Protocol of the Session on November 17, 2010

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Generaldebatte dient der Darstellung der politischen Alternativen. Diesem Anspruch will ich heute genügen.

Es lohnt sich in diesem Jahr mehr als im letzten. Der Grund ist einfach. Wir als hessische Sozialdemokratie haben unsere Krise überwunden, und deshalb ist es an der Zeit, offensiv über die Alternativen für dieses Land zu reden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU)

Herr Wagner, Sie haben zwar eine parlamentarische Mehrheit, eine gesellschaftliche aber haben Sie nicht mehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen will ich über die rot-grünen Alternativen, die Wirklichkeit werden können und für die wir in den nächs ten drei Jahren werben werden, im Laufe des heutigen Tages sprechen.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Dabei ist die aktuelle Umfrage für uns ein Hinweis darauf, dass wir wieder Boden unter den Füßen haben, nicht mehr und nicht weniger.

Übrigens ist das der Unterschied zwischen Ihrem Stil und unserem: Wir wissen, welchen Anteil wir an einem Problem haben, bei Ihnen sind immer die anderen schuld – in diesem Fall die Bundesregierung; das haben wir am Wochenende erlebt.

(Beifall bei der SPD – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Guido wars! – Gegenruf des Abg. Günter Rudolph (SPD): Das ist sein Freund!)

Guido wars? – Dazu werden wir noch einmal kommen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen und Kolleginnen, diese Alternativen müssen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit, auf die Herausforderungen jedes Einzelnen, der Gesellschaft und der Wirtschaft, geben. Diese Herausforderungen müssen in eine neue Partnerschaft – das ist meine feste Überzeugung – zwischen Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft münden. Das Vertrauen in die Politik ist zutiefst erschüttert. Das spüren wir alle in den Gesprächen, die wir mit

Bürgerinnen und Bürgern in den Veranstaltungen, die es gibt, führen.

(Florian Rentsch (FDP): Richtig!)

Es stimmt, die FDP ist dafür momentan auch Fachkraft.

Erwartungen einerseits und Vertrauen andererseits liegen weit auseinander.

(Florian Rentsch (FDP): Richtig!)

Herr Rentsch, diese Vertrauenslücke müssen wir schließen. Der erste Schritt dazu ist es, die Lebenswirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.

(Beifall bei der SPD – Dr. Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Richtig, sehr gut!)

Herr Wagner, anders als Schwarz-Gelb verstehen wir Politik nicht als den tagtäglichen Kampf mit allen erlaubten und – im Falle Ihrer Regierungszeit – auch mit allerlei unerlaubten Mitteln um Machterhalt.

(Petra Fuhrmann (SPD): In der Tat!)

Dieser Machterhalt ist der einzige Anspruch, der Sie noch antreibt. Das kann ich teilweise verstehen, wenn ich die jüngsten Umfragen sehe, die Rot-Grün bei über 50 % einstufen.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, inhaltliche Ansprüche an die Gestaltung des Landes – ich wiederhole mich – kann ich keine erkennen. Herr Bouffier, Sie sind die neuen Gesichter des Stillstands. Ich korrigiere mich: Manche Gesichter sind die Gesichter des Dauerstillstands.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Der nächste Witz!)

Zwei Kernfragen dieser Debatte interessieren die Bürgerinnen und Bürger, und am Ende vor allem deren Beantwortungen: Welches sind die Probleme, und wo sind die Lösungen? Ich ergänze: Wo sind Ihre scheinbaren Lösungen, und wo sind unsere Alternativen?

Am Wochenende haben deutschlandweit mehr als 100.000 Menschen für mehr soziale Gerechtigkeit de mons triert und sind dem Aufruf des DGB gefolgt. Wir unterstützen das. Diese Proteste richten sich vor allem gegen niedrige Löhne, Leiharbeit, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, obwohl sich die Arbeitsmarktlage der über 60-Jährigen eindeutig verschlechtert hat.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Die hat Gerhard Schröder eingeführt!)

Herr Wagner, die hat nicht Herr Schröder eingeführt, sondern das war die Große Koalition. Ein bisschen Redlichkeit gehört dazu. Deswegen will ich Sie mit den Fakten beschäftigen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Jetzt kommt er zu Fakten!)

Die Hälfte aller unter 35-jährigen Arbeitnehmerinnen und -nehmer stand noch nie in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis.

