(Beifall bei der SPD – Dr. Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Sie haben das „Systemwechsel“ genannt!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Ministerpräsident, das ist der Paradigmenwechsel, den wir meinen. Wir meinen in der Tat, dass es möglich ist, dass nicht mehr die Schulform entscheidet, sondern dass das einzelne Kind in das Zentrum der Entscheidungen gerückt wird. Schulerfolg hat eben auch etwas mit der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu tun.
Deswegen ist das Modell, das wir vorschlagen, nicht einfach die Rückkehr zu G 9. So führen wir diese Debatte nicht. Wir wollen die Rückkehr zu einer sechsjährigen Mittelstufe, weil wir auch wollen, dass Kinder, die die Pubertät durchlaufen, die zu jungen Erwachsenen werden, gerade in dieser schwierigen Phase Zeit und Raum für ihre Entwicklung bekommen. Das ist echte Wahlfreiheit, um die es geht, statt die Kinder in Schubladen zu packen.
(Beifall bei der SPD – Peter Beuth (CDU): Sie sind ganz allein mit Ihrer Position! – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP)
Ihre „Wahlfreiheit“ ist ein Etikettenschwindel. Die Eltern der Viertklässler haben in der Frage G 8 oder G 9 nichts zu melden, wie Sie es hier gerade wieder vorgetragen haben. Das ist nicht nur in der Anhörung deutlich geworden, sondern es wird auch in vielen Briefen dokumentiert, die uns derzeit erreichen. Aber gerade in der Mittelstufe brauchen die Kinder Zeit und Raum. Deshalb frage ich Sie, Herr Bouffier: Warum wollen Sie den Kindern diese Zeit eigentlich verweigern? Herr Bouffier, warum lassen Sie zu, dass Kinder gerade in dieser Zeit derart unter Druck gesetzt werden? Auf welche Frage ist G 8 eigentlich die Antwort? – Es gibt keine Frage, auf die G 8 die Antwort ist – außer, dass man weiterhin die Durchlässigkeit des Bildungssystems verhindern will. Deshalb sage ich: Die Rückkehr zur sechsjährigen Mittelstufe ist das Gebot der Stunde.
(Beifall bei der SPD – Peter Beuth (CDU): Sie stehen mutterseelenallein! – Weitere Zurufe von der CDU)
Herr Beuth, die Qualität Ihrer Zwischenrufe wird im Laufe der Debatte nicht besser. – Damit auch das deutlich wird: Ihr Versuch, in diesen Tagen den Eindruck zu erwecken, die Sozialdemokratische Partei wolle die Gymnasien abschaffen, ist nichts als eine Lüge.
(Beifall bei der SPD – Dr. Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Das ist aber doch so! Sie wollen die Einheitsschule! – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP)
Herr Beuth, Sie können das in den Protokollen des Hessischen Landtags nachlesen. Die SPD-Landtagsfraktion hat vor eineinhalb Jahren den Entwurf für ein Schulgesetz eingebracht. Sie können nachlesen, dass es darin eine Bestandsgarantie für alle Schulformen gibt, weil wir nicht über die Schulformen, sondern über die Pädagogik reden. Wenn Sie das begreifen würden, dann wären wir ein ganzes Stück weitergekommen.
Ich will beim Thema Bildung einen zweiten Punkt ansprechen, der mir mindestens genauso wichtig ist wie die Frage G 8 und sechsjährige Mittelstufe, nämlich das Thema Ganztagsschule und Ganztagsbildung. Wenn uns die Bildungsforschung nach den Ergebnissen der PISA-Studien sagt, dass die ersten zehn Lebensjahre eines Kindes die entscheidendste Phase für die Entwicklung sind, dann müssen wir dieser Phase besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Deswegen wird in einem Programmentwurf der Sozialdemokratischen Partei ein absoluter Schwerpunkt auf die frühkindliche Bildung gelegt. Dieser Teil betrifft das Thema Ganztagsschule. Ich will Sie mit der Wirklichkeit konfrontieren: Nur 29 der über 1.150 Grundschulen in Hessen sind echte Ganztagsschulen.
2,47 % der hessischen Grundschulen sind Ganztagsschulen. Der Betreuungsknick, den viele Eltern beim Übergang ihres Kindes vom Kindergarten zur Grundschule erleben, bereitet vielen von ihnen sehr viel Kopfzerbrechen.
Unser Anspruch ist klar: Wir wollen die Zahl der Ganztagsschulen erhöhen. Das heißt für uns: Wir wollen jährlich 100 Grundschulen zu echten Ganztagsschulen entwickeln. Das ist eines unserer zentralen Versprechen für die nächste Legislaturperiode, wenn wir die Regierungsverantwortung übernehmen.
Wir halten das für finanzierbar, wie wir in den Haushaltsanträgen zur dritten Lesung deutlich machen werden.
Beim Thema frühkindliche Bildung in den ersten zehn Lebensjahren geht es aber nicht nur um das Thema Schule. Es geht auch um die Betreuung der unter Sechsjährigen. Es geht um einen frühen Zugang zu Bildung und Sprache. Es geht auch um „soziale Geschwister“, gerade angesichts der Tatsache, dass es viele Ein-Kind-Familien gibt. Auch da geht es um echte und nicht um suggerierte Wahlfreiheit. Es geht vor allem – und insbesondere mir – um die Chancen von Alleinerziehenden, die ich für die eigentlichen Heldinnen des Alltags halte.
