Protocol of the Session on September 25, 2014

Wir müssen wissen, dass die Menschen vor Ort kein Dach über dem Kopf haben, dass in sechs Wochen im Norden Iraks der Winter beginnt und dass die Menschen in Rohbauten, in Schulen, in Zelten und in provisorischen Lagern darben. Nahrungsmittel gibt es in einigermaßen ausreichender Menge. Aber wenn sie nicht binnen sechs Wochen winterfeste Unterkünfte bekommen, werden diese Menschen erfrieren.

Wenn die Frauen jetzt keine traumatherapeutische Unterstützung und Begleitung bekommen, droht die Gefahr, dass sie Selbstmord begehen, weil sie sich als geschändete, entwürdigte Frauen nicht mehr in ihre Familien zurückwagen. Das will ich nicht. Es gehört dazu, dass wir das sehen und

versuchen, von hier aus Hilfe für diese Frauen zu organisieren.

(Allgemeiner Beifall)

Im Norden Iraks ist der Schulbetrieb nicht aufgenommen worden. Am 15. September hätten die Schulen geöffnet werden müssen. Aber da alle Gebäude besetzt sind, gibt es keinen normalen Schulbetrieb.

Die normalen Krankenhäuser sind überfordert, weil auch die Flüchtlinge dort behandelt werden. Wenn Angehörige der einheimischen Bevölkerung krank werden und eine Notversorgung in den Krankenhäusern benötigen, bekommen sie diese nicht, weil sie einfach überfüllt sind.

Deswegen glaube ich, dass eine Diskussion, die wir führen sollten, die über die langfristigen Ziele – über die wir ja reden – und über die politischen Gesamtstrategien ist, die wir brauchen. Die dringende Diskussion ist: Wie schaffen wir es, innerhalb von sechs bis acht Wochen winterfeste Unterkünfte in dieser Region zu errichten? Die Vereinten Nationen sind aktiv, aber es reicht nicht. Der Raum, in dem sich die Menschen bewegen, die versorgt werden müssen, ist viel zu groß. Die karitativen Verbände, die dort unterwegs sind, sind mit ihren Möglichkeiten am Ende. Die kurdische Regionalregierung unter Barzani versucht mit allen Mitteln, zu helfen, aber auch sie sind am Ende.

Ganz schwerwiegend ist, dass das Vertrauen, das die Menschen bislang den anderen entgegenbrachten – z. B. ihren Nachbarn –, erschüttert ist. Das heißt, die Christen vertrauen den Muslimen nicht mehr, die Jesiden vertrauen den Sunniten nicht mehr, und die Schiiten vertrauen den anderen ebenfalls nicht mehr. Die multikulturelle Gesellschaft – die Wiege der zivilisierten Kultur, die aus dieser Region stammt – droht zu kollabieren bzw. auf immer und ewig zerstört zu werden. Ein Weltkulturerbe droht zerstört zu werden.

Deswegen glaube ich, dass wir in drei Schritten vorgehen müssen. Der erste Schritt sind die kurzfristigen Hilfeleistungen, um die Menschen vor den Folgen des Winters zu retten. Der zweite Schritt ist, zu überlegen, wie man die Menschen in ihren Dörfern, wenn sie dorthin zurückkehren wollen – viele wollen zurückkehren –, bei Aufbau- und Infrastrukturmaßnahmen unterstützen kann. Der dritte Schritt ist eine politische Gesamtstrategie für den Nahen Osten: wie man dort eine Stabilisierung hinbekommt, bei der nicht nur die Ressourcenpolitik eine Rolle spielt, sondern bei der es auch um die Menschen und um die multikulturelle Zusammensetzung dieser Gesellschaft geht.

Das alles sind Dinge, die wir gemeinsam andenken können. Aber ich denke, aus Hessen werden uns begrenzte Mittel zur Verfügung stehen.

Von daher ist mein letzter Appell: Lassen Sie uns der jesidischen Gemeinschaft in Hessen und auch den christlichen Gemeinschaften in Hessen – der chaldäischen und der syrisch-orthodoxen – die Hand reichen, damit wir gemeinsam an Wegen und Lösungsmöglichkeiten arbeiten, um den Menschen vor Ort direkt und unbürokratisch zu helfen. Das ist mein Appell. Ich hoffe, dass wir nicht sehr oft über dieses Thema reden müssen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Öztürk. – Für die Landesregierung hat Herr Ministerpräsident Bouffier das Wort.

