Wissen Sie, unter dem Stichwort politische Kultur werde ich gleich noch einmal dazu kommen, Herr Irmer. Es gibt ein paar Sachen, die mir sehr viel Sorge bereiten, und ich glaube, ich bin nicht der Einzige im Saal, dem es Sorge macht. Aber das rufe ich gleich auf.
Jedenfalls sind nicht alle, die diesen Debatten zuschauen – im Übrigen auch diejenigen, die uns heute von hier oben zuschauen –, immer mit dem vertraut, was hier stattfindet. Deswegen finde ich es schon richtig, Erklärungen zu geben.
Ich habe Ihnen damals nach Ihrer ersten Regierungserklärung zugerufen, dass ich Sie nicht an Ihren Worten messen werde, sondern an Ihren Taten, an der Frage: Welchen Beitrag leistet Ihre Politik für die Bereiche Zuwanderung und Integration? Welchen Beitrag leistet Ihre Politik für die Handlungsfähigkeit des Staates, nachdem die hessische Union die Verdoppelung der Staatsverschuldung in Hessen
zu verantworten hat? Welchen Beitrag leistet Ihre Politik für mehr Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit? Welchen Beitrag leistet Ihre Politik für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Welchen Beitrag leistet Ihre Politik für Arbeit und Wohlstand? Welchen Beitrag leistet sie für Innovationsstärkung und für die Schließung der Investitionslücke? Welchen Beitrag leistet Ihre Regierung eigentlich zur Energiewende? Aber es gibt auch Fragen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen, wie die Überforderung des Ehrenamts, nachdem sich die öffentliche Hand an verschiedenen Stellen zurückzieht. Was heißt das für solche Megatrends wie den demografischen Wandel?
Dies sind Fragen, bei denen Sie sich an Ihren Taten messen lassen müssen und nicht an wohlfeilen Sonntagserklärungen. Deswegen ist es gut, dass wir heute in dieser Grundsatzdebatte Gelegenheit haben, ein wenig ausführlicher darüber zu reden.
Ich will mich herzlich bei den Regierungsfraktionen bedanken, dass sie unserem Vorschlag gefolgt sind, diese Debatte anders als in den letzten Jahren aufzubauen. So gibt es eine ernsthafte Chance, heute eine Grundsatzdebatte zu führen und morgen über die Einzelpläne zu reden. Das ist deswegen wichtig, weil wir unter dem Stichwort der politischen Kultur und dem, wie viel Misstrauen inzwischen auch gegenüber politischen Institutionen entsteht – wir haben es an verschiedenen Stellen diskutiert –, vor erheblichen Herausforderungen stehen. Deswegen ist es richtig, Raum dafür zu geben, auch die Alternativen zu diskutieren.
Ich will deutlich dazusagen: Es reicht nicht, nur diesen Debattenschritt zu tun, wie wir ihn hier getan haben, sondern wir müssen darüber nachdenken, wie wir – auch über tagespolitische Debatten hinaus – das Parlament wieder zu dem Ort der Auseinandersetzung machen, weil eine Demokratie nur dann funktionieren kann, wenn Konflikte und politische Alternativen transparent diskutiert werden.
Deswegen plädiere ich sehr dafür, dass Sie ernsthaft darüber nachdenken, ob Sie Ihr Konzept weiter verfolgen, hier jeden Dienstag Regierungserklärungen abhalten zu lassen, wo sozusagen der Koalitionsvertrag noch einmal vorgelesen wird, obwohl wir ihn wirklich alle zum Erbrechen kennen und wissen, was darin steht, weil wir ihn uns angesehen haben.
Frau Lannert, ich weiß, dass ich bei Ihnen nur fünf Minuten warten muss, bis der erste Zwischenruf kommt. Ich hätte allerdings eine herzliche Bitte: Sagen Sie ihrem Pressesprecher oder Herrn Bußer, dass der Zettelkasten Ihrer Zwischenrufe ausgewechselt werden möge – ein bisschen was Neues würde mich freuen.
