Protocol of the Session on March 11, 2014

Fassen wir einmal zusammen, was die Schülerinnen und Schüler in Hessen wollen – einige sitzen hier heute direkt

über mir, die ich damit auch recht herzlich begrüße. Welche Bedingungen die Schüler und Schülerinnen fordern und welche gut für sie wären, scheint Ihnen relativ egal zu sein, Herr Kultusminister. Weder beim Thema G 8 noch bei der Inklusion oder bei der Behebung der sozialen Selektion werden und wurden die Schülerinnen und Schüler gehört. Ebenso verhält es sich bei den Eltern: Seit Jahren protestieren die Eltern gegen G 8. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch echte Ganztagsschulen ist nicht gegeben und wird auch nicht in Angriff genommen. Beim Thema Inklusion werden bewusst Ängste geschürt und mit diesen gespielt. Ich nehme einmal an, Ihre ausgestreckte Hand hat bei dem Großteil der Väter und Mütter ins Leere gegriffen. Und die Lehrerinnen und Lehrer werden weiter zusätzlich belastet – ein Trend, der sich verstärkt, statt zurückzugehen.

Nun möchte ich in Anbetracht der ganzen von mir benannten Dinge von Ihnen wissen, wo gemeinsam Schulpolitik gemacht werden und wie Schulfrieden tatsächlich einkehren soll. Von schönen Worten allein verändert sich nichts. Es gibt eine Menge zu tun, und die Erwartungen an den neuen Kultusminister sind tatsächlich und berechtigterweise hoch. Doch nach meiner Einschätzung werden sich mit dem, was wir heute gehört haben, diese Erwartungen nicht erfüllen lassen. Wenn Sie den Titel Ihrer Regierungserklärung ernst meinen, müssen Sie auf die Beteiligten zugehen, sich auf deren Bedürfnisse einlassen und ihre Lösungsvorschläge berücksichtigen. Sie müssen die Lebens- und Bildungsrealitäten der Schülerinnen und Schüler und auch ihrer Eltern ansehen und ernst nehmen. Genau so sollte Politik auch gestaltet werden: mit den und für die Betroffenen. Dazu brauchen Sie natürlich auch die entsprechende finanzielle Unterstützung. Herr Kultusminister, Sie haben sich einiges vorgenommen. Das ehrt Sie, und ich hoffe, dass Sie darin erfolgreicher sein werden als ihre Vorgängerin. – Ich bedanke mich.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Frau Cárdenas. – Für die CDU-Fraktion hat sich Herr Irmer zu Wort gemeldet.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Da kommt die ausgestreckte Hand!)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Dezember 2013 im Koalitionsvertrag festgehalten, einen Bildungsgipfel implementieren zu wollen, und zwar unter dem Motto – wie es Kollege Wagner völlig zu Recht gesagt hat – der ausgestreckten Hand den Versuch zu unternehmen, ob man in diesem Land in irgendeiner Form in der Bildungspolitik verstärkte Kooperationen schaffen kann, um damit möglicherweise bestimmte Gräben der Vergangenheit zu überwinden.

Ich bedauere es ein klein wenig, dass diese Chance von den verschiedenen Rednern der Oppositionsfraktionen nicht ergriffen worden ist. Ich hätte mich gefreut, wenn an dieser Stelle Vorschläge von Ihrer Seite dazu gekommen wären, was die SPD oder die FDP beispielsweise konkret unter dem Bildungsgipfel verstehen, was Sie sich inhaltlich vorstellen, welche Vorschläge Sie haben. Dazu ist, zurück

haltend formuliert, relativ wenig gekommen. Im Grunde genommen sind Sie ein klein wenig in alte Reflexe zurückgefallen.

