Protocol of the Session on May 31, 2017

Das Auswärtige Amt warnt dringend vor Reisen nach Afghanistan:

Bombenanschläge, bewaffnete Überfälle und Entführungen gehören seit Jahren in allen Teilen von Afghanistan zum Angriffsspektrum der regierungsfeindlichen Kräfte. … die Sicherheitslage [ist] in großen Teilen des Landes unübersichtlich und nicht vorhersehbar. Reisende können daher jederzeit, und ohne selbst beteiligt zu sein, in lebensbedrohende Situationen geraten.

Meine Damen und Herren, allein im letzten Jahr wurden 11.500 Zivilisten verletzt und getötet, darunter über 3.000 Kinder. Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich im letzten Jahr verschlechtert und ist so unberechenbar, dass der UNHCR eine Unterscheidung von sicheren und unsicheren Gebieten ablehnt. Die Zahl der Binnenflüchtlinge hat sich in den vergangenen drei Jahren fast verdoppelt, sie liegt bei 1,4 Millionen. Seit Anfang des Jahres mussten 90.000 Menschen ihre Häuser verlassen.

Trotz dieser dramatischen Verschlechterung wurde in diesem Jahr rund die Hälfte aller Asylanträge von Afghanen abgelehnt, während die Schutzquote im Jahr 2015 noch 78 % betrug. Es ist also nicht auf eine veränderte Sicherheitslage, die sich zum Guten geändert hätte, zurückzuführen, sondern allein auf den politischen Willen, dass mehr Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden sollen.

Das ist ganz offenbar ein Zugeständnis und ein Signal nach rechts außen.

Die Folgen dieser Politik sind verheerend. Der 23-Jährige Atikullah Akbari wurde Ende Januar aus Bayern nach Afghanistan abgeschoben. Der junge Afghane lebte davor in einer deutschen Familie. Er hat innerhalb kürzester Zeit Deutsch gelernt, er hatte sogar einen Job als Altenpfleger. Kurz nach seiner Abschiebung wurde er bei einem Selbstmordanschlag in Kabul schwer verletzt.

Im März hat sich ein 20-Jähriger Afghane aus Haar in Bayern das Leben genommen. Knapp zwei Jahre zuvor war er aus der Provinz Kandahar angekommen. Dort hatte er Schreckliches gesehen und erlebt. Laut Angaben seiner Helfer war er traumatisiert, schwer depressiv und hatte eine unvorstellbare Angst davor, zurückkehren zu müssen. Als sein Asylantrag abgelehnt wurde, hielt er dem Druck nicht stand. Er warf sich vor einen ICE auf die Gleise und starb.

Meine Damen und Herren, heute Morgen versuchten rund 200 Schülerinnen und Schüler einer Berufsschule in Nürnberg, die Abschiebung eines 20-jährigen Mitschülers aus Afghanistan zu verhindern. Polizeibeamte holten offenbar den jungen Mann aus seiner Klasse und nahmen ihn fest. Mitschüler wollten die Abfahrt des Polizeiwagens mit spontanen Blockaden aufhalten. Die Polizei setzte, so berichtete es der Bayerische Rundfunk, Pfefferspray, Schlagstöcke und Hunde gegen die Schülerinnen und Schüler ein.

Dieser Berufsschüler hat seit über vier Jahren in Deutschland gelebt. Laut Aussage seines Lehrers ist er gut integriert und ein fleißiger Schüler. Er hatte bereits eine Ausbildungsstelle in Aussicht.

