Protocol of the Session on June 3, 2008

Ich komme zuletzt zu dem Gesetzentwurf der SPD. Frau Kollegin Habermann, Sie haben hier den dritten Wortbruch gegenüber Ihren Wählerinnen und Wählern begangen. Sie haben im Wahlkampf landauf, landab erklärt, das „Turbo-Abitur“, G 8, werde ersatzlos gestrichen. Heute sind wir einen Schritt weiter, indem Sie G 8 nicht mehr generell infrage stellen. Sie sind zwar einen Schritt weiter, aber Sie haben den Wählern gegenüber etwas vorgetäuscht, um es einmal so zu formulieren.

(Zurufe von der SPD)

Sie haben im Wahlprogramm erklärt, Unterrichtsgarantie plus und das Konzept verlässliche Schule würden abgeschafft. Jetzt haben Sie eine Formulierung gefunden, die inhaltlich mit dem deckungsgleich ist, was wir verlässliche Schule und Unterrichtsgarantie plus genannt haben. Das ist exakt das Gleiche, qualitativ gibt es hier keinen Unterschied.

(Zurufe von der SPD – Dr. Walter Lübcke (CDU): Wahlbetrug war das!)

Sie reklamieren hier 30 Millionen c. Richtig, diese 30 Millionen c haben die Landesregierung und der Landtag mit der Mehrheit seiner Stimmen zur Verfügung gestellt. Das ist ein bundesweit einmaliges Projekt. In keinem anderen Land in Deutschland gibt es ein solches Projekt, für das wir den Schulen 30 Millionen c zur Verfügung gestellt haben. Ich denke, darauf können wir ein wenig stolz sein.

(Beifall bei der CDU)

Der dritte Wortbruch, Frau Kollegin Habermann: In Ihrem Programm steht, die Querversetzung werde gestrichen. Sie haben es im Original des Programms selbst so formuliert und gefordert. Jetzt kommt plötzlich ein neuer Antrag, ein gemeinsamer Antrag mit den GRÜNEN. Das ist ein Erfolg der GRÜNEN – das muss man nüchtern so sehen –, die eine differenziertere Auffassung zum Thema Querversetzung hatten und haben als Sie. Da Sie nicht

wollen, dass Ihr Antrag abgelehnt wird, sind Sie auf die Position der GRÜNEN übergeschwenkt. Sie haben Ihre eigene Position verraten und verkauft. Sie haben sich gesagt: Damit wir eine Mehrheit bekommen, sind wir bereit, die Querversetzung zu akzeptieren. – Im Wahlkampf haben Sie aber klipp und klar gesagt: Die Querversetzung wollen wir nicht, die wird abgeschafft. – Zumindest stand das so in Ihrem Wahlprogramm.

(Zurufe von der SPD)

Wir halten es für richtig, dass die Querversetzung nicht abgeschafft wird. Wir brauchen sie aus pädagogischen Gründen. Sie schreiben in Ihrem Antrag, eine Querversetzung dürfe erst nach Anhörung der Eltern, nach Gesprächen erfolgen.Was meinen Sie, was in der Vergangenheit in den Schulen stattgefunden hat, bevor die Entscheidung für eine Querversetzung getroffen wurde? Die Klassenkonferenz hat sich zusammengesetzt, die Schulkonferenz hat getagt, Elterngespräche haben stattgefunden usw. Es hat eine intensive Beratung stattgefunden. Deshalb ist das, was Sie fordern, nichts Neues, sondern alltägliche Praxis in der Schule.

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Irmer, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ein letzter Satz. – Herr Kollege, Sie haben gesagt, Kräfte, die nicht dem Schulkollegium angehören, können im Rahmen der dafür zugewiesenen Haushaltsmittel als Externe beschäftigt werden. Über deren Eignung entscheide der Schulleiter. Richtig, meine Damen und Herren. Was haben Sie nicht alles gesagt, als wir die verlässliche Schule eingeführt und gesagt haben, der Schulleiter muss die Entscheidung treffen können,ob jemand geeignet ist oder nicht. Sie wollten ein polizeiliches Führungszeugnis haben. Von all dem ist nicht mehr die Rede. Das heißt im Klartext, Sie haben in diesen drei entscheidenden Punkten eine Kehrtwendung gemacht, wenn man es freundlich formulieren will. Man kann es politisch auch so formulieren:Sie haben vor der Wahl etwas völlig anderes gesagt als das, was Sie jetzt nach der Wahl machen.

