Protocol of the Session on November 17, 2010

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Moderne Gleichstellungspolitik muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirksam begleiten. Zu all diesen Fragen, die die Lebenswirklichkeit der Frauen in Hessen angeht, herrscht bei Ihnen völlige Flaute.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie fabulieren über Familien und lassen die Familien allein. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hat in dieser oder der letz

ten Woche folgende Zahlen für 2009 gemeldet: 651.000 Kinder wurden geboren, 30.000 weniger als im Jahr zuvor. Aber es sind 190.000 Menschen mehr gestorben.

(Mario Döweling (FDP): Sind wir da auch schuld?)

Was rät das Max-Planck-Institut? Materielle Anreize zum Kinderkriegen, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Kinderbetreuung und flexiblere Arbeitszeiten. – Das trifft den Nagel auf den Kopf.

Hier wurde gerade gefragt: „Sind wir daran auch schuld?“ Ja. Ich sage Ihnen auch, warum. Wenn die Hälfte aller unter 35-Jährigen noch nie in einer unbefristeten Beschäftigung war,

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

wenn die Hälfte aller unter 30-Jährigen in prekärer Beschäftigung arbeitet und nicht weiß, wie sie sich am Ende des Monats selbst durchkriegen soll, dann können wir doch diesen Familien, diesen Männern und Frauen, kaum glaubhaft sagen: „Nehmt die Entscheidung mutig an, Kinder zu bekommen.“

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Horst Klee (CDU))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die soziale, die arbeitsrechtliche und arbeitsmarktpolitische Lage hat etwas mit Familien zu tun. Deswegen hat das auch damit zu tun, welche Politik Sie machen. Das geht von der Frage, was das ansonsten für ein kinderfreundliches Land heißt, über die Frage nach Kinderbetreuung bis zu der Frage nach Kindertagesstätten und frühkindlicher Bildung. Von Schule will ich gar nicht reden. Das habe ich vorhin an einem Beispiel deutlich gemacht.

Ich sage Ihnen noch etwas zum Thema Teilhabe, weil das für mich wirklich ein sehr entscheidendes Thema ist. Die Teilhabe von Kindern ist gerade nach den Zahlen, die ich Ihnen eben genannt habe, eines unserer wichtigsten Themen, und es ist leider auch eines der Felder, auf denen die Verweigerungsposition von Ihnen am stärksten ausgeprägt ist. Ich habe das hier schon einmal mit anderen Zahlen gesagt. Ich will das heute noch einmal unterstreichen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Ein biss chen differenzierter!)

Herr Wagner, wenn Sie sich endlich mit den Zahlen und der Lebenswirklichkeit auseinandersetzen würden, kämen wir ein bisschen weiter. Vielleicht funktioniert es jetzt. Ich werde es Ihnen gleich symbolisch erklären, damit auch Sie es verstehen können.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Oppositionssymbole!)

Herr Wagner, in 25 Jahren werden nach Expertenmeinung vier von zehn Kindern in der Bundesrepublik Deutschland aus einkommensarmen Haushalten kommen – 40 %.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Woher wissen Sie das? – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Herr Wagner, in der Familien- und der Bildungspolitik sind 25 Jahre übermorgen. Es gibt eine Expertenkommission Ihres und meines ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, die diese Zahlen aufgestellt hat. Diese Zahlen sind öffentlich. Sie können das nachlesen. Die Bertelsmann Stiftung hat das auch für diejenigen aufbereitet, die Zahlen sinnlich erfahrbar wahrnehmen wollen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): 25 Jahre!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist eine Herausforderung. Wenn uns die PISA-Studie, wenn uns die Bildungsforschung sagt, dass im Wesentlichen die soziale Herkunft für den Bildungserfolg der Kinder verantwortlich ist, wenn uns die Sozialforschung sagt, dass uns droht, dass zukünftig 40 % der Kinder aus einkommensarmen Haushalten kommen, dann besteht da die zentrale Herausforderung auch und gerade für die Landespolitik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, deswegen sage ich Ihnen, Symbolpolitik ist fehl am Platz: wenn Sie Tafeln in Frankfurt besuchen und dabei die Tafeln für ihre Arbeit loben. – Natürlich sind das wunderbare, engagierte Frauen und Männer.

