aller staatlichen Ebenen und der kommunalen Ebene? Oder ist es sozusagen etwas, was man als abstrakte Zielbeschreibung ohne wirkliche Wirkung nennt?

Ich glaube, dass wir aufpassen müssen, dass unsere Verfassung nicht einfach ein Text ist, bei dem ein paar nette Sätze zusammengeschrieben sind, die aber bei diesen Punkten überhaupt keine Wirkung entfalten.

(Beifall bei der SPD)