Sie lesen doch sonst so gern unsere Parteiprogramme. Da können Sie den Unterschied vielleicht nachvollziehen.
Aber ich will mit etwas beginnen, worüber wir uns wahrscheinlich alle einig sind: Gute Bildungspolitik muss nachhaltig und verlässlich sein, nicht nur in den pädagogischen und den inhaltlichen Zielsetzungen, sondern auch bei der Finanzierung und den Arbeitsbedingungen in den Schulen. Ich denke, das sollte ein Grundsatz sein, der uns zusammenführt.
Die Realität sieht anders aus: Die Unterfinanzierung des Bildungssystems steht seit Jahren auf der Agenda der Politik. Es ist eine Binsenweisheit, dass Schulreformen mehr als eine Legislaturperiode brauchen, um die intendierte Wirkung zu entfalten.
Trotzdem werden die Programme überall immer wieder noch in der Modellphase zusammengestrichen oder verändert. Viele Beschlüsse bleiben Türschilder, weil in den Schulen nicht die nötige Zeit zur Umsetzung vorhanden ist oder die dafür notwendigen Mittel schlicht nicht zur Verfügung gestellt werden. Das hat oft auch etwas mit Wahlen zu tun.
Eine Verständigung über Bildungsreformen und Bildungsfinanzierung innerhalb der Bundesländer, aber auch zwischen den Bundesländern ist deshalb im Interesse vor allem der Kinder längst überfällig.
Inzwischen haben wir zahllose Expertisen und Stellungnahmen von Bildungswissenschaftlern und Bildungsstudien, die den Reformbedarf des Schulsystems beschreiben: mehr Durchlässigkeit, weniger Selektivität, Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Qualitätsmerkmal fördern, Zeit zum Lernen und zur Entwicklung geben, Schule als Lebensraum entwickeln. Die Liste der Befunde ist lang. Bei der Umsetzung dieser Befunde wird die Expertise der Fachpraxis dann aber häufig ignoriert. Die jüngsten Beispiele in Hessen sind das unsägliche Landesschulamt und das völlig kopflos eingeführte Praxissemester in der Lehrerbildung. Der Erledigungsvermerk im Koalitionsvertrag hat Priorität vor den Einwänden derjenigen, die das Beschlossene dann umsetzen müssen. Insbesondere die hessische CDU verschließt sich jeder Debatte über eine zukunftsfähige Bildungspolitik und sieht sich selbst als letzten Bewahrer bildungspolitischer Glaubensbekenntnisse der Vergangenheit.
Erst gestern haben wir in der Ganztagsschuldebatte gehört, dass die CDU gebundene Ganztagsschulen zwar als Profil 3 in den Ganztagsschulrichtlinien akzeptiert, sie aber gleichzeitig als Zwangsbeglückung und Zwangsganztagsschule verunglimpft,
offensichtlich unbeeindruckt von den Expertisen, die Ganztagsschulen als einen Baustein für mehr Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit definieren. Solange ein bildungspolitisch nicht unbekannter stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU offensichtlich unwider
sprochen von der eigenen Fraktion bei Veranstaltungen Gesamtschulen als „Verbrechen an den Kindern“ bezeichnen kann,
(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist falsch! Sie wissen, dass das falsch ist! Sie sagen die Unwahrheit!)
werden wir kaum sachlich über längeres gemeinsames Lernen als Angebot an die Schulen diskutieren können.
Aber auch die Erfahrungen aus 2008 zeigen, dass der bloße Appell, der im GRÜNEN-Antrag formuliert wird, nicht ausreichen wird. Als Ergebnis einer großen schulpolitischen Anhörung ist es damals letztlich gelungen, wenige Vorhaben fraktionsübergreifend auf den Weg zu bringen. Als Beispiele will ich nennen: 100 neue Stellen im Bereich gemeinsamer Unterricht, die Erhöhung der Anzahl der Referendarstellen und das Wahlrecht zwischen G 8 und G 9 für die kooperativen Gesamtschulen.
