Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Es waren sehr mutige Menschen, die sich dem Nicht-erinnern-Wollen entgegenstellten, die konsequent die Aufklärung und Verfolgung der Verbrechen in den Konzentrationslagern betrieben haben. Sie verdienen allergrößten Respekt, allen voran der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.
Sich erinnern, jede und jeder, persönlich, und den nachwachsenden Generationen die Erinnerung zu vermitteln bleibt deshalb dauerhafte Aufgabe. Aber ist sich erinnern zu wollen heute noch die alleinige Frage? 1985 stellte sie sich allerdings noch.
Heinrich Wefing schreibt in dieser Woche in der Zeitschrift „Die Zeit“, wir befinden uns „an der Schwelle zwischen der persönlichen Erinnerung und der musealen Gedächtniskultur“. Schon mein eigener jüngster Bruder hat kaum eine Erinnerung an den Großvater, der, wohl nur ein Mitläufer, selbst einmal eine Waffen-SS-Uniform besaß.
Die Herausforderung der Gegenwart ist deshalb nicht nur das historische Gedenken. Die Herausforderung der Gegenwart ist die Identifikation der Wurzeln der Unmenschlichkeit und ihre Benennung im Alltäglichen. Es kommt auf die Anfänge, auf die kleinen Momente der Unmenschlichkeit an.
„Ein bisschen steckt in jedem Kind das, was man den Faschismus nennt“, schreibt Hanns Dieter Hüsch. Wie dem begegnen? – Die Gefahr der Gegenwart ist sicherlich keine Machtübernahme faschistischer Verbrecher. Und doch sind die Gefahren rechtsextremer Gewalt gegenwärtig und präsent. Über 100 Menschen wurden in den letzten 20 Jahren aus rassistischer Verneinung ihrer Existenzberechtigung
Kann der Gegenwart der Unmenschlichkeit wirklich allein mit der Erinnerung an ihr größtes Verbrechen begegnet werden? – Ich glaube, wer sich allzeit zum Mitmenschlichen, d. h. zum empathischen Einfühlen jedem gegenüber fähig erhält – und das betrifft natürlich besonders diejenigen, die es schwerer haben oder bei denen wir Vorbehalte haben könnten –, wer sich vor den niedrigen Impulsen des Ressentiments, von denen niemand, der selbstkritisch ist, völlig frei ist und auch keiner völlig frei sein kann, wer sich also vor diesen Impulsen selbst durch Reflexion schützt, wer jeden anderen in der Gewissheit der Wertschätzung belässt, wer jedem und jeder Achtung, Akzeptanz, Freiheit und Sicherheit schenkt, jedem und jeder, der schützt sich und uns alle.
Der potenziell grenzenlosen Unmenschlichkeit tritt das allgegenwärtige Bemühen um Mitmenschlichkeit entgegen. Vergessen wir niemals Opfer und Täter. Seien wir aufmerksam alle Zeit. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ – Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Dr. Spies. – Als nächster Redner hat sich Kollege Schwarz von der CDU-Fraktion zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen! Der 27. Januar 1945 ist ein Tag des Gedenkens, ein Tag des Erinnerns und ein Tag der Befreiung. Vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von alliierten sowjetischen Soldaten befreit. Und vor 19 Jahren versammelte sich der Deutsche Bundestag zum ersten Mal, um mit einem eigenen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern.
Der damalige Bundespräsident Roman Herzog forderte, die Erinnerung dürfe nicht enden, ohne Erinnerung gebe es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft. Wir dürfen nicht vergessen, genau das sind wir den Opfern schuldig, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen.
Auschwitz mahnt die Menschheit auch heute noch, nicht hasserfüllten Parolen zu folgen. In Auschwitz, in den Konzentrationslagern generell, an diesen historischen Stätten wird emotional greifbar, was rational völlig unvorstellbar bleibt.
Bundestagspräsident Norbert Lammert stellte jüngst zu Recht fest, dass Auschwitz wie kein anderer Ort als Synonym für das stehe, was Menschen anderen Menschen antun können. Gerade deswegen ist die aktuelle Bedrohung von Juden in Europa unerträglich. Ihr Schutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Staatsaufgabe zugleich.
Wenn Juden heutzutage in Europa Beleidigungen oder sogar Übergriffe zu befürchten haben, ist das eine Schande. Es ist eine Schande, dass Menschen in Deutschland angepöbelt, bedroht oder sogar angegriffen werden, falls sie sich in irgendeiner Art und Weise als Juden zu erkennen geben.
