Wer das Geschehene nicht beim Namen nennt, kann das Trennende nicht überwinden. Er legt zumindest den Keim für künftiges Misstrauen oder nimmt dies billigend in Kauf. Dieses Misstrauen ist dem Bund der Vertriebenen daher auch oft in den Nachbarländern, insbesondere aus Tschechien und der Republik Polen, entgegengeschlagen. Leider hat die Spitze des BdV auch oft bis in die jüngste Zeit mit den Forderungen auf Entschädigungen bis ins Jahr 2005 hinein diese Vorurteile durchaus durch ihr Handeln bestätigt.
Dass Nationalsozialisten wie der ehemalige SS-Obersturmbannführer Rudolf Wagner mit zu den Erstunterzeichnern der Charta gehörten, ist geschichtliche Wahrheit. Ob er oder andere persönliche Schuld im Naziregime auf sich geladen haben, können wir nicht bewerten. Diese Tatsache kann aber auch die Bedeutung dieser Charta für das Selbstverständnis der Vertriebenen und ihre Signale und Zeichen der Versöhnung und Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten nicht schmälern.
Die Charta und das Wiesbadener Abkommen haben einen wichtigen Beitrag für ein geeintes und friedliches Europa geleistet, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Europavorstellungen der Verbandsfunktionäre des BdV waren oft auch nicht kongruent mit den Vorstellungen der Regierungen und waren es teilweise im Zusammenhang mit der Diskussion um die deutsche Einheit auch nicht – ich nenne nur den Grenzbestätigungsvertrag mit Polen.
Für die ca. 12 Millionen Vertriebenen, denen großes Leid und Unrecht widerfahren sind und die ihre Heimat verloren haben, war der Verzicht, der in der Charta dokumentiert ist, sicherlich sehr schmerzlich. Die Lebenswirklichkeit der Vertriebenen in den Nachkriegsjahren war jedoch von den Sorgen des Alltags geprägt: große Wohnungsnot, die Versorgungslage mit Lebensmitteln, fehlendes Einkommen und fehlende Beschäftigung.
Die Erfahrungen in der eigenen Familie – zwei meiner Onkel sind Sudetendeutsche – haben sicherlich auch dazu beigetragen, dieses Verständnis zu verstärken. Die harte Arbeit für den kleinen Lebensunterhalt hat meine Eltern nicht daran gehindert, die größte Not unserer Verwandten lindern zu helfen. Die Freundschaft mit vielen Heimatvertriebenen gilt auch heute und über diesen Tag hinaus.
Politisch wurden von der SPD-Regierung unter Georg August Zinn mit ihren Investitionen im sozialen Wohnungsbau und der Schaffung von Arbeitsplätzen die richtigen Weichen gestellt. Die Lage der Vertriebenen, aber auch der Einheimischen hat sich zunehmend verbessert. Die Menschen haben alle gleichermaßen davon profitiert.
Dies hat das Miteinander und die Integration gefördert und hat zu Recht einen positiven Ausdruck in Hessen gefunden. Aus den genannten Gründen haben wir einen eigenen Antrag gestellt.
… der Mensch ist nicht immer aufgelegt zum Lachen, er wird manchmal still und ernst und denkt zurück in die Vergangenheit; denn die Vergangenheit ist die eigentliche Heimat seiner Seele, und es erfasst ihn ein Heimweh nach den Gefühlen, die er einst empfunden hat, und seien es auch Gefühle des Schmerzes.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Heute sind weltweit rund 50 Millionen Menschen auf der Flucht vor Verfolgung, gewaltsamen Konflikten, Krieg und Menschenrechtsverletzungen. Zunehmend sind leider wieder deutsche Waffen und deutsches Militär mit dafür verantwortlich.
Vor diesem Hintergrund empfinde ich Ihre Rückbesinnung auf die revanchistischen Positionen der Charta der deutschen Heimatvertriebenen bzw. des Wiesbadener Abkommens, das dem gleichen Geist entspricht, als zynisch.
Heute verfolgt die Europäische Union auf Betreiben Deutschlands bei der Migrations- und Einwanderungspolitik einen erschreckend restriktiven Kurs. Pro Jahr werden aus Deutschland Zehntausende Menschen – einige von ihnen sind hier geboren und aufgewachsen – abgeschoben und so ihrer elementarsten Rechte beraubt.
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, nun stellen Sie sich hierhin und fordern von uns ein Bekenntnis zur Charta der deutschen Heimatvertriebenen – einem Dokument aus dem Jahr 1950, das im Geiste des Nationalsozialismus, insbesondere der Blut-und-Boden-Ideologie, verfasst und unterzeichnet worden ist, einem Dokument, das als Gegenmodell zu entsprechenden Passagen des Potsdamer Abkommens konzipiert und deswegen auch just am fünften Jahrestag der Unterzeichnung verabschiedet wurde.
