Die Formulierung der Verfassungsänderung macht nämlich deutlich, dass das Schuldenverbot nicht als einseitige Aufforderung misszuverstehen ist, staatliche Aufgaben einzuschränken und schwere Einschnitte vorzunehmen. Die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung ist gerade mit dieser Formulierung nicht infrage gestellt, sondern das Gegenteil ist der Fall.
Dies hat z. B. Auswirkungen auf Ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat. Sie werden künftig im Bundesrat keinen Steuergesetzen mehr zustimmen können – so das Rechtsgutachten von Prof. Wieland –, die den Haushaltsausgleich in Hessen unmöglich machen oder gar nur erschweren.
Herr Finanzminister, deswegen hätte ich zumindest erwartet, dass Sie hier klipp und klar eine Aussage dazu treffen, wie Sie mit den Forderungen nach Steuererleichterungen umgehen wollen. Das hat die FDP wieder vereint. Nachdem der Arbeitskreis Steuerschätzungen höhere Steuereinnahmen geschätzt hat, war sofort von der FDP wieder der Ruf zu hören: Steuererleichterungen und Steuersenkungen.
Herr Finanzminister, deswegen hätte ich an dieser Stelle auch vor dem Hintergrund der Verfassungsänderung von Ihnen erwartet, dass Sie dazu Stellung beziehen und klipp und klar die Aussage treffen: Angesichts meines Haushaltes, den ich in Hessen zu verantworten habe, sind Steuersenkungen mit mir nicht zu machen; die sind nicht drin.
Aber dazu war leider nichts zu hören. Herr Minister Dr. Schäfer hat das Jahresgutachten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zitiert. Das möchte ich auch tun, nämlich dort, wo es um die Steuerpassage geht. Das ist ganz interessant. Der Sachverständigenrat lässt sich darüber aus, dass mehr Netto vom Brutto versprochen worden ist, aber die Bundesregierung mit dem Zukunftspaket den anderen Weg geht und jetzt Steuermehreinnahmen vorsieht. Dann heißt es:
Dieser steuerpolitische Richtungswechsel war überfällig und ist nicht zu kritisieren. Der Sachverständigenrat hat frühzeitig darauf hingewiesen, dass eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nur über harte Einschnitte und nicht mit steuerpolitischen Tagträumereien gelingen kann.
Herr Dr. Schäfer, Sie hätten den Tagträumern von der FDP zumindest heute sagen müssen: Die Träume sind vorbei; die harte Realität ist, dass mein Haushalt nicht auszugleichen ist.
Herr Finanzminister, Sie sollten jetzt, wenn es wirklich zu Steuermehreinnahmen kommt, wonach es Gott sei Dank aussieht, alles tun, dass Sie die Schäfchen beisammenhalten. Sonst werden mit der FDP diese Schäfchen schneller geschlachtet, als mancher sehen kann, und im wahrsten Sinne des Wortes verfrühstückt.
An dieser Stelle hätte ich von Ihnen also einen Hinweis erwartet. Ich will zum zweiten Aspekt der Regierungserklärung kommen, nämlich dem Ergebnis der jüngsten Steuerschätzungen und ihren Folgen für Hessen.
Wenn man sich anschaut, was der Finanzminister heute gesagt hat, dann kann man das unter dem Motto „morgen, morgen, nur nicht heute“ zusammenfassen. Das ist das Motto des Finanzministers beim Schuldenabbau. Aus der groß angekündigten Regierungserklärung erweist sich der Hinweis, die Schulden abzubauen und in Richtung null zu kommen, wie immer als ein Versprechen nach der Amtszeit von Minister Schäfer.
Wenn er mit dieser Landesregierung längst nicht mehr im Amt ist, soll die Verschuldung auf null geführt werden. In seiner Amtszeit – das hat er mit der Erklärung eingestanden – und weit über das Jahr 2015 hinaus wird es eine erhebliche Nettoneuverschuldung geben. In seiner Regierungszeit ist also nicht damit zu rechnen.
Jetzt wird es sehr spannend und sehr ernsthaft: Es wird deutlich, dass Finanzminister Dr. Schäfer auch für das Jahr 2012 einen verfassungswidrigen Haushalt plant. Die Nettoneuverschuldung soll über 1,6 Milliarden € liegen. Das hat er eben betont. Sie ist damit deutlich über den Vorgaben der Hessischen Verfassung, die eine Verschuldung nur bis zur Höhe der Investitionsausgaben vorsieht.
