Protocol of the Session on September 30, 2010

Er sagt das mit seinen Worten: Nein, mit den sozialen Transferleistungen werden viele zu sehr in Watte gepackt, dass sie diese Anreize überhaupt nicht mehr haben. – An der Stelle müssen wir anpacken.An der Stelle müssen wir sagen: Jawohl, wir müssen das Lohnabstandsgebot berücksichtigen.

Wir werden nachvollziehen müssen, was das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, dass beispielsweise die Entwicklung der Regelsätze von den Renten abgekoppelt ist. Aber was sagen Sie den Rentnern, die ein ganzes Leben lang gearbeitet haben? Dass sie keinerlei Erhöhung ihrer Renten mehr bekommen können, aber gleichzeitig diejenigen, die Hartz-IV-Empfänger sind, eine Erhöhung bekommen? Da gibt es Ungerechtigkeiten. Da gibt es eine soziale Schieflage in unserem Land.Wir müssen aufpassen, dass die soziale Schieflage nicht in einen sozialen Unfrieden ausartet.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

An genau dieser Stelle arbeitet die SPD. Sie will nämlich sozialen Unfrieden in diesem Land schaffen und keine sozial gerechte Lage.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Viele dieser Diskussionen führen am Thema vorbei. Es ist nett, dass die SPD eine Sondersitzung beantragt hat, um ihr HAföG, also ein hessisches Leistungsgesetz, in die Anhörung bringen zu können. Gleichzeitig hat sie gesagt: Der Grüttner hat versprochen, die Schülerbeförderungskosten einzubringen. – Sie tun gerade so, als ob das von heute auf morgen möglich ist.

(Dr.Thomas Spies (SPD): Herr Minister, Sie haben es angekündigt!)

Aber vielleicht bringen wir das alles in ein Geschachere ein, um Ihren Ausdruck zu verwenden. Herr Gabriel hat gerade gestern und heute Morgen im Frühstücksfernsehen noch einmal gesagt: Wenn es irgendwo einen Mindestlohn gibt, dann reden wir nicht mehr über die Regelsatzhöhe. Dann ist das auch in Ordnung.

Nein,wir werden zu diskutieren haben,was beispielsweise noch als Regelbedarf anzuerkennen ist. Da werden Schülerbeförderungskosten eine Rolle spielen. Ich bin weiß Gott nicht zufrieden damit, dass beispielsweise Sachleistungen in der Bildung durch die BA administriert werden sollen.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was haben Sie erreicht?)

Ich habe keine Lust, Vorgaben von Nürnberg zu bekommen und letztlich einen von Nürnberg lizenzierten Nachhilfelehrer zu haben, bei dem die Kinder von Hartz-IVEmpfängern Nachhilfe bekommen können.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Ich habe keine Lust darauf, dass an dieser Stelle gewachsene Strukturen in unserem Land Hessen kaputt gemacht werden. Natürlich gibt es bei uns auch die Möglichkeit, dass das Mittagessen über den Härtefonds bezuschusst wird oder dass die Essenskosten für die Kinder übernommen werden, bei denen es pädagogisch wichtig ist, dass sie an einer Mittagsversorgung teilnehmen, auch wenn ihre Eltern kein Hartz IV beziehen. Das wollen wir aufrechterhalten. Wir wollen keine Zweiklassengesellschaft haben.

(Dr. Thomas Spies (SPD): Herr Minister, warum kürzen Sie es denn? Wir kennen Ihren Haushaltsentwurf!)

Herr Dr.Spies,Sie kennen doch die Diskussionen.Wenn sich Herr Schäfer-Gümbel hierhin stellt und irgendetwas von Ganztagsschulen erzählt,dann hat er gestern nicht zugehört,als erklärt worden ist,um wie viel die Angebote an Ganztagsschulen in Hessen im Vergleich zu anderen erhöht worden sind. Natürlich schauen wir nach neuer Mittagsversorgung. Sie müssen sich abfinden, Sie müssen zuhören.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Thorsten Schä- fer-Gümbel (SPD): Lautstark, aber keine Ahnung! – Zuruf des Abg. Dr.Thomas Spies (SPD))

Nicht essen und abwinken, sondern zuhören, akzeptieren, ordentlich diskutieren

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Sehr gut!)

und versuchen, einen Weg zu finden, wie man aktivierende Sozialpolitik betreibt.

(Zuruf des Abg.Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Wissen Sie, es geht mir bei Ihnen wie dem Herrn Reif: Ich habe das Mikrofon und bin lauter. Ich rede auch nicht mit vollem Mund.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Herr Staatsminister, die Redezeit der Fraktionen ist erreicht.