(Beifall bei der CDU – Dr. Walter Lübcke (CDU): Wahlbetrug!)

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Danke schön, Herr Irmer. – Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat Herr Wagner das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich will nach der Rede des Herrn Kollegen Irmer zur Sache zurückkehren, zu dem, was in den Gesetzentwürfen tatsächlich steht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr.Walter Lübcke (CDU):Was soll denn das?)

Mit den Gesetzentwürfen, über die wir heute beraten und hoffentlich auch entscheiden, bringen wir wichtige Korrekturen an der falschen Bildungspolitik der vergangenen Jahre auf den Weg. Wir leiten erste wichtige Schritte ein,

um in unseren Schulen wieder eine bessere Situation herzustellen und sie in die Lage zu versetzen, mehr für die Chancengerechtigkeit zu tun und die Schülerinnen und Schüler besser zu fördern. Das ist das, was in den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen steht. Es ist gut, dass wir als Mitglieder des Hessischen Landtags diese notwendigen Korrekturen endlich einleiten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sind erste Schritte. Weitere müssen sicherlich folgen. Aber ich glaube, der heutige Tag könnte der Beginn eines Aufbruchs für Hessens Schulen sein – eines Aufbruchs, der aus unserer Sicht bitter notwendig ist; denn nach langen Jahren der Ideologie,

(Florian Rentsch (FDP): Holzapfel!)

der Bevormundung und der Gängelung kehrt jetzt ein neuer Geist ein. Es wird wieder zugehört. Die Anhörung hat das gezeigt. Es wird auf den Rat von Experten gehört, und das, was die Praktiker an den Schulen vorschlagen und anregen, nimmt der Hessische Landtag wieder auf. Es gibt im Hessischen Landtag Mehrheiten, die dies dann auch in den Gesetzestexten formulieren. Es ist gut, dass es so ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was steht in den Gesetzentwürfen? Die Durchlässigkeit des Bildungssystems wird wieder als Prinzip verankert. Das heißt, dass die Schülerinnen und Schüler zu jedem Zeitpunkt optimal durch die Schulen gefördert werden und dass sie zu jedem Zeitpunkt die Gelegenheit haben, ihre Potenziale voll auszuschöpfen. Das ist zunächst eine Absichtserklärung, die noch mit Inhalt gefüllt werden muss. Aber es ist eine wichtige Zielbeschreibung, ein wichtiger Auftrag für unser Schulsystem.

Für die kooperativen Gesamtschulen schaffen wir die Wahlfreiheit zwischen G 8 und G 9.Auch das ist ein wichtiger Baustein, um die in Hessen vermurkst umgesetzte verkürzte Schulzeit ein Stück weit zu korrigieren. Auch dies ist kein Schritt, der alle Probleme auf einmal löst; aber es ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Wahlfreiheit und zu einem attraktiven pädagogischen Profil für die kooperativen Gesamtschulen.

Frau Kollegin Habermann hat es schon angesprochen: Wir schaffen – so wir es heute beschließen – mit diesem Tag das Bürokratiemonster Unterrichtsgarantie plus ab. Ich glaube, die Schulen werden aufatmen, wenn dieses Bürokratiemonster abgeschafft und durch eine verlässliche Schule ersetzt wird, die diesen Namen auch tatsächlich verdient.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir ändern die Bedingungen für die Querversetzung. Herr Irmer hat es bereits angesprochen. Dieses Instrument wird von einem Regelinstrument zu einem Instrument in begründeten pädagogischen Ausnahmefällen.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): 1,8 % waren es!)

Herr Kollege Irmer,ich bin den Kolleginnen und Kollegen von der SPD für die konstruktiven Gespräche sehr dankbar. Auch den Kolleginnen und Kollegen der LINKEN, die dem Antrag, den ich heute hier mit einbringe, sehr wahrscheinlich zustimmen werden – zumindest ist das signalisiert worden –, bin ich sehr dankbar.