Die Rechtslage ist eindeutig. Die Nettoneuverschuldung darf höchstens so hoch wie die im laufenden Haushaltsjahr getätigten Investitionsausgaben sein. Der Finanzminister gibt in seiner Pressemitteilung vom 14. Mai selbst zu, dass die Grenze nicht eingehalten werden kann. In der Pressemitteilung heißt es, dass die Nettoneuverschuldung von knapp über 1,6 Milliarden € – ich zitiere wörtlich – „immer noch oberhalb der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Grenze für die Neuverschuldung“ liegt.
Das ist also das Eingeständnis, dass es selbst 2012 nicht gelingen wird, die Nettoneuverschuldung geringer als die Investitionsrate zu halten. Das ist die klare Ankündigung eines Verfassungsbruchs, und zwar deswegen, weil es keine Gründe mehr gibt, die für eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts – die wäre Begründung dafür, dass man mehr Schulden machen will als für die getätigten Investitionen – sprechen. Weder die konjunkturelle Lage noch die Beschäftigungslage, noch die Steuereinnahmen oder die Preisentwicklung lassen eine Störung des Gleichgewichts begründen.
Ich will dazu einen Kronzeugen aufrufen, nämlich die Deutsche Bundesbank. Die Deutsche Bundesbank hat in ihrem Monatsbericht im April dieses Jahres eine Bewertung des Urteils des Verfassungsgerichtshofs von Nord rhein-Westfalen vorgenommen. Dort ist der Nachtragshaushalt 2010 vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt worden, weil dieser Nachtragshaushalt mehr Nettoneuverschuldung vorsieht, als Investitionen getätigt werden. Wörtlich heißt es in diesem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank auf Seite 11:
auf eine schwerwiegende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu schließen, um eine Überschreitung der regulären Kreditgrenze zu rechtfertigen.
Meine Damen und Herren, das ist die Bewertung der wirtschaftlichen Situation 2011 der Deutschen Bundes
Das Jahr 2012 ist der Zeitraum, über den wir jetzt reden. Der Finanzminister hat angekündigt, ihm werde es gelingen, die Nettoneuverschuldung für das Jahr 2012 auf nur 1,6 Milliarden € zu reduzieren. In dem Zeitraum, für den Herr Dr. Schäfer einen verfassungswidrigen Haushaltsplan vorlegt, wird nach der Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsinstitute das Bruttoinlandsprodukt um 2 % wachsen, die Arbeitslosenquote auf 6,5 % zurückgehen, auf etwa 2,7 Millionen Arbeitslose, so wenig, wie seit vielen, vielen Jahren nicht mehr, und die Inflation wird sich in verträglichem Rahmen bewegen. Also gibt es auch keine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Im Gegenteil, wir werden manche Peaks haben. Es gibt gar keine Produktionslücke mehr. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind schon wieder in einer konjunkturellen Hochphase.
Das eigene Statistische Landesamt schreibt in einer Presseerklärung vom 30.03.2011: 2010 wuchs das hessische Bruttoinlandsprodukt auf knapp 225 Milliarden €. „Das Vorkrisenniveau von 220 Milliarden € im Jahr 2008 wurde dadurch überschritten.“
Meine Damen und Herren, selbst das eigene Statistische Landesamt sagt: Wir sind nicht mehr auf Krisenniveau. Wir sind deutlich darüber. – Herr Minister, deswegen sage ich Ihnen: Es gibt keine Ausreden mehr. Die Verfassung ist einzuhalten. Das ist das Gebot der Stunde.
