Dringlicher Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend weitere Verbesserung der Situation der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im hessischen Schulsystem – Drucks. 18/302 –
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Am 1. Januar 2009 trat das Gesetz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. Bundesrat und Bundestag haben ihm zugestimmt; und mit diesem Gesetz haben sich die Länder verpflichtet, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund dieser Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden.
Diese Verpflichtung bedeutet nicht, dass mit Hinweis auf die Haushaltslage oder wegen ideologischer Vorbehalte der GU beschränkt wird und der Wunsch von Eltern abgelehnt wird, ihr behindertes Kind in einer Regelschule unterrichten zu lassen, wie dies in Hessen Jahr für Jahr in vielen Fällen geschieht. Die Verpflichtung aus der UNKonvention bedeutet vielmehr, dass Eltern behinderter Kinder ein qualifiziertes Wahlrecht einzuräumen ist, ob ihre Kinder im gemeinsamen Unterricht einer Regelschule gefördert werden sollen. Diese Verpflichtung bedeutet auch, dass die Weichen gestellt werden müssen für eine Schule, in der alle Begabungen Platz haben und gemeinsam gefördert werden können.
Meine Damen und Herren, die Kultusministerkonferenz tut sich schwer mit dieser Auslegung der UN-Konvention. Sie hat die Umsetzung des Gesetzes in einen Arbeitskreis verwiesen und diesem drei Jahre Zeit gegeben. Schon bei der Deutung des Inhalts der Konvention sieht man, dass wir uns in Deutschland damit schwertun, den Wortgehalt dieser Konvention ernst zu nehmen und ihn auch in die Realität umzusetzen. In der deutschen Übersetzung heißt nämlich Integration, was in der englischen Originalversion „inclusion“ heißt, also Inklusion.
Meine Damen und Herren, das ist ein gewaltiger Unterschied. Denn dieser Vertragstext – das Original des Vertragstextes hat auch für Deutschland Gültigkeit – lässt nicht zu, dass Kindern der gemeinsame Unterricht verwehrt wird, sondern fordert im Gegenteil, gemeinsamen Unterricht auch in Deutschland, ähnlich wie im internationalen Standard, zum Regelfall zu machen.
Meine Damen und Herren von CDU und FDP, wenn ich den Antrag der Koalition sehe, stelle ich fest, dass Sie die gleichen Probleme mit der Interpretation dieser UN-Konvention haben. Denn das Ergebnis des Arbeitskreises der Kultusministerkonferenz abzuwarten, um vergleichbare Voraussetzungen in den Bundesländern zu schaffen, heißt, dass Sie das auf die lange Bank schieben und nicht tätig werden wollen. Schon heute könnten nämlich die Voraussetzungen in den Bundesländern nicht weniger vergleichbar sein.
Da haben wir beispielsweise den Kultusminister von Baden-Württemberg, Herrn Rau, der schon heute feststellt, dass das Land Baden-Württemberg die Forderung der UN-Konvention bereits erfüllt habe.Wenn man weiß,dass Baden-Württemberg eines der Schlusslichter beim gemeinsamen Unterricht ist, kann man sich durchaus vorstellen, was hier an Umsetzungsvorschlägen in die Kultusministerkonferenz eingebracht wird.
Dann gibt es noch den Kultusminister von Bayern, Herrn Spaenle,der sich sogar verklagen lassen will.Er wehrt sich vehement dagegen, dass die Förderschule infrage gestellt wird und Eltern ihre Kinder in der Regelschule unterrichten lassen wollen.
Auf der anderen Seite haben wir Schleswig-Holstein, das sich schon heute zum Ziel einer inklusiven Schule bekennt und auf dem Weg ist, die internationalen Standards der Integration von behinderten Schülern in die Regelschule zu erreichen.
Wie sieht es in Hessen aus? Hier hat die Entwicklung in den vergangenen Jahren stagniert. Stellen für den gemeinsamen Unterricht wurden gestrichen, und Integrationskinder werden spätestens nach der Grundschule ausgebremst, wenn es für die weiterführenden Schulen kein entsprechendes Angebot mehr gibt.
Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat im vergangenen Jahr 50 zusätzliche Stellen für den gemeinsamen Unterricht beantragt. Dies ist auf große Zustimmung im Ausschuss gestoßen. Wir begrüßen sehr, dass die Regierungskoalition dies in ihrem Haushaltsentwurf auch umsetzen wird. Aber ich möchte betonen: Dies kann nur ein erster Schritt sein.
Wir brauchen eine sukzessive Ausweitung des Angebots an gemeinsamem Unterricht und die dafür erforderlichen Lehrerstellen.
Darüber hinaus fordert die SPD-Fraktion die Landesregierung auf, einen Modellversuch zu starten, der den Schulträgern die Möglichkeit eröffnet, bestehende Förderschulen Schritt für Schritt in die Regelschule zu integrieren und für die Kinder ein begabungsgerechtes Angebot zu entwickeln.
Frau Henzler, wir freuen uns, dass Ihr Amtsvorgänger, Herr Banzer, noch am 31. Januar dieses Jahres dem Landkreis Offenbach einen solchen Modellversuch genehmigt hat und dass jetzt in Mühlheim und Dietzenbach eine solche integrative Arbeit in der Regelschule starten kann. Aber ich glaube, das genügt nicht. Das ist nicht ausreichend.
Wer das Papier des Hessischen Landkreistages zur Entwicklung des Schulwesens kennt, der weiß, dass die Schulträger in den Landkreisen eine solche Forderung einstimmig auf den Weg gebracht haben. Das heißt, die Schulträger sind sehr viel weiter als diese Koalition. Ich denke, sie verdienen Unterstützung dabei, selbst solche Modellversuche auf den Weg bringen zu können.
Ich komme sofort zum Ende. – Ziel muss entsprechend der Konvention sein, die bestehenden sonderpädagogischen Einrichtungen weitgehend in die Regelschule einzugliedern. Wir begrüßen, dass auch die GRÜNEN diese Intention teilen und sich mit uns gemeinsam dafür einsetzen werden. Lassen Sie uns umdenken. Verschiedenheit ist eine Bereicherung des Unterrichts, und unterschiedliche Begabungen können gemeinsam gefördert werden. Dafür machen wir uns stark.
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! DIE LINKE unterstützt die Intention der Anträge von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,die unseres Erachtens aber beide noch Schwachstellen haben. Auf den Antrag der CDU und der FDP gehe ich am Schluss noch kurz ein.
Beide Anträge, der Antrag der SPD und der Antrag der GRÜNEN, betonen die Bedeutung einer auf inklusive Bildung zugeschnittenen Lehreraus-, Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung. Das schätzen wir ähnlich ein. Aus eigener fachlicher Erfahrung halte ich es weiterhin für sinnvoll, dass in den bereits arbeitenden GU-Klassen die Tandems von Regel- und Sonderpädagogen auch gemeinsam fortgebildet und kontinuierlich supervisorisch begleitet werden. Nur so können sich über die Zeit gemeinsames Wissen, gemeinsame Routinen und vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickeln.
Am SPD-Antrag gefällt uns, dass Sie den Willen der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf endlich zur obersten Maxime bildungspolitischer Planung machen wollen. Wir wollen im Unterschied zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber mittelfristig kein zusätzliches Personal mehr für den GU, sondern die Förderschulen sollen kleiner werden. Die Diagnose- und Förderzentren sollen keine eigenen Schüler mehr aufnehmen, sondern ihre Lehrerinnen und Lehrer immer mehr an den Regelschulen auch im GU zur Verfügung stellen.
Dafür gibt es durchaus schon Vorschläge. – Ähnlich sehen wir auch die Sache mit den Modellversuchen. Die SPD will in Modellversuchen Förder- und Regelschulen zu inklusiv arbeitenden Schulen zusammenführen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN greift den Vorschlag des Landkreistages auf, im gesamten Gebiet einzelner Schulträger die inklusive Beschulung umzusetzen, und kommt damit unseren Vorstellungen von einer flächendeckenden Einführung inklusiver Beschulung sicherlich am nächsten.
