Protocol of the Session on September 23, 2008

(Beifall bei der FDP)

Nach meiner Ansicht gibt es bei Hartz IV noch große Optimierungspotenziale. Hier kann auch das Land Hessen offensiv werden und noch einiges dazu beitragen,damit es vor Ort besser läuft.

Aus dieser Betrachtung lässt sich meiner Ansicht nach folgender Schluss ziehen: Die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, genannt Agenda 2010 – es gehört noch etwas mehr dazu; aber das ist es, was die Menschen zentral im Blick haben –, wirken nur in wenigen Bereichen positiv. Sie sind oftmals Stückwerk. Sie tragen die Krankheit ihrer Väter in sich. Es gibt nämlich maßgebliche handwerkliche Fehler,die wir jetzt nachträglich ausbügeln müssen.

(Beifall bei der FDP)

Sie sind das unvollkommene Resultat der Erkenntnis von Herrn Schröder und den damals Mitwirkenden, dass der alte Sozialstaat der Bundesrepublik den Herausforderungen der Zukunft und des wiedervereinigten Deutschlands nicht mehr gewachsen war. Dies ist eine Erkenntnis, die sich endlich bei uns allen festsetzen muss.

(Beifall bei der FDP)

Die alte Sichtweise, wonach Arbeitsmarktpolitik nur Wirtschaftspolitik ist, die sich lediglich mit den Marktregeln befasst, ist durch die neue Sichtweise ersetzt worden, die sich mittlerweile jeder angeeignet hat, wonach Arbeitsmarktpolitik gleichzeitig auch Sozialpolitik ist. Für uns Liberale hieß es schon immer, dass sozial ist, was Arbeit schafft.

(Beifall bei der FDP)

Das ist ein Grundsatz, den die FDP schon lange vertritt.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber nicht jeder hat Arbeit!)

Ein Arbeitsplatz ist viel mehr als ein Instrument, um das Armutsrisiko zu verringern.Arbeitslosigkeit – bzw. Langzeitarbeitslosigkeit – führt sehr schnell zu psychosozialen Erkrankungen.

Ich hatte vor kurzer Zeit ein intensives Gespräch mit Mitgliedern einer Selbsthilfegruppe von Menschen über 45 Jahren, die sich zusammengeschlossen haben, um über das Thema Arbeitslosigkeit und ihre Probleme zu reden. Sie haben versucht,über das,was ihnen der Staat anbietet, Wege aus der Arbeitslosigkeit zu finden. Dieser Gruppe haben fast nur Frauen angehört. Mir wurde mitgeteilt, man habe den Eindruck, dass Männer ganz andere Verdrängungsmechanismen nutzen, die eher destruktiv sind.

In Gesprächen mit diesen Menschen wird einem sehr schnell klar, dass Arbeitslosigkeit krank macht. Deshalb ist es das Ziel der FDP, Bedingungen dafür zu schaffen, dass Arbeitsplätze entstehen können und dass die aktivierenden Leistungen des Staats zu einer partnerschaftlichen

Leistung für seine Bürger werden, womit den Menschen durch Fördern und Fordern ein Weg zurück in die Arbeitswelt ermöglicht wird. Das ist wirkliche Sozialpolitik.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Zurzeit zeichnet sich ab, dass wir auf dem Arbeitsmarkt einen Akademiker- und auch einen Facharbeitermangel haben. Unser größtes Sorgenkind ist nach wie vor der Niedriglohnsektor.

Die FDP vertritt hier den Ansatz eines aktivierenden Bürgergelds, wonach jedem Bürger ein Mindesteinkommen garantiert ist, dessen Höhe es ihm aber sinnvoll erscheinen lässt, auch Zuverdienstmöglichkeiten zu nutzen, die schlechter bezahlt sind und vielleicht sogar seiner Leistungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt angemessen sind. Von daher haben wir als eine der wenigen Parteien wirklich eine Antwort auf die entscheidenden sozialen Fragen. Diese können nicht durch einen Mindestlohn, sondern nur durch ein Mindesteinkommen, eben das Bürgergeld der FDP, gelöst werden.

(Beifall bei der FDP)

Abschließend möchte ich feststellen: Die Agenda 2010 war aus meiner Sicht eine Risikogeburt mit massiven Komplikationen und sehr unangenehmen Nebenwirkungen, z. B. der Entstehung der Partei DIE LINKE.

Auch wenn das Kind klein und unansehnlich ist, ist es an uns, seine Zukunft positiv und erfolgreich zu gestalten. Wir als FDP wollen das machen; denn wenn dieses Kind erwachsen ist – das wird es bald sein –, wird es schön aussehen, ein süßes Baby sein. Es wird sich weiterentwickeln, und es wird uns weiterbringen. Irgendwann – davon bin ich fest überzeugt – werden auch die Nebenwirkungen dieser Geburt verschwunden sein. Auch das ist ein Ziel unserer Politik.

(Beifall bei der FDP)

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Vielen Dank, Herr Rock. – Als nächster Rednerin darf ich Frau Schulz-Asche für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort erteilen.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, es war sehr schade, dass Sie Ihre Regierungserklärung mit einer offensichtlich verkürzten und daher auch falschen Behauptung eröffnet haben. Sie haben gesagt, dass in der rot-grünen Regierungszeit zwischen 2002 und 2005 ungefähr 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen seien.