(Zurufe der Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) und Ulrich Caspar (CDU))

Ich versuche, das zu unterstützen, wo immer ich kann. Aber dass wir eine solche Institution in Deutschland brauchen, ist doch im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis für unsere Politik, und zwar für uns alle.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Nach Ihrem Besuch bei der Tafel haben Sie in derselben Woche an der Runde in Berlin teilgenommen, wo politisch ausgehandelt wurde, wie wir mit Hartz IV umgehen. Dabei kamen die 5 € und die 12 € Mobilitätskosten für die unter 13-Jährigen heraus. Bei der Tafel die Hände schütteln und sich anschließend auf einen solchen Weg zu machen: Da müssen sich die Leute wirklich auf den Arm genommen fühlen. Es war leider nicht April, sonst hätte man es als schlechten Aprilscherz werten können.

(Beifall bei der SPD)

Ich will zu der Lebenswirklichkeit kommen. Herr Spies, ich würde Sie bitten, mir kurz das Päckchen zu bringen.

(Dr. Thomas Spies (SPD) bringt dem Redner ein Päckchen Windeln. – Dr. Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Was soll das? – Weitere Zurufe)

Ich will Ihnen etwas erklären. Herr Wagner, Sie wissen, was das ist.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Theater! – Unruhe)

Herr Schäfer-Gümbel, ich möchte Sie bitten, das wieder zurückzugeben. Es gibt die klare Verabredung, dass wir solche Demonstrationen am Rednerpult nicht machen. – Danke schön.

(Demonstrativer Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP – Zurufe von der CDU)

Sie haben es gesehen. Herr Wagner, Sie wissen, was das ist. Das ist ein Päckchen Windeln.

(Zurufe von der CDU)

Dieses Päckchen Windeln kostet – das ist eine Billigmarke – 4,55 €.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Das sind 28 Windeln. Da Sie selbst Kinder haben, wissen Sie, dass man für unter dreijährige Kinder, wenn es keine Zwischenfälle und keine besonderen Situationen gibt, zwischen vier und fünf Windeln am Tag braucht.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das ist aber schwach!)

Ich sage ja: Da darf nicht viel passieren. Dann muss man damit sehr sparsam umgehen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Jetzt haben wir das richtige Niveau erreicht! – Judith Lannert (CDU): Mann, Mann, Mann!)

Herr Wagner, das Päckchen Windeln reicht für sechs Tage. Beim Hartz-IV-Regelsatz haben Sie für den gesamten Monat für die unter dreijährigen Kinder 6 € für die Gesundheitsversorgung und die Gesundheitsfürsorge eingeführt:

(Janine Wissler (DIE LINKE): Wer hat Hartz IV eingeführt?)

für Zahnpasta, für Seife, für Kinderbademittel und für Windeln. Jetzt sagen Sie mir: Wie soll das funktionieren? Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion hat mir im Gespräch gesagt, laut Statistik seien das 6 €.

(Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Ich sage Ihnen: Genau das ist das Problem. Es geht nicht um die Statistik. Es geht um die Lebenswirklichkeit. Es ist weltfremd, auf diesem Gebiet mit 6 € auszukommen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Clemens Reif (CDU): Wer hat den ganzen Mist eingeführt? Das waren doch Sie! – Weitere Zurufe von der CDU)

Das haben Sie entschieden. Ich messe Sie – das habe ich Ihnen schon einmal gesagt, auch dem Ministerpräsidenten – nicht an Ihren Worten. Ich messe Sie an Ihren Taten. Ihre Taten gehen in die falsche Richtung. Mit 6 € können Sie kein Kind über den Monat bringen. Das ist weltfremd. Das ist zynisch.

(Beifall bei der SPD – Clemens Reif (CDU): Genau! – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Während Sie in Berlin das Thema Armut und Teilhabe von Kindern so behandeln, wie Sie es behandeln, beschäftigen Sie sich in Wiesbaden abermals mit sich selbst, mit dem Machterhalt, mit der Nachbearbeitung Ihrer Skandalpolitik, die Sie in den letzten Jahren betrieben haben, dieses Mal im Falle der LKA-Chefin Sabine Thurau. Wir werden morgen noch Gelegenheit haben, das ausführlich zu würdigen. Deswegen will ich das an dieser Stelle mit Blick auf die Uhr ein bisschen kürzen.