Meine Damen und Herren, die 200 Schülerinnen und Schüler haben heute Morgen in Nürnberg gezeigt, was Nächstenliebe, Menschlichkeit und Solidarität sind. Die Bundesund die Landesregierung sollten sich ein Beispiel an dem Mut dieser Schülerinnen und Schüler nehmen.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos))

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Die Kirchen kritisieren Abschiebungen nach Afghanistan, Pro Asyl, der Paritätische, Amnesty International, sie alle kritisieren die Entscheidungspraxis des BAMF, und sie fordern ein Bleiberecht. Deswegen: Wir brauchen einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan, weil es die Gesundheit und das Leben der Menschen gefährdet. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos) – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Vielen Dank, Frau Kollegin Wissler. – Das Wort hat Frau Kollegin Astrid Wallmann, CDU-Fraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist mir ein Anliegen, der Opfer des furchtbaren Anschlages, der sich heute in Kabul ereignet hat, zu gedenken und unsere Anteilnahme auch im Namen der CDU-Fraktion auszusprechen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nancy Faeser und Thors- ten Schäfer-Gümbel (SPD))

Es ist die bittere Wahrheit, aber Terror ist allgegenwärtig. Allein in den letzten zehn Tagen hat es neben dem Anschlag, der sich heute in Afghanistan ereignet hat, zwei weitere Anschläge gegeben, einmal in Großbritannien, in Manchester bei einem Konzert, und in Ägypten einen Anschlag auf koptische Christen in einem Bus. In allen drei Fällen hat es eine hohe Anzahl an Opfern gegeben.

Es ist unendlich grausam, wenn unschuldige Menschen durch Terror und Selbstmordattentate aus dem Leben gerissen werden und unendlich viel Leid verursacht wird. Wir verurteilen diese Taten auf das Schärfste.

(Beifall bei der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Bundesinnenministerium hat in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt heute entschieden, dass die Sammelabschiebung nach Afghanistan, an der mehrere Bundesländer beteiligt sind, nicht stattfindet und verschoben wird. Darüber hat uns der hessische Innenminister heute umgehend während der Plenardebatte informiert. Damit hat sich das Anliegen, wenn Sie den Antrag der Linksfraktion auch noch einmal lesen, erledigt. Ich bin, ehrlich gesagt, auch etwas verwundert, dass wir jetzt noch einmal über das Thema diskutieren. Sie wollten nicht, dass heute dieser Flug stattfindet, und er findet ja auch nicht statt.

Sie haben sich jetzt noch einmal sehr allgemein zu der Frage der Rückführung nach Afghanistan geäußert. Das ist nicht das, was wir hier heute mit der Dringlichkeit zum Thema machen wollten, und ich muss auch gestehen: Aufgrund der Tatsache, dass wir das mehrfach im Innenausschuss und auch hier im Hessischen Landtag diskutiert haben, möchte ich mich an dieser Stelle nicht wiederholen und verweise auf die Ausführungen, die Sie ja nachlesen können, sowohl in den Protokollen des Innenausschusses als auch in den Plenarprotokollen.

Kein verantwortlicher Politiker macht es sich leicht, wenn es um Rückführungen geht. Das zeigen auch der heutige Tag und auch die heutige Entscheidung der zuständigen Bundesbehörden. Der Antrag der Linkspartei ist daher abzulehnen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Ich bitte um weitere Wortmeldungen. – Ernst-Ewald Roth ist der Nächste, Sprecher der SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wieder einmal Flüchtlinge, wieder einmal Afghanistan. Sie wissen, dass ich einer Flüchtlingsdebatte nicht ausweiche und bisher

nicht ausgewichen bin. Aber die Frage heute stellt sich: Muss die Debatte zu diesem Zeitpunkt sein?

(Zuruf: Nein!)

Denn wenn wir im Petitionsausschuss wären, hätte ich zu dem Antrag der LINKEN und der Kollegin Öztürk gesagt, die Sache ist erledigt, da dem Anliegen Rechnung getragen ist.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Alle Dinge, die in dem Antrag der Koalition aufgelistet sind – bis auf einen Punkt, den ersten –, haben wir hier in verschiedenen Anträgen schon gelesen, sind beschlossen worden, also Geschäftsgrundlage in diesem Haus. Ausdrücklich will ich den ersten Punkt des Koalitionsantrags herausnehmen und auch für meine Fraktion sagen, dass wir der Opfer des Anschlags heute Morgen gedenken, dass wir ihren Tod beklagen, und ich will ausdrücklich hinzufügen, dass wir aber auch die anklagen, die dies tun und die für dieses Tun die Verantwortung tragen. Wann endlich hat dieses sinnlose Morden ein Ende?