Herr Kollege Irmer, ich bin sehr dankbar, dass es in diesem Haus Kolleginnen und Kollegen gibt,die zuhören,die

miteinander reden und die nicht auf ihren Positionen beharren; denn das, was Sie bildungspolitisch wollen, ist am 27. Januar abgewählt worden. Ich finde es nicht in Ordnung, Kolleginnen und Kollegen, die sich um Kompromisse bemühen,solche Vorwürfe zu machen,wie Sie es getan haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

So wir heute den Beschluss fassen, ist es ein guter Tag für die integrierten Gesamtschulen. Die Bedingung dafür, dass eine Schule zur integrierten Gesamtschule werden kann, ist nicht mehr die Vierzügigkeit, sondern das ist künftig auch schon im Rahmen der Zweizügigkeit möglich. Auch das ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einem längeren gemeinsamen Lernen. Auch deshalb ist das heute ein guter Tag für die integrierten Gesamtschulen.

Wir schaffen bei den Klassengrößen die starre Regelung der Richtwerte ab. Auf diese Weise machen wir Schluss damit, dass statistische Größen darüber entscheiden, ob Schulen weiter bestehen können oder nicht. Vielmehr wird diese Entscheidung jetzt endlich wieder allein nach pädagogischen Kriterien getroffen.Auch das ist gut so.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist auch gut, dass die Möglichkeit aus dem Schulgesetz gestrichen wird, die Eltern an den Schülerbeförderungskosten zu beteiligen.Auch das ist ein wichtiger Schritt unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit und auch im Hinblick darauf, dass der Zugang zur Bildung nicht durch zusätzliche Kosten für die Eltern der Kinder erschwert werden darf.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, die Beratung über diese Gesetzentwürfe hat gezeigt, dass es in diesem Land eine neue Offenheit in der Bildungspolitik gibt. Es gibt Fraktionen, deren Mitglieder zuhören, und es gibt Fraktionen, deren Mitglieder die Anregungen von Praktikern aufgreifen.

Die Zeit, in der Mehrheit gleich Wahrheit war, ist endgültig vorbei; denn die CDU hat keine absolute Mehrheit mehr in diesem Land. Deshalb können Anregungen aus der Praxis nicht mehr niedergestimmt werden,sondern sie finden wieder Gehör. Deshalb bringen wir diese Gesetzentwürfe heute hier auf den Weg. Das ist ein guter Tag für unsere Schulen.Weitere Maßnahmen werden dem folgen müssen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Herzlichen Dank, Herr Wagner. – Für die Fraktion DIE LINKE hat Frau Cárdenas das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte erst noch eine kleine Anmerkung zu Herrn Irmer machen. Herr Irmer, ich finde es sehr nett, dass Sie uns immer im Fokus Ihrer Aufmerksamkeit haben. Aber auch hier hat Ihre Wahrnehmung Sie wieder einmal getäuscht: Wir sind mit unserem Gesetzentwurf heute nicht das Thema. Okay.

(Michael Boddenberg (CDU): War es das schon? Das war ja nicht toll!)

Wir werden dem Änderungsantrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beschlussempfehlung nun in Gänze zustimmen.Thema des kurzfristig in der Sitzung des Kulturpolitischen Ausschusses eingebrachten Änderungsantrags war vor allem die Querversetzung.

Wir haben es in der ersten Lesung begrüßt, dass die Querversetzung im Gesetzentwurf der SPD gestrichen werden sollte. Wir sehen die Querversetzung nämlich als ein Instrument an, das dem integrativen Charakter des Schulwesens entgegensteht. Damit können Kinder, die in eine Schulform angeblich nicht passen, gegen den Willen der Eltern herabgestuft, also in die jeweils niedrigere Schulform verwiesen werden. Dies entlastet die Schulen insofern, als sie ihren Unterricht nicht so stark binnendifferenzieren müssen, dass sie das betreffende Kind mitnehmen können.

DIE LINKE will – und hat es immer gewollt –, dass sich die Schule an die Fähigkeiten und Schwierigkeiten der Kinder anpasst anstatt umgekehrt. Dafür braucht sie allerdings deutlich mehr Unterstützung als bisher: z. B. Unterstützung in Form von kleineren Klassen, zusätzlichen Fachkräften, von Psychologie und Sozialarbeit, aber auch von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, die durch eine individuelle Förderung des betreffenden Kinds wieder für den Anschluss sorgen können.

DIE LINKE will diese Anpassung nicht von den Kindern verlangen, und sie will die nicht Angepassten bzw. die nicht Anpassungsfähigen nicht herabstufen oder aussondern lassen. Insofern ist für uns die Querversetzung ein Instrument – das gilt auch für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die die Möglichkeit der Wahl zwischen G 8 und G 9 propagieren – eines sich immer weiter aufgliedernden und sich ausdifferenzierenden Schulsystems. So weit, so gut.