Protocol of the Session on September 29, 2010

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die SPDFraktion legt heute den Entwurf für ein neues Schulgesetz vor.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Mittelpunkt stehen das einzelne Kind, seine Lernausgangslage, sein Entwicklungsstand und sein Lerntempo. Eine individuelle Förderung wird mit diesem Gesetzentwurf zum Prinzip der schulischen Arbeit in Hessen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir wissen, dass Kinder bereits mit ungleichen Startbedingungen in die Schule kommen. Wenn Familien ihrer originären Aufgabe zur Förderung und Unterstützung ihrer Kinder nicht nachkommen oder nachkommen können, müssen sich die Schulen der Aufgabe stellen, unterschiedliche und ungleiche Bildungschancen, die aus Herkunft und familiärer Situation herrühren, so weit wie möglich aufzufangen. Jede Schule soll Verantwortung für die Kinder übernehmen, die sie aufgenommen hat, und ihnen eine Bildungsperspektive vermitteln.

(Beifall bei der SPD)

Ein Schulgesetz muss dafür die notwendigen Rahmenbedingungen formulieren, damit die Schulen dies auch tun können. Eine angemessene Ausstattung, ein funktionierendes Unterstützungssystem, größtmögliche Freiheit bei der pädagogischen Arbeit und Strukturen,die Vielfalt und Individualität, Leistung und Förderung für alle ermöglichen, sind die Bedingungen dafür.

Wie ein roter Faden zieht sich deshalb ein Auftrag an die Schulen durch diesen Gesetzentwurf: Jedes Kind wird dort abgeholt, wo es steht, und kein Kind darf zurückgelassen werden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die flexible Schuleingangsphase wird zur Regeleinrichtung. Ob ein Kind die Lernziele der beiden ersten Klassen

in einem Jahr, in zwei oder drei Jahren erreicht, wird von seiner individuellen Entwicklung bestimmt. Hessen war einmal eines der ersten Bundesländer, das den flexiblen Einstieg in die Grundschule als Modell erprobt hat.Heute ist ein flexibler Schuleingang in vielen Bundesländern flächendeckend eingeführt, während die Entwicklung in Hessen stagniert.

(Beifall bei der SPD)

Mit einem flexiblen Schuleingang kann auf die Rückstellung vom Schulbesuch verzichtet werden, und wir öffnen den Grundschulen die Option, einen weiteren Einschulungstermin im Februar anzubieten.

Die Grundschulen übernehmen auch eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Analog der sukzessiven Auflösung der Sonderkindertagesstätten seit dem Jahr 1999 soll das inklusive Schulsystem zunächst in den Grundschulen realisiert werden. Wir wollen erreichen, dass bestehende Förderschulen in der Regel erst ab Klasse 5 beginnen. Neugründungen von Förderschulen lehnen wir ab.

(Beifall bei der SPD)

Die Förderung behinderter oder lernbeeinträchtigter Kinder findet in und nach der Grundschulzeit in der Regelschule statt. Entscheidend ist dabei der Elternwille. Wenn Eltern für ihr Kind bessere Entwicklungschancen in einer Förderschule sehen, muss der Besuch dieser Schule weiterhin möglich sein. Umgekehrt darf kein Kind vom Besuch einer Regelschule ausgeschlossen werden, wenn dies dem Elternwunsch entspricht.

Unser Ziel ist eine Schule, in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Bereicherung gesehen werden, und dazu kann jedes einzelne Kind beitragen.

Endlich beenden wollen wir das missglückte Experiment der verkürzten Mittelstufe, auch G 8 genannt.

(Beifall bei der SPD)

Stress, blindes Faktenlernen, fehlende Zeit für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, für Hobbys oder Freunde – das sind, in Kurzfassung, die Folgen einer Schulreform, für die es bis heute keine sinnvolle Begründung gibt. Denn die Begründung, dass die Kinder ein Jahr Lebenszeit sparen und dass sie damit auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen haben, ist weit hergeholt. Tatsache ist allerdings, dass mit der Einführung von G 8 die Durchlässigkeit der Schulformen endgültig zerstört wurde. Dies war wohl der wahre Hintergrund dieser Reform.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD-Fraktion will dagegen eine sechsjährige Mittelstufe in allen Schulformen und – analog zur Schuleingangsphase – eine flexible Oberstufe. Schülerinnen und Schüler sollen je nach individuellem Lerntempo und -fortschritt jahrgangsübergreifend die für die Zulassung zum Abitur erforderlichen Kurse besuchen können. So wird es möglich sein,das Arbeitspensum für die Prüfung auf zwei, drei oder vier Oberstufenjahre zu verteilen. Zusammen mit der Schuleingangsphase hat jedes Kind die Möglichkeit, angepasst an die eigene Entwicklung die Schulzeit zu verkürzen. Der Irrweg des hessischen G-8-Modells ist nicht zu reparieren, er muss beendet werden.

(Beifall bei der SPD)

An Vielfalt und Individualität des Lernens und des Lerntempos orientiert sich dieser Gesetzentwurf auch bei der

Struktur der weiterführenden Schulen. Wir wollen den hessischen Schulen das Angebot machen, sich zu Gemeinschaftsschulen zu entwickeln, die bis zum Abschluss der Oberstufe alle Abschlüsse anbieten. Eine Gemeinschaftsschule soll als Ganztagsschule arbeiten und ihren Unterricht bis zum Abschluss der Mittelstufe binnendifferenziert und ohne Aufteilung nach Leistungskursen organisieren. Sie verzichtet auf Sanktionen wie das Sitzenbleiben und verpflichtet sich, ihre Schülerinnen und Schüler zu einem Abschluss zu führen. Wir sind überzeugt, dass wir den Schulen und Eltern mit diesem Modell ein Angebot für längeres gemeinsames Lernen machen, das gerne aufgegriffen wird.