Ah, zum Thema Leberwurst kommen wir später auch noch. Unser Freund Panzer-Pentz hat ja versucht, das erste
eine schöne Bio-Leberwurst, damit Sie sehen, was das eigentlich ist. Noch ist sie gekühlt, Sie können sie sich später abholen.
Mein Vorschlag an die hessische Union lautet: Überlegen Sie sich vorher vielleicht doch einmal ein paar kreativere Zwischenrufe als die, die absolut ausrechenbar sind, wie derjenige zum Thema Leberwurst unseres neuen PanzerPentzes hier vorn, der mit seinem unglaublichen Beitrag zum Thema Rüstungspolitik auf dem Bundesparteitag für Furore gesorgt hat.
Noch einmal zum Thema politische Kultur. Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob dem Parlament zukünftig durch die Herausnahme unsinniger Befristungen von Gesetzen, deren Evaluierung im Kern nicht stattfindet, mehr Raum dafür geboten wird, über die politischen Alternativen im Hessischen Landtag nachzudenken. Ich glaube, dass das helfen würde, auch transparent zu machen, wo die Alternativen sind.
Deswegen lassen Sie mich zu einigen Themen kommen, die uns in diesen Tagen und Wochen besonders beschäftigen müssen.
Ich bin Landtagspräsident Kartmann außerordentlich dankbar, dass er eben noch einmal auf die Eröffnung der Ausstellung der Seliger-Gemeinde im Hessischen Landtag hingewiesen hat – nicht nur, weil die Frage von Flucht und Vertreibung in einem Jahr des Gedenkens – aus Anlass des 100-jährigen Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, des 75. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, aber auch des 25. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer – ein wichtiger Punkt ist, auch in der Erinnerungskultur unseres Landes.
Ich möchte ausdrücklich an Georg August Zinn erinnern, den ich eben schon einmal zitiert habe. Er sagte: „Hesse ist, wer Hesse sein will.“ Es gibt kein weitreichenderes Integrationsversprechen als das des ehemaligen Ministerpräsidenten Georg August Zinn. Ich finde es sehr gelungen, dass am heutigen Tag hier so etwas stattfinden kann.
Ich finde das auch deswegen, weil es ein gutes Gegenbild zu dem gibt, was wir derzeit in Dresden und an anderen Orten erleben. Ich sage das für meine Fraktion in aller Klarheit, und Herr Boddenberg weiß es, weil wir es am Samstag in diesem Hause schon einmal diskutieren konnten: Das, was in Dresden stattfindet, muss uns beunruhigen. Es muss uns beunruhigen, dass rechtspopulistische Parteien und Organisationen, dass rechtsextreme Parteien und Organisationen mit den Ängsten von Menschen spielen und sie gegeneinander ausspielen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Verpflichtung, dagegen entschieden und gemeinsam aufzutreten, wenn die Populisten mit Blick auf Muslime, die nach Deutschland kommen, davon sprechen, dass es eine gefühlte Landnahme gebe, dass der Islam auf die Eroberung der Weltherrschaft fixiert
ist oder dass wir nicht mehr Muslime brauchen, sondern weniger. – Das ist nicht nur dumm, das ist diskriminierend. Das ist brandgefährlich, und das ist der Boden, auf dem PEGIDA und anderes wachsen.
(Lebhafter Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU)
Es wird niemanden wundern, dass dies keine Formulierungen aus Dresden sind, sondern aus dem Hessischen Landtag: des Abg. Irmer, alle wörtlich zitiert. Deswegen sage ich es in aller Klarheit, Herr Irmer, weil wir diese Debatte hier immer wieder führen: Leute wie Sie, mit Ihren Auffassungen, sind die Bodenbereiter für das, was in Dresden stattfindet. Das muss in einem solchen Parlament auch gesagt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war mir schon klar, dass ein Teil der hessischen Union entsprechend reagiert. Aber genau darum geht es. Es geht um die Frage: Wo sind die Grenzen? Wo fängt der Missbrauch von Ängsten der Menschen an, die Fragen stellen, die in Teilen berechtigt sind, aber in Teilen völlig daneben und nicht akzeptabel sind?