Herr Präsident, meine Damen, meine Herren! Ich glaube, wir alle haben gespürt, dass bei diesem Thema ein großer Ernst die Debatte geprägt hat. Dafür bin ich dankbar.

Frau Öztürk hat am Schluss ihrer Ausführungen gesagt, unsere Möglichkeiten seien da sehr beschränkt. Ja, eigentlich sind wir für nichts von dem, worüber wir hier diskutieren, zuständig – formal. Trotzdem begrüße ich es sehr, dass wir diese Debatte führen. Wir sind betroffen, und das in vielfältigster Weise. Jeder ist betroffen und entsetzt, wenn er das Grauen dort zur Kenntnis nimmt. Mittlerweile wird das, auch mit den modernen Mitteln der Technik, besonders grausam inszeniert, mit der Folge, dass junge Menschen aus unserem Land Hessen – aus der Stadt Wiesbaden – in völliger Verblendung dorthin ziehen, um sich daran zu beteiligen. Es handelt sich um 15-Jährige, 16-Jährige und 18-Jährige. Allein das wäre schon Grund genug, um diese Diskussion zu führen. Dass die Menschen als Flüchtlinge zu uns kommen, betrifft uns.

Wir haben heute Morgen bei der Beratung über eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten darüber diskutiert. Jenseits der einzelnen Beurteilungen und der vom Ringen um kleine parteipolitische Vorteile manchmal nicht ganz freien Diskussion können wir, wenn wir es zusammenfassen, doch sagen: Das, was die Menschen in unserem Land leisten, ist beachtlich, auch und gerade an Hilfe gegenüber den Menschen, die zu uns kommen. Das ist ein Grund, warum wir alle uns bei den Bürgerinnen und Bürgern in Hessen bedanken. Es gab auch andere Zeiten. Mein Eindruck ist, dass die Menschen das heute mit Nachdruck tun.

(Allgemeiner Beifall)

Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist auch, wir fühlen uns relativ ohnmächtig. Was sollen wir denn machen? DIE LINKE hat in ihrem Antrag eine Reihe von Punkten aufgeschrieben, und das zieht sich jetzt durch alle Anträge. Es gibt eine Reihe von Sachverhalten, auch von Beurteilungen, über die wir uns wahrscheinlich alle einig sind.

Aber es gibt auch ein paar Punkte, in denen wir nicht einig sind. DIE LINKE nimmt für sich in Anspruch, sozusagen der Gralshüter des Pazifismus zu sein.

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Wir wollen nicht allein bleiben! – Hermann Schaus (DIE LINKE): Wir laden alle ein!)

Wir waren uns also ein Stückchen einig. – Wer, wie Sie wissen, gar keinen Anlass hat, als Gralshüter des Pazifismus aufzutreten, ist DIE LINKE; denn die Zahl der von Ihnen immer wieder ausgerufenen gerechten und ungerechten Kriege ist Legende.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Ich habe noch nie einen Krieg ausgerufen!)

Sie wissen es selbst – ich könnte es auch zitieren –: „DIE LINKE wollte nie pazifistisch sein“. Das ist ein Zitat. Aber darum geht es mir jetzt nicht. Ich will das nur deutlich machen und Sie fragen, ob wir uns nicht darauf verständigen könnten, dass hier keiner mit dem Anspruch auftritt, seine Position sei denen aller anderen moralisch überlegen, und

er wisse besser als alle anderen, was zu tun sei. Damit würden wir dieser Debatte ein ganzes Stück guttun.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Am Ende steht nämlich Folgendes: Wir fühlen uns ohnmächtig, wir fühlen uns aber auch schuldig, wenn wir nichts tun.

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Aber wir haben doch viel getan!)

Der Träger des Hessischen Kulturpreises, Navid Kermani, hat sich in dieser Woche – das kann man in der „Rundschau“ nachlesen; er ist schon einmal zitiert worden – wie folgt geäußert:

Die pazifistische Position in Fällen wie jetzt im Irak finde ich verheerend, verantwortungslos und in der Konsequenz sogar verbrecherisch. Man opfert Menschen für die Reinheit des eigenen Gewissens. Ich bestreite gar nicht das Risiko falscher Entscheidungen und schwer wiegender Konsequenzen bei einer Entscheidung für militärische Gewalt. Wer sich aber stattdessen gar nicht entscheidet, … verschlimmert die Lage und lädt noch größere Schuld auf sich. Nichthandeln ist auch ein Handeln.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist heute mehrfach so ähnlich gesagt worden. Ich stimme Herrn Kermani in der Beurteilung einer solchen Haltung, nämlich dass es verbrecherisch ist, wenn man militärisch nicht eingreift, nicht zu. Ich akzeptiere ausdrücklich, dass man mit guten Gründen zu einer solchen Position kommen kann, und ich respektiere es, wenn jemand eine solche Haltung einnimmt.