Wenn 70 Jahre nach Auschwitz Synagogen und jüdische Institute unter Polizeischutz gestellt werden müssen, um die Sicherheit zu gewährleisten, ist dies völlig inakzeptabel. Meine Damen und Herren, sowohl Antisemitismus als auch jede andere Form von Menschenfeindlichkeit dürfen in Deutschland keinen Platz haben.
Bei der Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz-Komitees am Montag letzter Woche sprach unter anderem der ehemalige Häftling Marian Turski. Er verglich die Geschichte der Menschheit mit einem Staffellauf, bei dem jede Generation den Staffelstab weitergebe. Ich zitiere:
Es bedeutet, dass wir Überlebenden euch unser Erbe, unseren Schatz an Erfahrungen übergeben. Gute und schlechte. Wenn heute jemand einen Juden, Bosnier, Türken, Israeli, Moslem oder Christen demütigt, ist es so, als ob Auschwitz von Neuem beginnt.
Das zeigt, Zeitzeugenarbeit genauso wie die Förderung von Gedenkstättenfahrten hat eine überragende Bedeutung. Die wissenschaftliche Aufarbeitung von Diktatur und Totalitarismus angesichts der hohen Sensibilität der Thematik sollte jenseits parteipolitischer Zusammensetzung erfolgen und darf nicht missbraucht werden.
Die Aufklärung über NS-Verbrechen wird und muss auch weiterhin eine wichtige Rolle im Bildungsprogramm der HLZ spielen und wird damit zur zentralen Lehre von Auschwitz.
Die Völkergemeinschaft ist verpflichtet, hinzuschauen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Völkergemeinschaft muss bei Völkerrechtsbruch und bei der Verletzung von Menschenrechten unmittelbar oder gegebenenfalls mittelbar intervenieren. An erster Stelle stehen dabei immer präventiven Maßnahmen der Entwicklungshilfe und humanitäre Einsätze. Militärische Mittel können nur als Ultima Ratio gesehen werden, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht tatenlos zuzuschauen. Auch das ist eine Frage von gelebter Verantwortungsethik.
Lassen Sie mich mit den Worten des am Samstag verstorbenen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aus seiner Rede schließen – sehr geehrter Herr Kollege Dr. Spies, aus der auch Sie zitiert haben –, aus seiner historischen Rede vom 8. Mai 1985. Ich glaube, wir sind uns darüber einig, dass Richard von Weizsäcker eine jenseits der politischen Lager anerkannte und respektierte politisch-moralische Instanz war.
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.
Vielen Dank, Herr Kollege Schwarz. – Als nächste Redner spricht Kollege van Ooyen von der Fraktion DIE LINKE. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee der Sowjetunion das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Seitdem ist der Begriff Auschwitz das Symbol dafür, wohin Ausgrenzung, Hass, Antisemitismus und faschistischer Vernichtungswille führen: in millionenfaches Leid, in singulär entsetzliche und grausame Verbrechen und massenhafte Vernichtung Andersdenkender und jüdischen Lebens in Europa. Auschwitz ist der Ort der Erinnerung und des Gedenkens an den Holocaust.
Das Gedenken gehört in unseren Alltag, muss Teil unseres Alltags sein und bleiben und darf nicht verblassen. Auschwitz ist auch Auftrag, jeder Form des Faschismus, Rassismus, Nationalismus, oder des Antisemitismus, jeder Form des Hasses und der Ausgrenzung konsequent entgegenzutreten.
Zum Gedenken gehört für uns auch, die Rolle aller Beteiligten des politischen und antifaschistischen Widerstandes und insbesondere der Anti-Hitler-Koalition angemessen zu würdigen. Wir erleben gegenwärtig, wie mit platten Parolen, vermeintlich einfachen Antworten und Sozialdemagogie gegen Religionen, gegen andere Kulturen, gegen Migrantinnen und Migranten, gegen Fremde und vermeintlich Andersartige Stimmung gemacht wird. Wir erleben eine Zunahme der Angriffe auf Jüdinnen und Juden, auf Synagogen, ebenso auf Muslime und Moscheen. Wir müssen im Alltag wieder Begriffe hören, die ihre Wurzeln in der Nazizeit haben. In diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern, dass wir den Terror des NSU immer noch nicht aufgearbeitet haben.
Menschen fliehen vor Krieg und politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung, vor Hunger, bitterer Armut, vor Umweltzerstörung und vor brutalen Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat nach Europa. Allzu oft in unserer Geschichte, als Menschen ausgegrenzt und verfolgt wurden, haben zu viele zu lange nur zugeschaut. Eine menschenwürdige Gesellschaft wird aber nur entstehen und Bestand haben, wenn wir bereit sind, sie zu verteidigen.