Ich will an dieser Stelle sehr bewusst darauf verzichten, meinerseits die Opposition zu kritisieren. Ich glaube, das wäre der falsche Weg. Wenn wir eine ausgestreckte Hand anbieten, macht es keinen Sinn, gleichzeitig die zu attackieren, mit denen wir – das ist unser Angebot – gern zusammenarbeiten wollen. Ich füge ausdrücklich hinzu – Herr Kollege Degen hat es vorhin gesagt –, Sie als Sozialdemokraten haben den Vorschlag gemacht, eine Enquetekommission einzusetzen, nachdem im Koalitionsvertrag der Bildungsgipfel fixiert war. Das ist Ihr gutes Recht. Sie haben gesagt, wir können versuchen, möglicherweise gemeinsam etwas hinzubekommen. Wir – GRÜNE genauso wie CDU – haben unsererseits gesagt, wir sind bereit, mit euch darüber zu reden. Wir haben konkrete Vorschläge unterbreitet. Ich muss offen gestehen: In einer kleinen Runde der Sprecher herrschte eine sehr konstruktive Atmosphäre. In der Tat haben wir es geschafft, gemeinsam einen Antragstext zu formulieren, in den sehr viel von dem eingegangen ist, was wir – CDU und GRÜNE – unsererseits formuliert haben. Das ist positiv, meine Damen und Herren. Das zeigt: Es geht, wenn man will.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lothar Quanz (SPD))

Und, Freunde, jetzt geben Sie uns doch die Chance, mit dem Bildungsgipfel in die gleiche Richtung zu marschieren. Das wäre des Schweißes der Edlen wert.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn der Kollege Schäfer-Gümbel erklärt, der runde Tisch zum Abnicken sei kein Dialog, bezogen auf den Bildungsgipfel, oder die soziale Herkunft beeinflusse die Bildungschancen zu stark, sodass es den angestrebten Schulfrieden nicht geben könne, dann nehmen Sie doch im Grunde genommen Ergebnisse vorweg. Wir wollen doch erst einmal darüber reden, was wir möglicherweise erreichen können; denn hinsichtlich der sozialen Disparitäten sind wir in der Sache doch gar nicht auseinander, da haben wir doch ein gemeinsames Ziel, diese zu reduzieren. Also geben Sie doch bitte allen Beteiligten die Chance, in der Sache darüber zu streiten und zu schauen, was wir im Sinne dieses gemeinsamen Ansinnens aller Fraktionen erreichen können.

Die Grundvoraussetzungen sind in diesem Bundesland doch hervorragend. Von daher, lieber Herr Kollege Greilich, kann ich Sie auch gar nicht verstehen und haben Sie es auch gar nicht nötig, neben dem berechtigten Lob in Ihrem Beitrag die Abteilung Attacke in dieser Form zu reiten.

Ganz offen gestanden: Die Grundvoraussetzungen sind doch da. Wir haben über 50.000 Vollzeitlehrerstellen in diesem Bundesland – so viele wie noch nie. Wir haben im Grundschulbereich die kleinsten Klassen aller westdeutschen Bundesländer. Wir haben so viel Unterricht wie noch nie. Wir hatten noch nie so viele Mittel im Bildungsetat gehabt wie jetzt. Wir haben 105 % Unterrichtsversorgung, ja. – Da kann man sagen, das sei zu wenig. Das kann man immer sagen, Herr Kollege Degen. Weil Sie es eben gesagt haben: Als Sie 1999 von der Schule gegangen sind, hatten Sie 85 % Unterrichtsabdeckung. Heute sind es

105 %, das macht 20 Prozentpunkte mehr. Das ist der kleine, aber feine Unterschied zwischen damals und heute.

(Beifall bei der CDU)

Herr Kollege Wagner hat auch völlig zu Recht darauf hingewiesen: 300 Stellen Sozialindex haben wir in der letzten Legislaturperiode implementiert, jetzt verdoppeln wir auf 600. Das ist Sozial- und Gesellschaftspolitik im besten Sinne, nämlich durch den Versuch, junge Menschen so zu fördern, dass wir möglichst viel Individualförderung hinbekommen. Das ist doch schon in dem Sinne dessen, was Sie selbst gesagt haben.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erinnere daran, dass wir – das hatten Sie kritisiert, und das ist Ihr gutes Recht, Herr Kollege Degen – nicht überall Ganztagsschulen oder genügend Ganztagsangebote haben. Aber auch da sage ich: Wir haben sowohl zu CDU-Zeiten, gemeinsam mit der FDP als auch heute mit den GRÜNEN kontinuierlich, verlässlich, berechenbar die Zahl der Ganztagsangebote und der zur Verfügung gestellten Lehrerstellen systematisch erhöht – vertrauenswürdig, kontinuierlich.