(Beifall bei der SPD)

Um der Vielfalt und den ganz unterschiedlichen Talenten und Interessen der Kinder gerecht zu werden, brauchen wir nämlich keine Vielfalt von Schulformen.

Die Existenz von drei Begabungstypen wird auch von den Bildungswissenschaftlern negiert, die nicht am gegliederten Schulsystem zweifeln. Die Tatsache, dass die Ungleichheit der Bildungschancen durch eine frühe Aufteilung nach Schulformen verstärkt wird, bezweifeln die Experten längst nicht mehr.

Ich will hinzufügen, es wäre sehr hilfreich, wenn wir heute auf die platten Argumente gegen die Einheitsschule verzichten könnten. Ich will deswegen einen Experten zitieren, der wenig verdächtig ist, dass er den Sozialdemokraten nahesteht: Ludger Wößmann, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Abteilungsleiter am ifo Institut für Wirtschaftsforschung. In seinem Buch „Letzte Chance für gute Schulen“ schreibt er über seine Forschungsergebnisse und stellt fest:

Unsere mikroökonometrischen Studien anhand der internationalen Schulleistungstests zeigen, dass der Leistungsunterschied zwischen Kindern gut ausgebildeter Eltern und Kindern aus bildungsferneren Schichten in Ländern mit einem ausgebauten System frühkindlicher Bildung

auch dafür stehen wir –

und mit einer später einsetzenden Aufteilung in unterschiedliche Schultypen durchgehend geringer ist, ohne dass darunter das Leistungsniveau leiden würde.

(Beifall bei der SPD)

Ich schließe das Zitat ab:

Auch der Bundesländervergleich bestätigt diese Tendenz. Die Chancen sind dort gerechter verteilt, wo die Kinder später auf unterschiedliche Schulformen verteilt werden.

So Prof. Wößmann vom ifo Institut für Wirtschaftsforschung.

(Zurufe von der SPD: Hört, hört! – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Herr Irmer, wenn Sie schon auf alle anderen nicht hören, sollten Sie wenigstens zur Kenntnis nehmen, was Fachleute dazu sagen, die etwas davon verstehen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Längeres gemeinsames Lernen ist eine Chance für alle Kinder, und wir wollen den Schulen die Möglichkeit geben, dies zu realisieren.

Die selbstverantwortliche Schule, wie sie in unserem Entwurf für ein Schulgesetz beschrieben wird, ist eine demokratisch verfasste Schule. Die neue Rolle des Schulleiters wird definiert, und gleichzeitig werden die Mitwirkungsrechte der Eltern, der Schüler und des Kollegiums gestärkt; denn nur wenn alle an der Schule Beteiligten mitgestalten und mitentscheiden können, kann die Schule in Selbstverantwortung funktionieren.

Wir haben das Recht auf freies pädagogisches Handeln und die Möglichkeiten dafür verankert. Wir haben das Budgetrecht verankert, und wir haben eine Regelung eingebaut, die es zulässt, dass Schulen als rechtsfähige öffentliche Anstalten arbeiten können. Wir haben die Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen mit dem Projekt SV+ und unser Konzept einer demokratisch verfassten, selbstverantwortlichen Schule in diesem Gesetzentwurf realisieren können. Wir wären sehr dankbar, wenn wir konstruktiv darüber diskutieren könnten, so, wie ich das für den gesamten Gesetzentwurf voraussetze.

Wir haben dem Herrn Ministerpräsidenten ein Gesprächsangebot gemacht.Leider wurde es abgelehnt,trotz seiner Aussagen in der ersten Regierungserklärung, dass in diesem Haus ein neuer Stil einkehren werde.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Neuer Stil!)

Wir werden in den anstehenden Ausschussberatungen zu prüfen haben, ob seine Aussage nur eine wohlfeile Grußbotschaft war oder ob eine ernsthafte und unpolemische Beratung unseres Gesetzentwurfs in den Gremien möglich ist. Dazu kann ich Sie nur auffordern. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Nächste Wortmeldung, Herr Abg. Irmer für die CDUFraktion.

Her Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Habermann,Sie haben gesagt,der Herr Ministerpräsident habe es abgelehnt, ein Gespräch zu führen. Dies ist nicht ganz zutreffend, wie Sie wissen. Er hat angeregt, dass ein solches Gespräch zunächst auf der Ebene der Fachkollegen erfolgt.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Genau so ist es!)

Ich sage sehr offen, ich habe kein Problem damit, wenn sich die schulpolitischen Sprecher der vier demokratischen Fraktionen in diesem Haus hinsetzen und gemeinsam Ihren Entwurf für ein Schulgesetz durchdeklinieren.

Es gibt sicherlich einige Punkte, über die man sprechen kann. Aber es gibt auch Punkte, bei denen wir überhaupt nicht auf einen Nenner kommen. Wenn ich Ihre Hauptaussage richtig verstehe, geht es im Kern wieder einmal darum, dass Sie auf die Gemeinschaftsschule setzen. Mit anderen Worten: Die Sozialdemokraten sind wieder auf Ypsilanti-Kurs. Frau Ypsilanti hat schon vor drei Jahren öffentlich die Einführung einer Gemeinschaftsschule gefordert.