Insofern sage ich: Es geht mir um eine aktivierende Sozialpolitik. Es geht mir darum, dass denjenigen, die Arbeit suchen, geholfen werden kann, dass Kindern Bildungschancen eingeräumt werden, aber dass gleichzeitig denjenigen, die einer Arbeit nachgehen, ein größerer Vorteil entsteht als denjenigen, die von staatlichen Transferleistungen abhängig sind.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Thorsten Schä- fer-Gümbel (SPD): Eieiei! – Zuruf der Abg. Heike Habermann (SPD))

Vielen Dank, Herr Staatsminister Grüttner. – Wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Wir wollen Herrn Banzer zurück! Das lohnt sich wenigstens!)

Meine Damen und Herren, wenn ich mich recht erinnere, hat Herr Vizepräsident Lortz bereits mit Ihnen entschieden, dass die mit aufgerufenen beiden Dringlichen Anträge und der Dringliche Entschließungsantrag an den Sozialpolitischen Ausschuss überwiesen werden sollen. – Das ist so. Dann muss ich das nicht noch einmal aufrufen.

Dann kommen wir gemäß der Tagesordnung zu dem Tagesordnungspunkt 44:

Entschließungsantrag der Fraktion DIE LINKE betreffend Ablehnung des GKV-Finanzierungsgesetzes durch die Hessische Landesregierung im Bundesrat – Drucks. 18/2871 –

Dazu wird mit aufgerufen der Tagesordnungspunkt 85:

Dringlicher Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend Gesundheitssystem auf eine tragfähige Grundlage stellen – Drucks. 18/2937 –

Ich darf dann Frau Kollegin Schott von der Fraktion DIE LINKE nach vorne bitten. Die Redezeit beträgt zehn Minuten.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Aus dem FDP-Lager wurde ein Gesetzentwurf zur Lösung von Finanzierungsproblemen der gesetzlichen Krankenversicherung in den Bundestag eingebracht. Der Kernpunkt des Gesetzentwurfs ist die Neuregelung bei den Finanzierungslasten, namentlich der Ausstieg aus dem System der paritätischen Versicherung, das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags bei 7,3 %, die Erhebung eines Zusatzbeitrags bei den Versicherten von 0,9 % sowie die Einführung der Kopfpauschale. Das führt zu deutlichen Mehrbelastungen bei den Versicherten.

Der FDP-Minister hat explizit erklärt, dass der vorliegende Gesetzentwurf nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem Systemwechsel sei. Ziel ist: „Eine viel bessere Kostenbremse ist der aufgeklärte Versicherte, der selbst entscheiden kann, wofür sein Geld ausgegeben wird.“ So war es in der „Süddeutschen Zeitung“ nachzulesen.

Die Versicherten selbst sollen die Aufgabe der Kostenbremsung übernehmen, und zwar mit ihrem Geld. Da man nur Geld ausgeben kann, das man vorher eingenommen hat, ist das Ziel klar: Wer wenig Geld hat, kann sich nur wenig Krankenversicherung leisten. Gesundheit und Gesundheitsvorsorge werden vom individuellen Einkommen abhängig.

Die aufgemachte Perspektive ist aber noch weit bedrohlicher. Rösler will, dass die „einkommensunabhängigen Beiträge die künftigen Kostensteigerungen ausgleichen“. Das stand so in der „Süddeutschen Zeitung“.

Aber der Versicherte soll als Kostenbremser fungieren,indem er oder sie entscheidet, wofür sein oder ihr Geld ausgegeben wird. Gleichzeitig soll den Krankenkassen mehr Beitragsautonomie gegeben werden. Damit soll der Wettbewerb der Kassen um die Versicherten in Gang gebracht werden.

Wirtschaftliche Konkurrenz wird ausgetragen über die Variationen bei Preisen bzw. Beiträgen und den Leistungen. Die Preise lassen sich über Kostensenkungen verändern, beispielsweise Verwaltungskosten. Bei den gesetzlichen Krankenkassen ist da aber gar kein Spielraum.Auf 10.000 Versicherte kommen in der GKV ca. 20 Beschäftigte. Bezogen auf die erbrachten Leistungen liegt der Verwaltungskostenanteil bei 5 %. Zum Vergleich: Die BA für Arbeit hat 5,9 %. Die privaten Krankenkassen behaupten zwar immer,sie hätten nur 4 %.Werden aber Abschlusskosten und Provisionszahlungen berücksichtigt, kommt man auf 9 bis 15 %. Das Statistische Bundesamt spricht von 16 %.