(Beifall bei der CDU)

Aus meiner Sicht ist es – da bedanke ich mich ausdrücklich bei den Kollegen in der Fraktion der CDU und bei den Kollegen der GRÜNEN, aber auch beim Finanzminister und der Regierung – eine historische Leistung, zu erklären und zu beschließen, dass die demografische Rendite im System bleibt. Das ist historisch, und das ist einmalig in Deutschland. Das muss man gelegentlich erwähnen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das unterscheidet uns von allen anderen Bundesländern, egal, in welcher Konstellation sie regiert werden, ob RotGrün, Grün-Rot, Rot-Rot oder was auch immer. Ich will überhaupt keine Vorwürfe erheben. Ich stelle es einfach fest; und daraus ergeben sich Spielräume.

Meine Damen und Herren, was man erreichen kann, wenn man sich anstrengt, das können wir doch gemeinsam an PISA besichtigen. Die Bundesbildungsministerin Prof. Wanka hat erklärt, PISA 2000 war ein Schock, nicht nur wegen der fachlichen Ergebnisse, sondern weil seinerzeit die Abhängigkeit vom sozialen Status vergleichsweise groß war. Wer würde dem widersprechen?

Das war 2000. 2009 stellt das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung, DIPF, in Frankfurt fest: Die Schülerergebnisse sind inhaltlich deutlich verbessert gegenüber den Ergebnissen des Jahres 2000, gerade im Bereich der Leseleistung.

Auf 2012 können wir gemeinsam ein wenig stolz sein. Prof. Prenzel von der TU München stellt fest, bei Mathe haben wir 514 Punkte. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 494 Punkten. Das sind 20 Punkte mehr, und das entspricht einem halben Schuljahr mehr Erfahrung: bessere Ergebnisse. Wir sind, um es kurz zu machen, in allen drei Bereichen – Mathe, Lesekompetenz und Naturwissenschaften – in Deutschland deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Das ist ein tolles Ergebnis für unsere Schüler.

Alle Bundesländer haben versucht, sich darauf zu konzentrieren, Verbesserungen herbeizuführen. Das ist nicht zu kritisieren. Das zeigt eben: Wenn man Mittel im System

lässt, wenn man sich anstrengt, kann man eine ganze Menge erreichen. – Aber es ist noch nicht alles geschafft. Auch das ist unstreitig. Prenzel sagt völlig zu Recht: Es hat erhebliche Verbesserungen bei den schwächsten Schülern gegeben bei PISA 2012 im Vergleich zu 2009 und zu 2000. Bei den schwächsten Schülern die deutlichsten Verbesserungen – das ist Gesellschaftspolitik, Sozialpolitik im besten Sinne des Wortes; denn denen müssen wir in besonderer Weise helfen, die Hilfe benötigen. Das haben wir damit erreicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Er sagt aber auch: Wir müssen mehr tun für talentierte Schüler. Wir brauchen auch eine Eliteförderung. – Auch das ist richtig.

Der dritte Aspekt, und damit will ich mein Eingehen auf Herrn Prenzel beenden: Er hat festgestellt – bzw. PISA hat es festgestellt, und er hat es formuliert –: Der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialem Status ist deutlich abgeschwächt. – Das ist ein hervorragendes Ergebnis.

(Beifall bei der CDU)

Dazu passen die aktuellen Studien, beispielsweise die Studie von der Universität Hannover, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, also kein Nobody. Dort heißt es – ich zitiere aus einem Interview mit Herrn Prof. Puhani –: Die Studie zeigt,

… dass vieles von dem, was in Deutschland debattiert worden war, schlicht Quatsch ist. Das Schulsystem ist durchlässig. Schüler, die nach der Grundschule nicht gleich aufs Gymnasium gehen, stellen sich im späteren Leben beim Bildungsstand, im Beruf und beim Einkommen keineswegs schlechter als andere Schüler mit gleichen Begabungen.