Wer gegen Sozialabbau, zu niedrige Löhne und Armutsrenten oder die politischen Verhältnisse demonstrieren will, soll dies durchaus mit uns tun. Wer aber gegen Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Herkunft demonstriert, hat kein Verständnis verdient. Seine Wut gegen die vermeintlich Schwächsten einer Gesellschaft zu richten ist beschämend. Wir stehen an der Seite derjenigen, die diesen haltlosen und dumpfen Angriffen ausgesetzt sind. Wer bei uns Zuflucht sucht, ist willkommen.
Aber Auschwitz sollte uns auch ermahnen, derer zu gedenken, die wirklich Widerstand leisteten. Statt die Mittäter der Naziherrschaft zu würdigen, sollten wir uns der Opfer, der Neinsager, der Deserteure und der Widerstandskämpfer erinnern. Da fallen mir Namen wie Peter Gingold und
Hans Heisel ein, die in Frankreich in der Resistance gegen die faschistische Barbarei kämpften. Ich denke aber auch an den Juden und Kommunisten Emil Carlebach, gemeinsam mit Häftlingen aus vielen Ländern Europas, an Sozialdemokraten wie Hermann Brill und Ernst Thape, an Werner Hilpert, der später zur CDU ging, und Walter Wolf. Ich will aber auch an den damals noch sehr jungen Eugen Kogon erinnern. Sie wurden im KZ Buchenwald gequält. Sie organisierten auch noch im KZ Buchenwald trotz Todesdrohung und Folter Widerstand gegen Faschismus und Krieg.
Emil Carlebach und viele Antifaschisten haben sich nach der Befreiung vom Faschismus mit ihrer ganzen Kraft in den antifaschistischen und demokratischen Neubeginn in Hessen eingebracht. Antifaschisten waren an der Entwicklung unserer Hessischen Verfassung entscheidend beteiligt. Sie wollten, dass die Lehren aus dem Faschismus für die Zukunft gezogen werden. Sie wollten ein Beispiel dafür sein, wie wir unsere Jugend zum Widerstand gegen den Alltagsfaschismus, gegen Rassismus und Sozialdarwinismus erziehen.
Emil Carlebach war Landtagsabgeordneter der KPD und Mitautor der Hessischen Verfassung. Eine Würdigung des offiziellen Hessen hat er nie bekommen. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Die Kinder vieler Widerstandskämpfer wurden auch in Hessen mit Berufsverbot belegt.
Wenn jetzt in dem Dringlichen Antrag der CDU und der GRÜNEN in Erinnerung an Fritz Bauer formuliert wird – ich zitiere –:
Sein Wirken ist beispielhaft für zahlreiche Persönlichkeiten, die sich teils größten Widerständen ausgesetzt sahen und trotzdem unnachgiebig für Gerechtigkeit kämpften,
sind wir gespannt, wie der latente Antikommunismus überwunden und eine Würdigung dieser Menschen in Hessen tatsächlich aussehen wird. In Ihrem Dringlichen Antrag steht nichts Falsches drin. Herr Kollege Spies hatte darauf hingewiesen, weshalb wir nicht zustimmen werden. Denn Sie wollen die Singularität des Ereignisses des KZ Auschwitz einfach negieren.
Der Dringliche Antrag zeigt natürlich, dass die Ausgrenzung und Ausschließeritis, um ein Wort von Tarek Al-Wazir zu gebrauchen, nach wie vor der Leitgedanke der schwarz-grünen Regierungsformation ist. Wie man so den Widerstand – auch den der Kommunisten, vor, im und nach dem Faschismus – würdigen will, ist mir rätselhaft.
Für DIE LINKE ist der Kampf gegen jede Form des Rassismus und des Faschismus Gründungskonsens. Wir begreifen die Auseinandersetzung mit der Geschichte als Teil der Aufklärung. Sie gehört als fester Bestandteil in jede Form der Bildung und Ausbildung. Ausdrücklich begrüßen wir die Initiative zahlreicher Jugendverbände, „dass Auschwitz nie wieder sei“, bei der viele Hunderte junge Menschen im Juni 2015 zu der Gedenkstätte nach Auschwitz fahren werden.
Ihre Anregung in Ihrem Dringlichen Antrag nehmen wir ernst: Wir brauchen eine bessere finanzielle Ausstattung der Projekte gegen Rechtsextremismus und für die politische Bildung gegen Krieg und Faschismus. – Wir sollten unserer Jugend die Menschen als Vorbilder vermitteln, die als Widerstandskämpfer, als Deserteure und Neinsager ein Beispiel für Mut und Courage bewiesen haben.
Deswegen werden wir am 12. April 2015 in Buchenwald anlässlich des 70. Jahrestages der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald an den Schwur von Buchenwald erinnern. Ich darf ihn zitieren: