Aufgrund der Analyse der PISA-Ergebnisse ist völlig klar, dass das dreigliedrige Schulsystem international gesehen schlicht gescheitert ist.
Meine Kollegin Habermann hat sehr deutlich gemacht, dass wir nicht sagen, die integrierte Gesamtschule, wie wir sie bisher gestaltet haben, ist die Zukunft, sondern wir sagen, es muss eine andere Form von Schule sein, wie wir sie in den skandinavischen Ländern finden, eine Schule, die gezwungen ist, alle Kinder mitzunehmen, jede Begabung zu fördern. Das leistet weder das gegliederte Schulsystem noch die klassische integrierte Gesamtschule.
Wir haben es uns in Skandinavien angeschaut. Da gab es Lerngruppen mit 30 Kindern.Wir waren überrascht. Man hat uns gesagt: Das ist eine ganz homogene Gruppe, warum soll die nicht gemeinsam unterrichtet werden? – Im Nachbarsaal saßen zwei oder drei Kinder, die individuell gefördert worden sind. Diese Form von individueller Förderung wollen wir haben.Wenn wir das von Schule erwarten, bedeutet das: mehr Autonomie für die Schulen. Wir sind dafür, Niveaus vorzugeben.Aber wenn man Niveaus vorgibt und diese Vorgabe mit Prüfungen verbindet, muss man es, verdammt noch mal, der Schule selbst überlassen, wie sie diese gemeinsam gewollten Ziele erreicht. Auch das ist eine andere Form von Schule – weder das dreigliedrige Schulsystem noch die bisherige integrierte Gesamtschule.
Man muss die Schulen ja nicht gleich so gestalten wie die Schulen in Finnland und Schweden, und man muss nicht immer in Richtung von Herrn Schleicher schauen. Aber man kann schon einmal den Experten der deutschen Wirtschaft zuhören.
Herr Irmer, Sie verstehen es ja doch nicht. – Die deutsche Wirtschaft sagt: Wir brauchen sechs Jahre gemeinsamen Unterrichts in der Schule. Die deutsche Wirtschaft sagt – wie die FDP in diesem Hause und wie die SPD beim letzten Landtagswahlkampf –: Wir brauchen ein kostenfreies, verbindliches letztes Jahr im Kindergarten als Vorschule. – Das sind zusammen sieben Jahre gemeinsamen Unterrichts. Genau das wollen wir, und so wollen wir es auch umsetzen.
Wenn wir uns durchringen, diese sieben Jahre gemeinsamen Unterrichts, Lernens und Erziehens einzuführen, dann können wir auch das Problem der sozialen Milieus besser in den Griff bekommen.
Meine Damen und Herren, natürlich freut es einen, wenn man am Ende mit dem Vorschlag, eine Vorschule einzuführen, Recht behält. Herr Irmer, wie haben Sie gebrüllt, als ich zum ersten Mal an dieses Pult gegangen bin und gesagt habe: Ganztagsschule für alle Schulformen und für alle Kinder. – Sie haben von einem „Griff in die sozialistische Klamottenkiste“ gesprochen. Selbst Herr Irmer begreift, dass das der richtige Weg ist. Deshalb werden wir uns nicht beirren lassen.
Nein. – Ich komme zur Frage der Autonomie. Ja, Frau Ministerin,ich denke,dieser Ansatz ist richtig.Auch ich weiß, dass sich die so genannte Opposition mit Visionen leichter tut. Aber ich denke, wir müssen im Bereich der Bildung mit Visionen arbeiten. Wir müssen überlegen, wie diese Form von Autonomie von Schule aussieht, welche Angebote man zusätzlich machen muss, da dieser unglaubliche Erziehungs- und Bildungsauftrag – auch das lernen wir durch PISA – eben nicht nur durch gut qualifizierte Pädagogen umgesetzt werden kann. Dazu braucht man Leute aus dem Handwerk,dazu braucht man Psychologen,dafür braucht man Kinderärzte. Ja, das ist eine Vision. Aber wenn es diese Gesellschaft – deren Ressource die Bildung ist, weil unser Land keine Rohstoffe hat – nicht begreift, dass wir alle,auch ganz selbstkritisch,einen großen Schritt nach vorn machen müssen, einen Sprung nach vorn, dann haben wir aus PISA nicht die richtigen Konsequenzen gezogen. Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
Herr Bökel, ich bin sehr beeindruckt von Ihren emotional vorgetragenen Gedanken, auch wenn ich sie inhaltlich nicht teile.
Ich habe eine Frage an den Herrn Kollegen Bökel.Wir haben neulich namentlich über das Schulgesetz abgestimmt. Angesichts Ihres engagierten Vortrages würde mich interessieren, wie Sie sich bei der Abstimmung über das Schulgesetz verhalten haben.
Ich hatte gute Gründe, die ich Ihnen, weil sie privat sind, nicht zu erläutern brauche. Ich habe aber immer deutlich gemacht, dass ich dieses Schulgesetz, in dem einige Ansätze enthalten sind, über die wir uns unterhalten können, nicht unterstütze. Ich werde auch bei dem Stichwort „Experte“ weiterhin dafür kämpfen, dass die Sozialdemokratie bei Fragen der Bildungspolitik, wenn es um die Vorschule, die Ganztagsschule oder um neue Formen von Schule geht, in der Diskussion vorne bleibt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Gotthardt (CDU): Sind Sie nicht der Auffassung, dass das Plenum Vorrang vor anderen Aufgaben hat?)