Fortsetzung des Zitats:

Die Stärke des dreigliedrigen Systems liegt darin, dass die Lerninhalte auf die unterschiedlichen Begabungen der Schüler abstellen.

Das Gleiche geht aus einem Artikel der „FAZ“ zur gleichen Thematik hervor. Ich zitiere aus der „Frankfurter Rundschau“, die einen Bericht über eine Studie geschrieben hat, die die Stadt Offenbach in Auftrag gegeben hat. Dort wird festgestellt: Die Studie verdeutlicht,

… dass das Schulsystem in hohem Grade durchlässig ist, und wer als Kind es nicht aufs Gymnasium schafft, als Erwachsener dennoch Abitur machen kann.

Ja, das ist richtig, und es ist auch gut so, dass diese Möglichkeit besteht.

(Beifall bei der CDU)

Wir haben SchuB-Klassen, wir haben EIBE. Kollege Klein ist derjenige, der unermüdlich dafür wirbt, dass wir SchuB und EIBE fortsetzen, von mir aus auch mit anderer Begrifflichkeit. Wir haben die Mittelstufenschule, um Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Wir haben die Abendkollegs, die Hessenkollegs, alles Möglichkeiten, wo junge Leute, wenn sie am Anfang vielleicht nicht ganz so weit waren wie am Ende, die Chance haben, entsprechend höherwertige Schulabschlüsse zu erreichen. Mindestens 30 % derjenigen, die heute in Hochschulen sind, haben ihr Abitur nicht über den klassischen Weg gemacht, sondern

über andere Systeme. Das ist doch hervorragend. Aber spätestens hier wird deutlich, dass das System durchlässig ist.

(Beifall bei der CDU)

Das heißt im Klartext: Wir sollten wirklich einmal darüber nachdenken, ob wir unbedingt die Schulformdebatte, die Schulstrukturdebatte in dieser Form, in der Intensität führen müssen. Können wir nicht vielleicht versuchen, uns auf das zu konzentrieren, was möglicherweise viel wichtiger ist, was essenziell ist für den schulischen Erfolg?

Der Kultusminister hat aus meiner Sicht völlig zu Recht in seiner Erklärung davon gesprochen, dass wir die Bildungsgerechtigkeit stärken müssen. Das ist so, meine Damen und Herren, völlig unstreitig. Ich will an dieser Stelle auf die Gesamtschulstudien von Prof. Fend eingehen. Sie waren alle gut gemeint: integrierte Gesamtschulen in der Reinkultur der Siebzigerjahre, mehr soziale Kompetenz, weniger Abhängigkeit vom sozialen Status und mehr Leistungsfähigkeit. Das Ergebnis kennen wir. Das sind Annahmen, die gut gemeint waren, aber nicht in die Tat umgesetzt wurden. Also müssen wir trotzdem gucken, weil es diese Differenzen noch gibt, aber abgeschwächt, wie PISA formuliert hat: Wir kriegen wir es hin?

Da müssen wir aus meiner pädagogischen Sicht – das ist für mich keine politische Debatte, sondern eine pädagogische – überlegen: Wir müssen im Grunde konstatieren, dass Menschen unterschiedlich sind, unterschiedliche Begabungen haben, Neigungen, Talente, Fähigkeiten. Wenn ich diesen unterschiedlichen Begabungen und Talenten optimale individuelle Entwicklungsmöglichkeiten geben will, muss ich ihnen unterschiedliche Lernangebote machen, unter dem Motto: Stärken stärken, Selbstbewusstsein schaffen.

Meine Damen und Herren, wenn ein Schüler jeden Tag in der Schule vorexerziert bekommt, dass er das fünfte Rad am Wagen ist, hat er keine Chance, Selbstbewusstsein zu schaffen. Aber jeder Mensch braucht Selbstbewusstsein. Das ist auch eine soziale Arbeit.

(Beifall bei der CDU)

Jeder Mensch – das muss man ihm klarmachen – kann in dieser Gesellschaft etwas. Jeder hat seine Fähigkeiten. Wir müssen ihm die Chance geben, dies auch zu zeigen. Deshalb brauchen wir, und das ist unstreitig, entsprechende individuelle Förderung.