Protocol of the Session on September 28, 2017

Meine Damen und Herren, deshalb sage ich: Wer sich mit uns GRÜNEN auf die Reise nach Jamaika machen will,

der muss auf der Mitte des Weges bleiben und darf nicht rechts abbiegen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Ger- hard Merz (SPD) – Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Nicht nur Politikerinnen und Politiker sollte das Ergebnis nachdenklich machen, auch die Gesellschaft. Denn Demokratie sind wir alle, das sind nicht nur die Politikerinnen und Politiker. Eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen der Meinung sind: „Demokratie ist nur, wenn ich recht bekomme“, die hat ein Problem. Eine Demokratie, in der immer mehr Menschen Konsensfindung ablehnen, sich nicht mehr der Mühe des Ausgleichs von verschiedenen Interessen stellen wollen, die hat ein Problem. Einer Demokratie, in der immer mehr Menschen den Kompromiss aktiv ablehnen, den Ausgleich von Interessen aktiv ablehnen, müssen wir wieder in Erinnerung rufen, dass der Kompromiss, der Ausgleich der berechtigten Interessen von verschiedenen Menschen nichts Verwerfliches in der Demokratie ist, sondern das ist der Kern der Demokratie: der Ausgleich von verschiedenen Interessen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Meine Damen und Herren, noch ein Gedanke. Eine Demokratie, in der Parteien um jeden Preis regieren wollen – das wird nicht funktionieren. Aber eine Demokratie, in der die Hälfte der Parteien im Deutschen Bundestag aktiv sagt, sie wollen nicht regieren – so wird es eben auch nicht funktionieren.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der CDU – Lebhafte Zurufe von der SPD)

Herr Kollege Wagner, Sie müssen zum Schluss kommen.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Wenn das alle Parteien nach einer Wahl für sich sagen würden, was wäre da die Konsequenz? – Dann wären Neuwahlen die Konsequenz.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Das kann nicht im Interesse der Demokratinnen und Demokraten sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Unruhe)

Deshalb hoffen wir – ich meine das nicht parteipolitisch –, dass den Jamaikapartnern die Königsdisziplin der Demokratie gelingt, nämlich Kompromisse bei unterschiedlichen Interessen zu finden – und die Interessen dieser Partner könnten nicht unterschiedlicher sein.

Meine Damen und Herren, der Kompromiss, der echte Kompromiss, nicht der faule Kompromiss, ist das Wesen der Demokratie, und wir wollen ein Land behalten und gestalten, das frei, offen, bunt und vielfältig ist. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der CDU)

Vielen Dank, Kollege Wagner. – Das Wort hat Frau Abg. Janine Wissler, Fraktion DIE LINKE.

(Unruhe)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Bundestagswahl ist eine Zäsur. Zum ersten Mal zieht eine offen rassistische und nationalistische Partei in den Deutschen Bundestag ein. Dieser Rechtsruck ist ein Alarmsignal, und das zeigt, wie wichtig es ist, sich Rassismus und rechter Hetze entschieden entgegenzustellen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Die AfD ist ein Sammelbecken für völkische Nationalisten und Neonazis mit Verbindungen zu Reichsbürgern und Identitären. Spitzenkandidat Gauland will Frau Özoguz „in Anatolien entsorgen“, ist stolz auf die „Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Frau Weidel spricht von „molekularen Bürgerkriegen … durch Überfremdung“. Andere warnen vor „Mischvölkern“.

Meine Damen und Herren, dieser Hetze muss entschieden entgegengetreten werden, und zwar innerhalb der Parlamente und vor allem auch außerhalb.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU)

Der Rechtsruck zeigt sich nicht nur an den Wahlergebnissen der AfD. Das Gefährliche ist die gesellschaftliche Stimmung, die sich darin ausdrückt. Aus verbaler Brandstiftung werden Brandsätze. Es gibt eine dramatische Zunahme rechter Gewalt. Allein im letzten Jahr gab es 3.500 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Rassistische Attacken haben einen neuen Höchststand erreicht.

Rechte Gewalt und rechter Terror müssen endlich ernst genommen werden, gerade angesichts der Mordserie des NSU, gerade angesichts der sogenannten Gruppe Freital und angesichts der Anschlagspläne eines rechtsextremen Bundeswehroffiziers.

Stattdessen haben wir einen Bundesinnenminister, der öffentlich erklärt, es gebe zu viele Projekte gegen rechts, und die linke Internetplattform Indymedia verbietet, statt endlich gegen rechte Hassseiten vorzugehen,

(Beifall bei der LINKEN)

einen Innenminister, der zwei Wochen vor der Bundestagswahl die rechtspopulistische Forderung nach Kürzung der Asylbewerberleistungen stellt, wohl wissend, dass sowieso nur noch ein Taschengeld ausgezahlt wird, einen Innenminister, der falsche Zahlen verbreitet, um Flüchtlinge zu diskreditieren, und in der „Bild“-Zeitung über Burkaverbote und Leitkultur schwadroniert, statt sich schützend vor diejenigen zu stellen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion angefeindet werden – und das alles, um im unionsinternen Wettkampf um den härtesten Hund gegen den Innenministerkandidaten der CSU zu bestehen. Am Ende – das hat sich gezeigt – verlieren beide.