Wir halten eine würdigende Rückbesinnung auf das Wiesbadener Abkommen für völlig unangebracht. Leider muss ich sagen: Auch die Position der SPD dazu ist für uns unverständlich – auch wenn ich den Ausführungen meines
Lassen Sie mich deshalb ein paar Punkte zumindest erwähnen – auch, damit es im Protokoll steht, da die Aufmerksamkeit hier im Hause nun einmal schwer nachgelassen hat,
damit Sie später nachlesen können, dass Sie ganz genau wussten, was Sie hier tun, und sich nicht herausreden können.
Die Charta erwähnt mit keinem Wort die Menschen, die seit der Machtergreifung des Faschismus im Jahr 1933 aus Deutschland vertrieben wurden, weil sie Juden, Antifaschisten oder schwul waren, weil sie nicht in KZs verschleppt oder umgebracht werden wollten.
Einer der Verfasser der Charta der deutschen Heimatvertriebenen, der Ostpreuße Alfred Gille, war seit 1937 Mitglied der NSDAP und in der SS Offizier der Abteilung „Sabotage und Einsatz von Minderheiten“: ein Vorkämpfer des nationalsozialistischen Geistes.
Er sprach im besiegten Deutschland von Heimatvertriebenen als einer „schicksalsgebundenen Gemeinschaft, in der die sittlichen Grundsätze noch gelten“.
Meine Damen und Herren, Flucht und Vertreibung gehören zu den schrecklichsten Erfahrungen der Menschheit – ich betone: auch der jüngsten deutschen Geschichte. An sie zu erinnern ist richtig und mir wichtig.
Aber die vom BdV und von den hessischen Antragstellern versuchte Geschichtsbewertung zielt darauf ab, den Eindruck zu erwecken, der Krieg und seine Folgen hätten vor allem die Deutschen zu Opfern gemacht.
Konkrete Täter und Mitläufer des deutschen Faschismus, auch in den ehemaligen Siedlungsgebieten, verschwinden in dieser emotionalisierten Sichtweise.
Eine solche Bewertung der Geschichte lehnen wir ab. Dies würde die Opfer deutscher Gewaltpolitik in der Zeit des Faschismus und aktuell verhöhnen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Charta der Heimatvertriebenen war ein bedeutender Akt der Aussöhnung von einer großen Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs und der Konsequenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Insoweit findet diese Charta bei uns höchste Anerkennung.
Sie war ein europäisch bedeutendes Friedenszeichen, ein Zeichen und eine Erklärung, die die Grundlage der europäischen Aussöhnung gelegt hat.
Deswegen bin ich insbesondere dem Kollegen Sürmann sehr dankbar dafür, dass er wegen des Jahrestages die Initiative ergriffen hat, um hier zu versuchen, im Konsens zumindest unter den demokratischen Fraktionen dieses Hauses eine Erklärung hinzubekommen.
Es gibt einen solchen Antrag von CDU und FDP vom 27. August. Nach den Ausführungen des Kollegen Franz kann ich sehr wohl verstehen, warum es nicht möglich war, in diesem Haus einen Konsens in dieser Frage hinzubekommen. Denn, Herr Franz, was Sie hier vom Pult aus wiedergegeben haben, war diesem würdigen Tag völlig unangemessen.
Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, wenn man sich anschaut, welchen Antrag die SPD hier eingebracht hat. Der unsrige ist vom 27. August, der Antrag der SPD vom 28. September. Sie haben fast alles von unserem Antrag abgeschrieben. Das ist so weit auch in Ordnung.
Dann stellt man sich natürlich auch die Frage, warum Sie die weggelassen haben. Sie haben in Ihrem Antrag beispielsweise weggelassen, dass ein klarer Hinweis auf das Leid und Unrecht, das den anderen Völkern durch den Zweiten Weltkrieg zugefügt wurde, ein wesentlicher Kern der Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist.
Wenn man sieht, dass das ein Bestandteil der Charta ist, aber gleichzeitig – wie Sie – eine Hetzkampagne gegen den BdV und dessen Präsidentin betreibt, dann passt das natürlich nicht zusammen, und dann unterschlägt man so etwas.
Insoweit meine ich, das wäre wirklich eine Chance gewesen, unter den Demokraten hier einen Konsens zu finden. Ich bedauere, dass wir nicht zusammengekommen sind, weil Sie offensichtlich tagespolitisches Geschäft gegen den BdV und die Präsidentin des BdV betreiben wollten.