(Norbert Schmitt (SPD): Unglaublich!)

Die Hälfte aller unter 30-Jährigen arbeitet in prekären Arbeitsverhältnissen: Niedriglohn, Leiharbeit, befristete Beschäftigung, 400-€-Jobs und Praktika. Insgesamt jeder

vierte Beschäftigte arbeitet in solchen Beschäftigungsverhältnissen.

Seit Montag wissen wir, dass jeder fünfte Hesse im Niedriglohnsektor arbeitet. Jeder zehnte Hesse arbeitet für weniger als 6 € die Stunde.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Herr Wagner, Ihre Antwort ist: weiter so, Augen zu und durch. Das kennen wir schon, das hat dieses Land schon einmal in den sozial- und finanzpolitischen Ruin geführt.

(Beifall bei der SPD – Dr. Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Wer hat Ihnen denn diese Rede geschrieben?)

Mit der Lebenswirklichkeit wollen Sie sich nicht beschäftigen. Stattdessen fabulieren Sie von der Familie. Ich formuliere das ausdrücklich so. Sie sprechen davon, dass Sie keine betriebsnahe Familie wollen. Das waren die Worte des Ministerpräsidenten in seiner ersten Regierungserklärung: Er will keine betriebsnahe Familie. – Aber er ist die Antwort schuldig geblieben, was das konkret heißt. Anschließend lassen Sie die Familie allein.

Ich will Ihnen sagen, wir bekommen alle viel Post nach solchen Veranstaltungen. Es sind freundliche Briefe dabei, es sind unfreundliche Briefe dabei. Es gibt manche, die bewegen einen mehr als andere. Einen Brief, den ich nach der letzten Debatte aus Weilburg bekommen habe, will ich Ihnen in Teilen verlesen, weil er von einer Frau stammt, die aus ihrer Seelensituation, aus ihrer Arbeitssituation keinen Hehl gemacht hat:

Guten Morgen, Herr Schäfer-Gümbel!

Ich bin eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, gehe trotz unheilbarer Lungenkrankheit sieben Tage die Woche arbeiten. Alle 14 Tage sonntags erlaube ich mir einen freien Tag. Da der Vater meiner Kinder keinen Unterhalt zahlt, obwohl er selbstständig ist, bin ich auf einen Zuschuss von Hartz IV angewiesen.

Die Erhöhung von 5 € ist mehr als ein Schlag ins Gesicht. Ich begann noch vor der Vollendung des 15. Lebensjahrs mit meiner Ausbildung zur Konditoreifachverkäuferin, habe bisher 35 Jahre Steuern gezahlt und werde es auch weiterhin tun.

In unserer Bäckerei, in der ich arbeite, wurden erst kürzlich die Preise erhöht. Für 5 € erhalte ich ein Dreipfundbrot zu 3,80 € und vier Brötchen zu 1,20 €.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist die Lebenswirklichkeit, von der ich rede.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LIN- KEN)

Das ist das, was uns beschäftigen muss, wobei Sie nicht bereit sind, sich mit den Konsequenzen aus genau solchen Lebenssituationen zu beschäftigen.

Jetzt hat eine aktuelle Studie zum Thema Leiharbeit herausgefunden, dass das von der Branche häufig vorgebrachte Argument, für viele Arbeitnehmer bedeute die Leiharbeit den Einstieg in die feste Stelle, nicht stimmt. Allein von Herbst 2008 bis September 2009 hatten bundesweit 434.000 Leiharbeitskräfte ihren Job verloren und waren dadurch gezwungen, sich arbeitslos zu melden.

Deswegen stellt die Leiharbeit keine dauerhafte Perspektive für solche Jobs dar. Es ist eben eine Ausnahme und nicht die Regel. Aber die Leiharbeit wird heute von vielen missbraucht, die Stammbelegschaften unter Druck zu setzen, Löhne zu drücken, die Arbeitsverhältnisse zu destabilisieren. Das hat auch gesellschaftspolitische Konsequenzen gerade für die Familien.

Das sind die Fragen, die uns beschäftigen müssen; aber Sie sind nicht einmal bereit, auf diese Fragen und Themen einzugehen. Der Herr Ministerpräsident hat dazu in seiner Regierungserklärung kein einziges Wort gesagt. Im Haushalt gibt es im Übrigen auch keine Stellungnahme dazu.

(Beifall bei der SPD)