Die andere Seite ist aber: Es genügt nicht, sich hier – heute Morgen ist das mit großem Engagement und zu Recht geschehen – mit der Frage auseinanderzusetzen, was wir tun können und müssen, um Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen, ein Leben zu ermöglichen, das humanitären Ansprüchen genügt. Wir sind am Ende einer Kette, und wir können hier machen, was wir wollen: Wenn es nicht gelingt, die Ursachen für Fluchtbewegungen wenigstens in Ansätzen zu bekämpfen, werden wir immer zu kurz springen.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): So ist es!)

Frau Öztürk hat gerade gesagt, allein im Kurdengebiet befinden sich 1,5 Millionen Flüchtlinge.

Ich habe noch einen Satz sehr gut in Erinnerung. Barzani hat bei einem Besuch unserer Kollegen gesagt: „Wir verstehen eure Situation. Wir erwarten nicht, dass junge Menschen aus Deutschland für uns in den Krieg ziehen und gegebenenfalls sterben, aber wir erbitten von euch Hilfe dafür, dass wir uns wenigstens verteidigen können, damit wir nicht umgebracht werden.“ Genau an der Stelle muss man Antwort geben. Dann nützt es nichts, wenn wir uns nur mit der Frage beschäftigen: Was machen wir hier?

Ich glaube, es braucht einen Dreiklang – die Dinge sind sehr komplex; darauf können wir uns vielleicht verständigen –: Das Erste, was alle mit aller Kraft wollen müssen, müsste doch sein, dass das Morden aufhört. Das Beschließen irgendwelcher Resolutionen ist sinnlos, wenn diejenigen, um die es geht, alle tot sind. Ich habe mich – das

konnten Sie verfolgen – mit den Angehörigen der Jesiden in Hessen getroffen. Ich kann nur unterstreichen, was Kollegin Öztürk gesagt hat; es sind erschütternde Berichte. Ich zitiere Navid Kermani: „Ohne die amerikanischen Luftschläge gäbe es die Jesiden nicht mehr.“ Das bestreitet niemand ernsthaft.

Genau mit dieser Begründung ist der französische Präsident Hollande in die Nationalversammlung gezogen und hat gesagt – lieber Herr Kollege van Ooyen, ich zitiere –, Frankreich, das Land von Égalité und Fraternité, sozusagen der Boden des Humanismus der Neuzeit, könne nicht zusehen, wie Menschen abgeschlachtet werden. Und er nahm auf einen Genozid Bezug – das war hier nicht in den Zeitungen zu lesen –, der geschehen ist und wo heute alle der Auffassung sind, dies hätte nie sein dürfen, in Ruanda.

Man muss diese Position nicht teilen, aber man kann es sich nicht so einfach machen, zu sagen: Kameraden, lasst uns uns hier nur einmal mit unseren Fragen beschäftigen. – Unsere Verantwortung reicht weiter. Frau Cárdenas, deshalb will ich ausdrücklich deutlich machen – das ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb ich mich gemeldet habe, weil das nun gar nicht geht –, dass die Landesregierung nicht die Auffassung vertritt, die Sie hier vorgetragen haben. Ich habe es mitgeschrieben: „Die Bundesregierung führt die Bundesrepublik Deutschland geradewegs in eine kriegerische Auseinandersetzung.“ Diese Behauptung ist in der Sache falsch, sie ist ungehörig, dem Thema nicht angemessen und würdigt in keiner Weise das Ringen aller Beteiligten, gerade der Bundesregierung auch im Deutschen Bundestag, um die Frage, was hier der richtige Weg sei. Das weise ich in aller Form zurück.