Wir kommen zur Abstimmung. Sollen die Anträge an den Ausschuss überwiesen werden? – Das ist der Fall. Dann stimmen wir en bloc ab. Die Tagesordnungspunkte 57, 61, 64 und 89 werden an den Kulturpolitischen Ausschuss überwiesen. – Dem widerspricht niemand. Dann ist das so beschlossen.
Auf Ihren Plätzen finden Sie eine Einladung von mir. Ich lade für morgen Abend am Ende der Sitzung zu einem kleinen Umtrunk ein.
Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Vielfalt der Studiengänge an hessischen Hochschulen erhalten – Drucks. 16/2614 –
Die Redezeit beträgt fünf Minuten je Fraktion. Ich erteile Frau Kollegin Sorge für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Im Januar ist eine Professorin der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main verstorben, die für das Fach Slawistik zuständig war. Kurz darauf hat sich die Universität entschieden, den entsprechenden Magisterstudiengang angesichts des Sparzwangs einzustellen und für das Unterrichtsfach Russisch einen Aufnahmestopp zu verhängen.
Diese Entscheidung war weder wissenschaftlich begründet, noch war sie politisch. Aber so findet die Entwicklungsplanung – dieses Wort ist schon fast ein Hohn – in der hessischen Wissenschaftslandschaft unter der CDULandesregierung statt. Es wird dort gestrichen, wo die nächste Stelle frei wird. Das ist bei der renommierten Lebensmittelchemie oder der Arbeitslehre in Frankfurt nicht anders als bei Informatik-Teilstudiengängen in Gießen oder der Slawistik in Marburg. Leute gehen in den Ruhestand, und ihr Arbeitsbereich, ihr Lebenswerk, die
In § 88 des Hessischen Hochschulgesetzes hört es sich noch ganz gut an. Da heißt es: „Die Struktur- und Entwicklungsplanung ist im Rahmen der Grundsatzentscheidungen der Landesregierung Aufgabe der Hochschulen und des Ministeriums. Sie soll ein fachlich ausreichendes und regional ausgewogenes Angebot in Lehre und Forschung sicherstellen und das gemeinschaftliche oder hochschulübergreifende Angebot von Einrichtungen und deren wirtschaftliche Nutzung gewährleisten.“ So hoch hängt das Gesetz die Wissenschaftslandschaft, das es der Landesregierung Grundsatzentscheidungen zutraut. So hoch hängt das Gesetz die Fächervielfalt, dass es ein fachlich ausreichendes und regional ausgewogenes Angebot in Lehre und Forschung fordert.
Die Realität ist aber eine andere. Dieser Landesregierung ist es egal, wo gekürzt wird, Hauptsache, es wird gekürzt. Wer den Hochschulen den Einsparerfolg durch die leistungsorientierte Mittelzuweisung nicht auszahlt, sondern über den so genannten Strukturausgleich Mittel für die Hochschulen kürzt, der will sich offensichtlich lieber vor der Diskussion mit den Hochschulen um ein fachlich ausreichendes und regional ausgewogenes Angebot drücken.
Das Wissenschaftsministerium nimmt hier seinen gesetzlichen Auftrag nicht wahr und damit den Abbau der Fächervielfalt in Hessen in Kauf. Sie werden jetzt sagen, das sei eine Sache der Hochschulautonomie. Die Konferenz hessischer Universitätspräsidenten hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die zwischen den Universitäten über die Schließungen verhandelt. Während dieser Sitzungen werden aber aus Sparzwang an den Hochschulen munter weiter Entscheidungen getroffen, die unumkehrbar sind. Das ist keine Gewährung von Autonomie, sondern die Verlagerung von Sparentscheidungen auf die Hochschulen, während sich der Wissenschaftsminister – wie immer, kann man schon fast sagen – die Hände in Unschuld wäscht.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist gut, dass die KHU handelt. Meines Wissens wurden auch die Fachhochschulen und die Kunst- und Musikhochschule einbezogen. Es kann aber auch hier nicht so sein, dass Entscheidungen nach dem Prinzip getroffen werden: Wer ist gestorben, oder wer geht in Pension? Es muss auch darauf geachtet werden,dass in den Hochschulen eine breite Forschungslandschaft vorhanden ist und dass die Regionen miteinander in Fächern konkurrieren.
Meine Damen und Herren, der wissenschaftliche Wettbewerb, ist für Innovationen unerlässlich. Unser Antrag möchte den Blick des Hessischen Landtags auf die angesprochene Entwicklung lenken. Wir müssen wirklich darauf achten, an den Hochschulen eine breite Fächervielfalt zu erhalten; denn eine breite Forschungs- und Wissensvermittlungslandschaft ist nicht nur unter wissenschaftlichen, sondern auch unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten für Deutschland wichtig. Wer hätte beispielsweise 2001 ein Studium von Kultur und Sprache des Nahen Ostens so hoch eingeschätzt, wie wir es heute tun? Und wer hätte beispielsweise vor dem IT-Boom nicht
So wichtige Entscheidungen können nicht alleine an den Hochschulen getroffen werden. Der Erhalt der Fächervielfalt ist Aufgabe des Landes. Wir GRÜNE fordern Herrn Corts und die Landesregierung daher auf, den § 88 HHG ernst zu nehmen und im Sinne einer Entwicklungsplanung tätig zu werden.
Herr Minister, legen Sie uns einen ausgewogenen Plan für 2005 vor. Wenn Sie weiterhin alles laufen lassen, schaden Sie der Wissenschaftslandschaft des Landes Hessen. Herr Corts, nehmen Sie Ihre Aufgabe als Wissenschaftsminister endlich wahr, und handeln Sie. – Vielen Dank.