Aber Sie verzichten im Antrag auf die Forderung der Umsetzung des individuellen Rechtsanspruchs auf inklusive Beschulung, der unseres Erachtens aus der Ratifizierung der UN-Konvention resultiert.
Herr Wagner, das hätte zur Konsequenz, dass sich unser Land demnächst in Kreise mit inklusiv arbeitenden Systemen und solche mit traditionell exklusiv arbeitenden Systemen aufsplitten würde. Es käme womöglich zu einem Tourismus von Familien,die dorthin ziehen,wo inklusiv beschult wird. Das wäre fatal. Deshalb muss es beides geben: schon jetzt das Recht auf einen wohnortnahen gemeinsamen Unterricht und die Zusammenführung von Förderund Regelschulen zu inklusiv arbeitenden Schulen.
Damit würden sich beide Maßnahmen ergänzen und immer mehr verschränken und überlappen können – wenn es denn politisch so gewollt wäre, was wir alle bezweifeln.
Erstens zum Thema Modellprojekte. Viele in diesem Haus, ich glaube, auch Frau Henzler, waren in den letzten Jahren – Herr Irmer, seien Sie doch bitte ein bisschen stiller; hören Sie mir doch einmal zu – besorgt über die Ausweitung der Projektitis, wie ich es immer nenne, also die ausufernde Praxis, schöne Hochglanzmodellprojekte auszuloben, am besten mit fremden Geldern, wie solchen der EU, die dann aber gegebenenfalls trotz guter Evaluationsergebnisse nicht in eine Regelförderung überführt werden.
Aber in puncto integrative Beschulung gibt es bereits über Jahrzehnte auch in Hessen gute Erfahrungen. Diese Erfahrungen gilt es auszuwerten und für Projekte, wie sie in den beiden Anträgen beschrieben sind, zu nutzen. Warum sollten sich Schulen oder Landkreise nicht sofort gemeinsam auf den Weg machen und in einem Organisationsentwicklungsprozess ihre Arbeit vor Ort immer inklusiver gestalten? Dafür braucht man kein Modellprojekt, nur einen gemeinsamen politischen Willen, eine gute fachliche Begleitung und entsprechende Rahmenbedingungen, damit es zu überdauernder Praxis werden kann.
Damit komme ich zum zweiten Punkt. Nur wenn der Kapazitätsvorbehalt im Hessischen Schulgesetz fällt, kann es tatsächlich zu einem Paradigmenwechsel kommen. Die Behindertenorganisationen und auch wir befürchten,dass mit Tricks und einer Uminterpretation der klaren UNForderung alles so bleiben soll, wie es ist. Das zeigt auch der Antrag von CDU und FDP.
Das Kind hat aber aus unserer Sicht einen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung, und der Schulträger muss diesen wohnortnah realisieren. Dieser Anspruch muss einklagbar sein. Der Kapazitätsvorbehalt muss fallen, ohne Wenn und Aber.
Drittens. Die Anträge sind weiterhin ergänzungsbedürftig.Wenn wir von inklusiver Beschulung reden, haben wir meistens die Grundschulen vor Augen, also die Schulform, die bereits am inklusivsten arbeitet, indem sie nicht nur zukünftige Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten gemein beschult, sondern oft auch viele Kinder im GU hat. Die Anschlussfähigkeit an die Sekundarstufenschule ist für Kinder mit Beeinträchtigungen dagegen bisher nicht gegeben. Frau Henzler, bitte sorgen Sie dafür, dass die gemeinsame Beschulung und der GU endlich hochwachsen.Auch in den Kitas fehlt es noch an GU-Plätzen und qualifizierter Förderung.Eine besonders wichtige Arbeit leisten die Vorklassen an den Grundschulen für Kinder mit Beeinträchtigungen. Meist leiden sie jedoch unter einer veralteten Ausstattung, mangelnder Anerkennung ihrer Arbeit sowie Problemen bei den Übergängen in reguläre Klassen.