Nach der mehrheitsfreien Parlamentsphase ist es zwar bei den 100 zusätzlichen Förderschullehrerstellen geblieben, aber trotz erhöhten Bedarfs für Inklusion wurden keine weiteren Schritte vereinbart. Von Konsens war hier nicht mehr die Rede. Die Stellenzahl bei den Studienreferendaren wurde wieder gekürzt. Von Konsens war nicht mehr die Rede.
Geblieben ist das Wahlrecht der kooperativen Gesamtschulen zwischen G 8 und G 9. Aber mit der sogenannten Wahlfreiheit der Gymnasien wurde die Möglichkeit der Rückkehr bestehender 5. und 6. Klassen aufgehoben, wiederum ohne sich um einen Konsens zu bemühen, übrigens auch nicht mit den Eltern, die das ganz massiv eingefordert haben.
Übrigens wurde damals die Wahlmöglichkeit der Gymnasien zwischen G 8 und G 9 von keiner einzigen Fraktion beantragt, nicht von der CDU, nicht von der FDP und nicht von den GRÜNEN. Wir haben uns damals als Kompromiss diesem Gesetzentwurf angeschlossen, obwohl wir immer die sechsjährige Mittelstufe in allen Schulformen für richtig hielten.
In den letzten Jahren hat sich in den Bundesländern viel bewegt und auch viel aufeinander zubewegt. Allein die hessische CDU bleibt bei ihrer autistischen Haltung.
(Holger Bellino (CDU): Autismus ist eine Krankheit! Unerhört! Benehmen Sie sich gefälligst! – Gegenruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Was? – Gegenruf des Abg. Holger Bellino (CDU): Sie soll sich benehmen! Das mag bei Ihnen in Ordnung sein, bei uns nicht!)
Bereits 2010 wurde ein Gesprächsangebot meines Fraktionsvorsitzenden an Ministerpräsident Bouffier über einen Konsens zu den damals vorliegenden Schulgesetzentwürfen der Koalition und der SPD schlicht ignoriert.
(Petra Fuhrmann (SPD): Ich will Ihnen etwas sagen: Wer einen Kollegen wie Herrn Dr. Müller in der Fraktion hat! – Gegenruf des Abg. Alexander Bauer (CDU): Er hat sich entschuldigt! – Unruhe)
Einen Moment. Die Herrschaften beruhigen sich bitte wieder. – Frau Kollegin Habermann, „autistisch“: Wir wollen
heute alle froh miteinander umgehen. Die Kollegen geben jetzt wieder Ruhe, damit sie Ihnen folgen können. Bitte schön.
Herr Präsident, das war nicht als Beleidigung gedacht, sondern als Verhaltensbeschreibung. Aber ich wiederhole gern den letzten Satz.
Bereits 2010 haben Sie ein Gesprächsangebot unseres Fraktionsvorsitzenden über einen zu vereinbarenden Konsens zu den vorliegenden Schulgesetzentwürfen von SPD und GRÜNEN schlicht ignoriert.
Meine lieben Freunde von den GRÜNEN, ich kann nachvollziehen, dass Sie gern in die Rolle des ideologiefreien Mediators schlüpfen, und die Absicht ist auch eine gute. Allein der vorgeschlagene Weg erscheint mir untauglich. Bei all dem, was wir in den letzten Jahren hier an Bildungspolitik und an Beratungsresistenz erlebt haben, sehe ich keine Chance darin, sich zusammenzusetzen, wenn dann jeder sein Programm auskramt und hinterher sagt: „Wir werden uns doch nicht einig“. Lassen wir doch lieber diejenigen zu Wort kommen, die sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich mit Schule und Schulpolitik auseinandergesetzt haben, und nutzen wir deren Expertise für einen bildungspolitischen Konsens.