Wenn es bei den GKVen keinen Spielraum für Kostensenkungen im Verwaltungsbereich gibt, können eine Differenzierung und ein Wettbewerb um die Versicherten nur mit der Kombination des Umfangs von Gesundheitsleistungen und des damit korrespondierenden Beitrags stattfinden. Kurz: Wer mehr bezahlen kann, bekommt auch mehr. Gesundheit wird so eine Frage des individuellen Einkommens und damit eine Klassenfrage.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Gesetzentwurf der CDU und der FDP behauptet, dass es dazu keine Alternative gebe. Das ist schlichtweg die Unwahrheit. Die Alternative heißt: solidarische Bürgerversicherung. Das finanzielle Potenzial dieses Konzepts ist enorm.Karl Lauterbach,Gesundheitsexperte der SPD, schätzt, dass ohne Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze, aber bei Einbezug von Zins- und Kapitaleinkommen der Beitragsatz um 1,8 Prozentpunkte gesenkt werden kann. Das Konzept der LINKEN sieht perspektivisch auch eine Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze vor. Damit ist ein Beitragssatz künftig von etwa 10 % möglich, also 5 % für Arbeitgeber und 5 % für Arbeitnehmer. Das wäre in etwa eine Senkung um 4 Prozentpunkte. Das wäre die geeignete Alternative, die es angeblich nicht gibt.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber lassen Sie mich auch noch einige andere Legenden der Gesundheitspolitik näher betrachten. Seit Jahrzehnten wird von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen bzw. in den GKVen gesprochen. Schauen wir uns den Anteil der GKV-Ausgaben am BIP an: 1980 lag er bei 5,8 %, 1985 bei 6 % und 2007 bei 6,3 %. Er weist also eine, gemessen am BIP, ganz leicht steigende Tendenz aus. Von Explosion kann keine Rede sein.

Eine ähnliche Entwicklung ergibt sich bei den Gesundheitsausgaben insgesamt. Hier ist zwischen 1980 und heute ein Anstieg von 8,4 auf 10,6 % zu beobachten. Dieser Trend ist bei allen OECD-Ländern ähnlich. Der leichte Anstieg hat unter anderem etwas mit dem Wandel von einer primär industriellen zu einer dienstleistungsorientierten Gesellschaft zu tun. Dennoch gibt es ein Finanzierungsproblem in der gesetzlichen Krankenversicherung: die seit Jahren fallenden Reallöhne. Die Umverteilung hin zu Gewinnen, Zins- und Kapitaleinkommen lässt gleichzeitig die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherungen erodieren. Mit jedem Euro im BIP, der den Löhnen bzw. den Arbeitseinkommen entzogen wird, werden der gesetzlichen Krankenversicherung derzeit im gleichen Zuge 14,9 Cent entzogen.

Dieses Problem könnte ganz einfach gelöst werden: Es gibt eine Versicherung auf alle Einkunftsarten. Das hat eine ganz einfache Konsequenz: Jeder dem Arbeitseinkommen entzogene Euro taucht dann bei einer anderen

Einkommensart wieder auf. Diese Einkommensart ist dann Teil der Finanzierungsbasis der Gesundheitsversicherung. Mit anderen Worten: Von der seit Jahrzehnten laufenden Umverteilung wären dann das Gesundheitssystem und seine Finanzierung entkoppelt. Es steht dann auf einer ganz soliden Basis.

Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass mit dem Gesetzentwurf der CDU/FDP-Regierung den ca.10 Millionen Versicherten in den privaten Versicherungen ein Gefallen getan wird. Aber das ist mehr als fraglich. Es stellt sich zudem die Frage,ob mit der angestrebten Umstellung auf ein privates Krankenversicherungssystem der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP gesenkt wird – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Bekanntermaßen gelten für die Privatversicherten die Fallpauschalen der gesetzlichen Krankenversicherungen nicht. Im privaten System wird mehr bezahlt. Die sich daraus ergebende Entwicklung hat die „Süddeutsche Zeitung“ so dargestellt:

Kommt ein Kassenpatient zum Arzt. Er hat Stress im Büro, Ärger mit der Frau und Bauchschmerzen. Der Arzt drückt auf dem Bauch herum, sagt, „das wird schon wieder“ und „gönnen Sie sich mal ein paar Tage Ruhe“. Auf Wiedersehen im nächsten Quartal.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU):Tschüss, bis morgen!)

Kommt ein Privatpatient zum Arzt. Er hat Stress im Büro, Ärger mit der Frau und Bauchschmerzen. Der Arzt nimmt viel Blut ab, macht Ultraschall von Bauch und Herz („Sie sind jetzt in dem Alter“), den Helicobacter-Atemtest, den Lactosetoleranztest und schreibt den Patienten sofort zur Darm- und zur Magenspiegelung ein. „Vorerst kommen wir ohne Kernspin aus“, sagt der Arzt. „Aber wir müssen dran bleiben, die Ursache finden wir schon.“ Bis morgen.