Da reden wir gar nicht über die Einhaltung der Verfassung infolge der Schuldenbremse, sondern wir reden über die aktuelle, die gegenwärtige Verfassungslage. Wir reden nicht über das Jahr 2020, sondern wir reden über das Jahr 2012, über die geltende hessische Verfassungslage hinsichtlich der Verschuldung. Meine Damen und Herren, deswegen muss sich die Landesregierung entscheiden: Entweder ist sie bereit, weiterhin die notwendigen Mittel bereitzustellen für Bildung, insbesondere für frühkindliche Bildung, für Chancengleichheit, für eine ordentliche Ausstattung unserer Hochschulen, für den Umstieg auf erneuerbare Energien, für eine verfassungsgemäße Ausstattung unserer Kommunen – auch da gibt es erhebliche Bedenken, dass diese Landesregierung das umsetzt –
und für die Finanzierung eines ordentlichen sozialen Netzes, das übrigens in Hessen oftmals auf ehrenamtlichen Strukturen basiert; oder sie lässt diese Bereiche schleifen und zerstört damit die Zukunftsstrukturen dieses Landes. Deswegen sage ich Ihnen: Ohne zusätzliche Einnahmen wird dies nicht gehen. Sie stehen vor der Alternative, entweder in zahlreichen wichtigen Bereichen Einschnitte vorzunehmen, oder Sie kümmern sich endlich darum und kämpfen mit uns, z. B. mit der SPD – die GRÜNEN haben ähnliche Forderungen – dafür, dass es endlich wieder eine angemessene Staatsquote und eine angemessene Steuerquote in Deutschland gibt und dass die staatlichen Einnahmen endlich wieder auf ein Niveau kommen, damit wir wichtige Zukunftsaufgaben wahrnehmen können, ohne in die Verschuldung zu rutschen.
Es gibt Einsparmöglichkeiten. Ihre Haushaltsstrukturkommission – Sie haben den Bericht selbst vorgelegt – hat z. B. errechnet, dass in Hessen die politische Führung mit 300 Millionen € überbesetzt ist. Wir geben in Hessen z. B. für die aufgeblähte Staatskanzlei, für die neue Verwaltungssteuerung, für Öffentlichkeitsarbeit, für Repräsentationsarbeit etwa 300 Millionen € mehr aus als der Durchschnitt der anderen Länder. An dieser Stelle kann man Schritt für Schritt etwas machen. Das wird nicht in einem Jahr gehen. Das ist klar.
Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel, wo man hätte sparen können. Die Finanzierung der European Business School, dieser selbsternannten Eliteschule, mit einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag war und ist ein Fehler. Auch da hätte man sparen können.
Ich könnte das an noch ein paar Punkten deutlich machen. Aber damit wird man die 1,6 Milliarden € Nettoneuverschuldung, die nach Ihrer Berechnung im Jahr 2012 fällig sind, nicht sparen können. Das ist vielleicht eine Summe von 300, 400 oder 500 Millionen € in zwei, drei Haushaltsjahren. Aber das strukturelle Defizit, über das wir reden, ist mit Einschnitten nicht zu beheben, oder Sie müssen die Einschnitte so massiv machen, dass Sie am Ende Lehrer entlassen, bei der Polizei erhebliche Einschnitte vornehmen und die Hochschulfinanzierung weiter reduzieren. All das wollen wir nicht. Aber wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie auf der anderen Seite etwas machen, und zwar auf der Einnahmeseite.
Es gibt eine hochinteressante Untersuchung des ehemaligen rheinland-pfälzischen Finanzministers Ingolf Deubel für den Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Titel heißt: „Zukunftsinvestitionen trotz Schuldenbremse?“ Es ist ein Fragezeichen dahinter. Diese Studie macht deutlich, dass die Schuldenbremse ohne eine Anhebung der Steuerquote nicht eingehalten werden kann. Sonst können die Investitionslücken, die in Bildung und in der öffentlichen Infrastruktur bestehen, nicht beseitigt werden.
Herr Deubel macht deutlich: Es gibt eine erhebliche Investitionslücke bei der Bildung und der Infrastruktur. Auf dem Gebiet der Bildung sind wir noch lange nicht auf dem Niveau des Durchschnitts der OECD. In den letzten Jahren ist es bei den Investitionen dazu gekommen, dass wir die Substanz verzehrt und von ihr gelebt haben.
Da es sehr wichtig und bedeutsam ist, will ich den einen oder anderen Punkt aus dieser Studie zitieren. Herr Deubel schreibt:
seit den Siebzigerjahren beruhte ganz wesentlich darauf, dass auch in konjunkturell guten Zeiten keine Tilgungen erfolgten, sondern stattdessen die Steuern gesenkt und zugleich die Ausgaben erhöht wurden.
Die Orientierung des Investitionsbegriffes an den Bruttoinvestitionen anstatt den Nettoinvestitionen war verfehlt.
Obwohl die Abschreibungen seit dem Jahr 2003 die Bruttoinvestitionen überstiegen und somit das Nettoanlagevermögen der öffentlichen Haushalte schrumpfte, wurden weitere Kredite aufgenommen.