Ich will es sehr klar sagen, für uns als hessische Sozialdemokratie bleibt eines klar: Wir werden die Grenze am Anfang der Ausgrenzung und Diskriminierung setzen. Da sich Herr Irmer bis heute kein einziges Mal in diesem Haus für seine Äußerungen wirklich entschuldigt hat, sondern sie immer und immer wieder zu relativieren versucht hat, haben wir auch ein Problem im Hessischen Landtag, und das heißt Hans-Jürgen Irmer.
Integration und Zuwanderung sind mit die größten Herausforderungen und politischen Themen, die die Landespolitik in den nächsten Jahren zu gestalten hat. Das sind Fragen, mit denen wir in der Bildungspolitik konfrontiert sind, bei der beruflichen Bildung, in der Arbeitswelt, in der Wohnungspolitik und an vielen anderen Stellen.
Ich finde nach wie vor, dass die Enquetekommission des Hessischen Landtags aus der letzten Legislaturperiode hervorragende Arbeit geleistet hat. Statt sich jetzt in die Planungen für einen neuen Rahmenplan zu stürzen, der wieder dazu führen wird, dass zwei Jahre wenig oder nichts passiert, sollten wir die Empfehlungen der Enquetekommission zur Integration als erste Schritte auf dem Weg zu einer Antidiskriminierungspolitik des Landes Hessen endlich umsetzen. Das ist eine Konsequenz aus dem, was dort stattgefunden hat.
Ich will es auch klar mit Blick auf das Thema Sozialindex sagen, das inzwischen dankenswerterweise offensichtlich von allen Fraktionen mehr oder weniger akzeptiert und aufgerufen wird. Der Sozialindex hilft uns allerdings nicht, wenn zeitgleich die Verträge für die Schulsozialarbeit an vielen Standorten gestrichen werden und damit die Arbeitsweise der Schulen mit einem allgemeinen Verweis auf die 105-prozentige Lehrerversorgung gefährdet wird.
Deswegen sage ich auch an dieser Stelle: Das Land ist und bleibt in der Verantwortung, auch bei der Schulsozialar
beit. Wir wollen, dass das, was Herr Banzer zugesagt hat, die Drittelfinanzierung für die Schulsozialarbeit, endlich umgesetzt wird.
Aber ich will ausdrücklich sagen, dass es auch Veränderungen gegeben hat, die wir ausdrücklich begrüßen. 15 Jahre nach dieser unsäglichen Kampagne, die Sie als hessische Union unter Roland Koch hochgefahren haben – „Wo kann man gegen die doppelte Staatsangehörigkeit unterschreiben? Wo kann man gegen Ausländer unterschreiben?“ –, ist es jetzt in der Großen Koalition gelungen, endlich den Optionszwang zu beenden, zumindest für die Jüngeren. Das ist ein großer Fortschritt, und ich sage: Dem werden weitere folgen.
Die Auseinandersetzung über die Frage, wie die Kommunen bei der Flüchtlingspolitik stärker unterstützt werden können, wird uns allerdings noch sehr lange erhalten bleiben. Das sagt nicht nur ein Blick auf den Kommunalen Finanzausgleich und die Debatten, die damit zusammenhängen, sondern auch auf andere Themen wie beispielsweise ein Abschiebestopp im Winter. Herr Bouffier, es tut mir ausdrücklich leid, dass Sie sich inzwischen inhaltlich derartig eingelassen haben, was die Ablehnung eines Abschiebestopps im Winter für bestimmte Länder angeht. Ich finde, das Beispiel aus Thüringen, aber auch aus SchleswigHolstein wäre ein guter Weg gewesen.
Für diejenigen, die es nicht wissen: Diese beiden Bundesländer haben unter unterschiedlicher Konstellation, immer mit einem rot-grünen Kern