(Allgemeiner Beifall)

Nun zur inhaltlichen Position. Da geht es mir ähnlich wie der Kollegin Wallmann. In den Debatten um Afghanistan habe ich mehrmals die Position meiner Fraktion dargelegt. Wenn ich zugrunde lege, dass wir eine Anerkennungsquote, eine Schutzquote, bei afghanischen Flüchtlingen von um die 50 % haben, dann ist damit deutlich – auch bei denen, die das zu entscheiden haben –, was in diesem Land los ist. Da kann man von einem sicheren Land oder von sicheren Regionen in diesem Land kaum reden.

(Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE))

Deshalb haben wir deutlich gesagt: zu diesem Zeitpunkt, solange das nicht geklärt ist und solange die Verhältnisse dort sind, wie sie sind, keine Abschiebung dorthin.

(Beifall bei der SPD)

Ich will persönlich einen Punkt hinzufügen. Da mag ich mich auch von vielen anderen hier unterscheiden. Natürlich weiß ich um den Unterschied zwischen Straftätern und anderen. Aber wenn wir sagen, aus humanitären Gründen ist das nicht möglich, dann fällt es mir schwer, zu sagen: Aber Straftäter dürfen wir hinschicken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Von daher noch einmal die Erinnerung an unsere Position in der Frage. An der hat sich nichts geändert. Wir von der SPD-Fraktion sind klar entschieden: bei den jetzigen Verhältnissen keine Abschiebung nach Afghanistan.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))

Vielen Dank, Kollege Ernst-Ewald Roth. – Das Wort hat der Abg. Bocklet, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte, auch in einer Vorbemerkung das machen zu dürfen, was meine Vorrednerinnen und Vorredner getan haben

für meine Fraktion. Wir sind bestürzt und erschüttert über diesen Anschlag. Unser Gedenken gilt den Opfern. Wir sprechen den Angehörigen unser Beileid aus. Wir hoffen inständig, dass dieses sinnlose Morden bald ein Ende hat.

(Allgemeiner Beifall)

Es ist richtig: Wir haben als GRÜNE im Bund wie im Land große Zweifel daran, dass die Sicherheitslage in Afghanistan es zulässt, dass weiter dorthin abgeschoben wird. Wir haben deshalb erneut den Bundesaußenminister, den Bundesinnenminister und die Bundesregierung aufgefordert, ihre Einschätzung der Sicherheitslage noch einmal dringlich zu überprüfen. Der Anschlag heute gibt einen erneuten Anlass, intensiv darüber nachzudenken, ob die Einschätzung der Sicherheitslage, wie sie Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière heute über dpa bekannt gegeben haben, tatsächlich zeitgemäß ist.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Zu unserem Bedauern hat Innenminister de Maizière heute in einer dpa-Meldung gesagt, es gibt keine Veränderung der generellen Linie. Er sei sich mit Minister Gabriel darüber einig, „dass in maßvoller, bestimmter Weise Rückführungen … zumutbar und notwendig sind“. Bei dieser Linie soll es bleiben. Wir fordern erneut auf, in sich zu gehen und in aller Ruhe noch einmal intensiv darüber nachzudenken, ob das angesichts zunehmender prekärer Situationen und zunehmender Bombenanschläge tatsächlich noch zeitgemäß ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Ich glaube, das, was zum Thema BAMF zu sagen ist, ist auch schon gesagt worden. Frau Kollegin Wallmann hat das auch zu Recht angesprochen. Wir müssen es nicht wiederholen.

Ich möchte gerne heute noch einmal ein Erlebnis von gestern schildern. Die Kollegin Wiesmann und ich waren bei einer Besuchergruppe. Wir machen uns intensiv darüber Gedanken und große Sorgen, was eigentlich in der Bundesbehörde BAMF passiert. Gestern hat uns ein afghanischer Flüchtling in einer Besuchergruppe berichtet, dass er am 1. Mai seine Ablehnung schriftlich bekommen hatte, obwohl er erst am 6. Mai seine mündliche Anhörung hatte.

(Zuruf des Abg. Ismail Tipi (CDU))