Wir haben gestern über den Bericht der Enquetekommission Integration debattiert, ein Thema, das in diesem Hause sehr oft kontrovers und emotional diskutiert wurde. Ich glaube, dabei wurde deutlich, dass die intensive Auseinandersetzung mit den Experten auch zur Reflexion über festgefahrene Standpunkte und Vorurteilsstrukturen beigetragen hat. Deshalb ist es doch einen Versuch wert, auch in der Bildungspolitik ein ähnliches Verfahren anzustreben.
Ich denke, wir sind uns einig über die zentralen Fragen, auf die wir eine Antwort brauchen: Wie kann frühe Bildung im Übergang zur Grundschule gestärkt werden? Wie lässt sich die Abhängigkeit zwischen Herkunft und Bildungserfolg auflösen? Wie sehen Maßnahmen individueller Förderung aus, die Ernst machen mit dem Ziel, kein Kind zurückzulassen? Wie kann man die Qualität der Schulen weiter verbessern? Wie muss eine Bildungsfinanzierung, wie müssen die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte aussehen, damit diese Aufgaben auch umgesetzt werden können?
Eine Expertenkommission kann Grundlagen und Handlungsempfehlungen für einen bildungspolitischen Konsens erarbeiten, und die Ergebnisse können in eine Vereinbarung einfließen, die mit den Betroffenen zu diskutieren ist.
Ich erinnere daran, dass eine solche Enquetekommission 2007 unter Bürgermeister Ole von Beust in Hamburg einen Bericht vorgelegt hat, der damals auch von der SPD mitgetragen wurde. Dieser bildungspolitische Konsens, der dort 2007 erzielt wurde, wurde nur dadurch unterbrochen, dass ihn eine grüne Bildungssenatorin nach dem Regierungswechsel aufgekündigt hat mit der Forderung nach einer sechsjährigen Grundschule.
(Beifall der Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD), Tarek Al-Wazir und Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Schönen Dank, Frau Kollegin Habermann. – Zu einer Kurzintervention hat sich der Kollege Irmer gemeldet.
Frau Ministerin, ich bitte um Nachsicht. Sie kommen sofort dran. Die Frau Kollegin Habermann hat zwei Aussagen gemacht, die ich an dieser Stelle so nicht stehen lassen kann und nicht stehen lassen will, weil sie objektiv falsch sind, sehr vornehm formuliert.
Sie haben eben ausgeführt, wir hätten gesagt, Ganztagsschule in gebundener Form sei nach unserer Auffassung eine Zwangsbeglückung. Das ist falsch. Das wissen Sie. Wir haben gestern Folgendes ausgeführt: Wir wollen den Ausbau von Ganztagsschulen in offener Form auf freiwilliger Basis – ja. Wir haben zweitens gesagt: Wir wollen den Ausbau von Ganztagsschulen in gebundener Form da, wo gewünscht – ja, klares Bekenntnis. Was wir aber nicht wollen – das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns –: Wir wollen nicht die 500 oder mehr Grundschulen in Hessen, die Sie in den nächsten fünf Jahren ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Bedarf zu gebundenen Ganztagsschulen ausbauen wollen. Das ist der Unterschied. Meine Damen und Herren, wir wollen keine flächendeckende Zwangsganztagsschule –
Das Zweite. Das war schlichtweg falsch, Frau Kollegin, und eine Unterstellung. Sie wissen, dass es nicht so gewesen ist. Sie haben mir unterstellt, ich hätte gesagt, die integrierte Gesamtschule sei ein pädagogisches Verbrechen. Diese Aussage von Ihnen ist falsch; ich habe sie nie so getätigt.
Ja, man muss gelegentlich auch am nächsten Tag noch einmal die Zeitung lesen. Es handelte sich um eine Veranstaltung in Gießen, bei der zwei Zeitungen vertreten waren. Es ging um das Thema Einheitsschule.
Einheitsschule, so, wie Sie sie wollen: ohne äußere Differenzierung, ohne größere innere Differenzierung.