Der Betreuungsknick, den viele Väter und Mütter erleben, ist real. Wenn uns das Statistische Bundesamt sagt, dass wir in Hessen zum Stichtag 1. März letzten Jahres bei der U-3-Betreuung eine Quote von 23,7 % hatten, dann ist mit Blick auf die Betreuungsquote von 35 %, die im nächsten Jahr zu erreichen ist, noch ziemlich viel zu richten. Wie lautet in diesen Tagen Ihre Antwort darauf? Ihre Antwort ist das Betreuungsgeld. Ich sage ausdrücklich, dass Peer Steinbrück völlig recht mit seiner Bemerkung hat, dass das Betreuungsgeld Schwachsinn ist. Es ist die falsche Antwort. Es ist eine Scheinlösung.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Clemens Reif (CDU): Er hat es doch mit beschlossen! – Weitere Zurufe von der CDU)
Das sehe nicht nur ich so. Deswegen will ich gern einen Beschluss des Landesparteitags der hessischen FDP vom 12. Mai dieses Jahres zitieren.
Die FDP lehnt die Einführung eines Betreuungsgeldes ab. Die Auszahlung eines Betreuungsgeldes setzt ein falsches Signal für Frauen, die in der Regel eine stärkere Teilhabe in allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen anstreben. Die Wahlfreiheit soll selbstverständlich den Familien selbst überlassen bleiben.
Ich hätte mir gewünscht, dass die FDP einmal in einer Sache stehen bleibt – und zwar nicht nur dann, wenn es um Taktik geht.
Beim Thema frühkindliche Bildung ist es wie bei G 8. Sie kümmern sich überwiegend um sich selbst und weniger um die realen Menschen mit ihren realen Problemen, mit denen diese jeden Tag konfrontiert sind. Wissen Sie eigentlich, was da draußen los ist?
Ich will Ihnen auch sagen, warum nicht. Ich habe hier eine Gehaltsabrechnung – nicht von irgendjemandem aus Mecklenburg-Vorpommern, Herr Bouffier, sondern aus unserer gemeinsamen Heimatstadt Gießen. Es handelt sich um die Gehaltsabrechnung eines jungen Mannes. Sein Großvater kam vor einigen Tagen bei einer Veranstaltung völlig verzweifelt auf mich zu, weil sein Enkel bei einer Leiharbeitsfirma als Fahrer beschäftigt ist und dort den ganzen Tag Rufbereitschaft hat, um seiner Arbeit nachzugehen. Er hat mir dessen Lohnzettel gegeben und hat mich gefragt: Herr Schäfer-Gümbel, was machen wir damit? – Ich will Ihnen vorlesen, was auf diesem Zettel steht, damit Sie wissen, worüber ich rede. Der junge Mann hat für seine Rufbereitschaft unter der Woche bei einem tatsächlichen Einsatz von 28 Stunden im Monat ein Gehalt von 261,35 € bekommen.
Der Skandal kommt erst noch. – Da der junge Mann vom Disponenten ein einziges Mal nicht erreicht wurde, hat er eine Konventionalstrafe auf dieses Gehalt in Höhe von 129,48 € bekommen. Es wurden ihm 49,68 % abgezogen, weil er einmal telefonisch nicht erreichbar war. Ich sage Ihnen: Das sind Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, die wir nicht wollen.
Genau, Herr Blechschmidt. Deswegen müssen wir darüber reden, wie wir so etwas verhindern. Herr Blech
schmidt, darüber rede ich jetzt gern mit Ihnen; denn wir verhindern das, indem wir Regeln schaffen, die solche Sauereien unterbinden.
Deswegen ist ein Mindestlohn geboten. Deswegen wollen wir ein Tariftreuegesetz, das funktioniert. Wir wollen ein Tariftreuegesetz, das diesen Namen auch verdient; denn die öffentliche Hand ist hier Vorbild. Die öffentliche Hand muss dafür sorgen, dass es bei öffentlichen Aufträgen eben nicht zu einem Lohndumping kommt.
Was machen Sie? Herr Bouffier, Sie haben dem Deutschen Gewerkschaftsbund vor zwei Jahren ein Tariftreuegesetz versprochen.
Genau. Das haben wir jetzt. Nach zwei Jahren haben wir letzte Woche ein Tariftreuegesetz bekommen. Ich sage Ihnen: Das ist die Bäume nicht wert, die zu dem Papier verarbeitet wurden, auf dem das jetzt steht.
Eine Tariftreueregelung, die im Kern keine Sanktionsmechanismen und keine Kontrolle enthält, ist nämlich nichts wert. Sie können sich das Papier, auf dem sie steht, an die Wand nageln und sich daran freuen; aber die Lebenswirklichkeit wird dadurch nicht verändert.
Ich frage Sie noch einmal: Wissen Sie eigentlich noch, was draußen auf den Baustellen los ist? Wir haben letzte Woche mit Vertretern der IG BAU zusammengesessen. In Frankfurt gibt es inzwischen eine Anwaltskanzlei, die darauf spezialisiert ist, mit Blick darauf tarifliche Mindeststandards zu unterlaufen, und dafür sorgt, dass der einzelne Bauarbeiter eine Anmeldung als GbR – also als Gesellschaft bürgerlichen Rechts – erhält.
Wir haben in Frankfurt mittlerweile Baustellen, auf denen man, um die Tarifstandards zu unterlaufen, sozusagen mehrere Hundert GbRs arbeiten lässt.
Deswegen fordern wir, dass wir ein Tariftreuegesetz bekommen, dessen Einhaltung anschließend kontrolliert wird, damit solche Sachen nicht mehr passieren. Wir wollen, dass die Leute anständig bezahlt werden.