Sie wissen genauso gut wie ich, dass in Deutschland die Zahl der arbeitslosen Menschen über mehrere Jahrzehnte hinweg ständig Anwuchs und 2005 einen Rekordstand erreicht hat.

(Michael Boddenberg (CDU): Das stimmt!)

Schon in den Siebziger- und Achtzigerjahren war die zunehmende Arbeitslosigkeit das eigentliche und oft verdrängte Problem der Wirtschaftspolitik.

(Michael Boddenberg (CDU): Das stimmt!)

Karl Lauterbach weist in einem in der „Frankfurter Rundschau“ heute abgedruckten Streitgespräch zu Recht darauf hin: Über Jahrzehnte kam nach jedem Abschwung rund eine halbe Million arbeitsloser Menschen hinzu. Die wirtschaftlichen Probleme der östlichen Bundesländer verschärften die Lage noch.

Was die rot-grüne Bundesregierung 1998 hinsichtlich der Arbeitsmarktpolitik vorfand, waren die Folgen der Ära Kohl.Für Herrn Rock möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass es sich dabei um eine von CDU und FDP geführte Regierung handelte.

(Michael Boddenberg (CDU):Auch das ist richtig!)

Die Folgen der Ära Kohl waren: 16 Jahre lang wurden Strukturanpassungen in der Arbeitsmarktpolitik versäumt.

(Beifall der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

16 Jahre lang wurden Maßnahmen hinsichtlich der Ausbildung und der Fort- und Weiterbildung versäumt.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP):Von Plottnitz war es!)

16 Jahre lang wurde es versäumt, eine Reform der sozialen Sicherungssysteme durchzuführen. 16 Jahre lang gab es Stillstand bei der Gleichstellung der Geschlechter in der Wirtschaft. In den östlichen Bundesländern gab es acht Jahre lang verbrannte Erde statt blühender Landschaften.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Fuhrmann (SPD) und Marjana Schott (DIE LINKE))

Es waren die Lethargie während der Ära Kohl und die absolute Untätigkeit, die dafür verantwortlich sind, dass sich die Zahl der Menschen erhöhte, die langfristig nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die sich auf den Weg gemacht hat, diesen sozialpolitischen Skandal abzuräumen. Das war das Ziel der Agenda 2010. Das war zugegebenermaßen für viele schmerzhaft.Wir hätten uns gerne eine ganze Reihe anderer Regelungen gewünscht und bringen bis heute konstruktive Verbesserungsvorschläge ein.

Jeder, der heute einfach ruft: „Weg mit Hartz IV“, ruft: „Zurück in die Ära Kohl“. Eine solch rückwärtsgewandte Arbeitsmarktpolitik ist mit uns GRÜNEN nicht zu machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Der konjunkturell bedingte Aufschwung, den es seit dem Jahr 2005 gibt, hat natürlich dazu geführt, die konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit stark zu reduzieren. Das erfolgte also nicht aufgrund von Hartz IV.

Unser eigentliches Problem ist aber die seit Jahren herrschende strukturelle Arbeitslosigkeit. Darüber sollten wir heute auch reden. Da sollte die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung wirken. Da haben die Wirkungen auch begonnen. Ich glaube, darin sind sich viele in diesem Hause einig.

(Michael Boddenberg (CDU): Frau Kollegin, wen meinen Sie mit „viele“?)

Das wissen Sie viel besser als ich. Bei Ihnen bin ich mir nicht ganz sicher, wie Sie die Agenda 2010 bewerten.

(Michael Boddenberg (CDU): Das vermute ich auch!)

Aber darauf komme ich noch zurück. – Die Agenda 2010 hatte übrigens den schönen Untertitel: Deutschland bewegt sich. – Ich glaube, viele in diesem Hause sind der Meinung, dass sich in Deutschland tatsächlich etwas bewegt hat. Wir sind allerdings uneinig darüber, in welche Richtung sich Deutschland aufgrund der Agenda 2010 verändert hat, also in welche Richtung sich in Deutschland etwas bewegt hat. Die einen meinen, Deutschland habe sich hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, Eigeninitiative und Flexibilität bewegt. Die anderen meinen, Deutschland habe sich zu mehr Armut, Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung hinbewegt. Frau Ministerin, da beides teilweise richtig ist, hätte man von einer amtierenden Ministerin eigentlich eine differenziertere Antwort erwarten dürfen, als Sie sie heute hier gegeben haben.

Schauen wir uns den Arbeitsmarkt in Hessen etwas genauer an. In Hessen waren vor etwa drei Jahren rund 300.000 Menschen arbeitslos. Das war im August 2005 so. Heute sind noch 200.000 Arbeitslose registriert. Das ist natürlich eine gute Entwicklung, die wir alle begrüßen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Wir müssen aber auch sehen, dass von den aktuell 200.000 Arbeitslosen die große Mehrheit, nämlich 140.000 Menschen, nach wie vor auf Leistungen nach Hartz IV angewiesen sind. Das bedeutet: Insbesondere bei der Integration der Langzeitarbeitslosen haben wir noch nicht einmal die Hälfte des Wegs geschafft.

Frau Ministerin, ich hätte mich deswegen gefreut, wenn Sie etwas detaillierter auf die Situation in Nordhessen eingegangen wären.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit dort steht natürlich auch mit der Entwicklung der Konjunktur in Verbindung. Wenn wir uns die Situation in Nordhessen genauer betrachten, dann erkennen wir dort schwere strukturelle Defizite.Aber auch darauf werde ich noch einmal zurückkommen.