(Beifall bei der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Behauptung, das Völkerrecht sei keine Grundlage für das, was Deutschland tut, ist schlicht falsch. Das wird auch durch ewige Behauptung nicht besser. Sie könnten heute – das wird die „Rundschau“ freuen; die zitiere ich jetzt zum zweiten Mal – nachlesen, wie sich der Völkerrechtler Prof. Kai Ambos zu dieser Frage einlässt; er kommt zu einer relativ klaren Antwort. Ich empfehle Ihnen, einfach einmal die UN-Charta zu lesen, da steht nämlich die Verpflichtung drin, dass alle Mitglieder der UNO verpflichtet sind, Völkermord zu verhindern. Genozidverhinderung ist ein Befehl dieser UN-Charta.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Nur über den Sicherheitsrat, das wissen Sie genau!)

Zum Sicherheitsrat, Herr van Ooyen. Ich kann nichts dafür, dass Herr Putin gegen alles ein Veto einlegt. Das werden wir im Hessischen Landtag bedauerlicherweise nicht lösen können, und dass die Vereinten Nationen häufig weitestgehend blockiert und damit unfähig im Handeln sind, ist bedrückend, aber wahr. Dann stellt sich die spannende Frage: Was tun wir dann? Beklagen wir diesen Umstand und kommen zu dem Ergebnis, dass wir eine internationale Konferenz fordern, während in der Zwischenzeit einer nach dem anderen den Hals abgeschnitten bekommt? – So einfach dürfen wir es uns halt nicht machen.

Herr Ministerpräsident, ich muss Sie auf die Redezeit aufmerksam machen, die für die Fraktionen vereinbart ist.

Deshalb sage ich noch einmal, damit es auch im Protokoll steht: Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass das, was die Bundesrepublik Deutschland tut, ausdrücklich im Einvernehmen mit dem irakischen Staat, mit der Genehmigung des irakischen Staats geschieht. Wir machen auch keine Waffenlieferungen, die wir uns bezahlen lassen – das ist ein anderer Terminus –, sondern wir geben aus dem, was die Bundeswehr hat, Bestände an diese kurdischen Kämpfer weiter. Das kann man für falsch halten. Ich halte es für richtig. Und für mich bleibt die Kernfrage: Helft ihr uns wenigstens, uns zu verteidigen? – Deshalb ist das aus meiner Sicht nicht nur völkerrechtlich gedeckt, sondern ich halte es auch für eine sehr verantwortliche Verhaltensweise.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Freien Demokraten haben auch noch einen Antrag gestellt; darauf will ich durchaus eingehen. Natürlich braucht es eine europäische Flüchtlingspolitik. Diese setzt auch nicht bei der Frage an, wie wir eigentlich die Flüchtlinge verteilen. Eine europäische Flüchtlingspolitik setzt viel früher an, und diese gibt es auch zum Teil. Diese setzt z. B. bei Punkt 2 an, wie wir es eigentlich schaffen, Menschen – wenn wir das Morden also hoffentlich verhindern – dabei zu helfen, dass sie in ihrer Heimat sicher leben können.

Das geschieht auch im europäischen Kontext. Es könnte noch besser sein, das ist wohl wahr. Aber die Europäische Gemeinschaft koordiniert diese Hilfe. Es gibt auch eine ganze Reihe bilateraler Hilfen. Wir fangen da nicht bei null an. Und richtig ist: Wenn dort der Winter kommt, brauchen wir eine dramatische Verstärkung dieser Hilfestellungen. Da das schon geschieht, braucht die Landesregierung auch keine Bundesratsinitiative zu unternehmen, damit sich die Bundesregierung dort entsprechend engagiert.

Frau Kollegin Beer, ich habe Ihnen mit großem Interesse zugehört, als Sie gesagt haben, Sie hielten die Entscheidung der Bundesregierung für falsch. Sie sind der Auffassung – das habe ich mir auch aufgeschrieben –, dass eine internationale Mission unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland erforderlich sei.

(Zuruf der Abg. Karin Wolff (CDU))

Frau Wolff, ich habe das genau mitgeschrieben. – Ich wage jetzt, große Zweifel anzumelden. Wer eine internationale Mission, jenseits von Luftschlägen und humanitärer Hilfe, fordert, muss am Ende bereit sein, auch zu marschieren. Eine internationale Mission, nach dem Motto: „Alle anderen schicken Bodentruppen, und wir haben das Thema angeregt“, wird nicht gehen. Dazu will ich Ihnen klar sagen – Frau Hofmann, bei einem Punkt, den Sie genannt haben, bin ich auch nicht einer Auffassung; darauf komme ich noch abschließend –: Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung gesagt haben, es stehe nicht zur Debatte, und sie wollten auch nicht, dass die Bundeswehr dort als Teil von Bodentruppen einmarschiert. Das halte ich auch für richtig.