Meine Damen und Herren, die Stimmung, in der die AfD stark geworden ist, ist eben nicht vom Himmel gefallen. Es waren die Seehofers, die de Maizières, die Sarrazins, wie sie alle heißen, die Stichwortgeber für rechts außen waren. Es ist doch kein Zufall, dass die AfD vor allem dort stark ist, wo die Union rechts außen Wahlkampf gemacht hat, nämlich in Bayern und in Sachsen, wo die AfD stärkste Kraft wurde.

Es war doch schon bei der letzten Europawahl so, wo die CSU gegen angeblichen Asylmissbrauch den Wahlkampf gemacht hat: „Wer betrügt, der fliegt“. Danach sagte ein ausgeschiedener Europaabgeordneter, man sollte niemals versuchen, das Stinktier zu überstinken. – Recht hat er, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos))

Aber genau das macht die Union immer und immer wieder. Damit vergiftet sie das gesellschaftliche Klima und macht die AfD stark.

Trotzdem fabuliert die CSU darüber, man müsse die rechte Flanke schließen. Ich sage es einmal so: Liebe GRÜNE, auf Jamaika wird es sicher heiter.

Wer der AfD das Wasser abgraben will, der darf nicht ihre Forderungen und Parolen übernehmen. Das beste Mittel gegen Rechtsextremismus ist immer noch, selbst nicht rechtsextrem zu werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass überhaupt ein Stimmenpotenzial rechts der Union entstanden ist, hat sich doch insbesondere die CSU selbst zuzuschreiben. Sie haben maximal provoziert, sind weit nach rechts außen vorgestoßen und haben die Grenzen im öffentlichen Diskurs ausgeweitet. Das geschah immer mit dem Hinweis, dass man das doch wohl einmal sagen dürfe. Danach wurde das Gesagte etwas relativiert. Wenn es dann der Nächste sagt, ist es schon kein Skandal mehr.

So haben sich AfD und CSU gegenseitig befeuert und den gesellschaftlichen Diskurs nach rechts verschoben. Es wurden Tabus gebrochen, die jahrzehntelang auf einem demokratischen Konsens beruhten.

An der Stelle will ich auch sagen, dass sich durchaus Teile der Medien selbstkritisch fragen könnten, was sie zu dieser Situation beigetragen haben.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage das angesichts unzähliger Titelseiten, auf denen von einer Flut oder einer Welle Flüchtlinge die Rede war, die uns zu überrollen drohe. Ich sage das angesichts von Talkshows mit reißerischem Titel wie „Angst vor Flüchtlingen: Ablehnen, ausgrenzen, abschieben?“. Beim Kanzlerduell wurde von den 90 Minuten 60 Minuten lang über die vermeintliche Bedrohung durch Flüchtlinge, den Islam und durch islamistischen Terror gesprochen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Für soziale Gerechtigkeit blieben acht Minuten Zeit. Über Bildung und Klimaschutz wurde gar nicht gesprochen. Damit hat die AfD das Kanzlerduell gewonnen, obwohl sie gar nicht im Studio war. Aber ihre Themen waren beherrschend.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn zugelassen wird, dass die AfD die Agenda bestimmt, dann stärkt das, oh Wunder, die AfD. Das geschieht alles, um nicht über die tatsächlichen Missstände reden zu müssen. Ich sage: Wer rechtspopulistische Forderungen in Gesetze gießt, ermutigt sie. Das ist mit der immer weiteren Aushöhlung des Asylrechts, mit den Sammelabschiebungen nach Afghanistan und der Aussetzung des Familiennachzugs geschehen.

Ich finde, wir müssen über die tatsächlichen Missstände reden. Dabei geht es um die soziale Ungerechtigkeit, den Mangel an bezahlbarem Wohnraum oder die Missstände in der Pflege. Denn die Sicherheit in diesem Land ist durch überlastete Pflegekräfte und Krankenhauskeime wesentlich stärker als durch den Islamismus gefährdet.

(Beifall bei der LINKEN)

Es wäre nötig, über den Nährboden zu reden – und über die zunehmenden Abstiegsängste. Eine Million Menschen sind Leiharbeiter. Jedes vierte Kind lebt in Armut. Immer mehr Menschen kommen mit ihrem Gehalt oder mit ihrer Rente kaum über die Runden. Das geschieht in einem der reichsten Länder der Welt.

Diese Menschen fühlen sich zu Recht verhöhnt. Denn die Kanzlerin hat im Wahlkampf landauf, landab erklärt: Deutschland geht es gut.

Dann wurde auch noch versucht, diese Menschen gegen die Flüchtlinge auszuspielen. Das ist perfide. Kein HartzIV-Bezieher hat auch nur 1 € mehr, wenn weniger Flüchtlinge kommen. Vor einigen Jahren waren es noch die angeblich faulen Hartz-IV-Bezieher, die den Werktätigen auf der Tasche liegen würden. Jetzt werden diese Menschen gegen noch schwächere ausgespielt.

(Manfred Pentz (CDU): Das sieht Frau Wagenknecht ein bisschen anders! – Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Der bezahlbare Wohnraum ist doch nicht knapp, weil so viele Flüchtlinge gekommen sind, sondern weil der soziale Wohnungsbau faktisch eingestellt wurde. Nicht die Flüchtlinge sind schuld, sondern die, die den Wohnraum leer stehen lassen, die damit spekulieren und viel zu hohe Mieten verlangen.