Protocol of the Session on December 15, 2004

Das zweite Problem – das hängt natürlich mit dem ersten zusammen – ist die hohe Zahl der Risikoschüler: 21,6 %. Verteilt über die Bildungsgänge sieht es folgendermaßen aus: Die Hauptschule ist das große Sorgenkind, um das man sich mühen muss,mit 50 %,integrierte Gesamtschule 25 %, Realschule 14 %. Das ist und bleibt ein Auftrag, der nicht bereits nach PISA I, also mit den Ergebnissen von vor drei Jahren, bewältigt sein kann. Es bleibt ein Handlungsauftrag über die nächsten fünf bis zehn Jahre und wahrscheinlich auch darüber hinaus.

Damit hängt auch das nächste Problem zusammen. In jedem Land dieser Erde gibt es einen Zusammenhang zwischen der Herkunftsfamilie und dem Lernerfolg. Die Frage ist, wie es uns in unserem Bildungswesen gelingt, diesen Zusammenhang aufzulösen. Eigentlich ist es in Deutschland sehr deutlich geworden, dass dieser Zusammenhang innerhalb der Republik dort besonders gut aufgelöst werden konnte, wo die Anforderungen des Bildungswesens besonders deutlich gewesen sind, nämlich in den beiden südlichen Bundesländern.

(Beifall bei der CDU)

Dort ist es gelungen, Migrantenkinder, aber auch Kinder aus sozial schwachen Familien stärker begabungsgerecht heranzuführen. Es ist kein Zufall – genau dort will ich mit unserem Schulgesetz hin, wir sind auf gutem Wege –, dass gerade ein Land wie Baden-Württemberg es fertig bringt, 30 % der Realschulabsolventen in eine gymnasiale Oberstufe zu bringen. Das ist eine Förderquote, die man sich nur wünschen kann. Mit unserem Schulgesetz arbeiten wir daran. Sie meinen immer noch, dieses Schulgesetz kritisieren zu müssen, weil Sie die Inhalte und die Absichten nicht verstanden haben.

(Beifall bei der CDU – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oberlehrerin!)

Das ist ein beliebtes Wort, wenn man sonst nicht weiter weiß.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nee, nee, nee!)

Schauen wir uns doch einmal die Ergebnisse an. Frau Habermann hat ganz leise angefangen, eine gewisse Distanz zur integrierten Gesamtschule zum Ausdruck zu bringen.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Irgendwie habe ich da eben etwas gehört. – Ich glaube, dass das einen bestimmten Hintergrund hat: Die Schulform nämlich, die Sie selber geschaffen haben, ist ganz offenkundig nicht in der Lage, Jugendliche zu einem guten Lernerfolg zu führen und soziale Diskrepanzen aufzulösen. Beide Ziele sind nicht gelungen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich diskutiere lieber über die Fragestellung, was die einzelnen Schulen leisten. Es gibt in der Tat integrierte Gesamtschulen, die hochgradig leistungsfähig sind, jawohl.Aber wenn Sie immer und immer wieder diese Gegenüberstellung machen: Ich muss mir doch einmal die Ergebnisse ansehen und schauen, wie das bei PISA II gewesen ist. In der Übersicht

sehe ich von oben nach unten zunächst die Gymnasien, dann die Realschulen, die integrierten Gesamtschulen und die Hauptschulen nebeneinander. Daran zeigt sich deutlich: Die integrierten Gesamtschulen liegen zwischen den Realschulen und den Hauptschulen. Angesichts der Tatsache, dass es dort auch A-Kurse gibt, sollte das nicht per se so sein. Das gleiche Bild haben wir beim Mathematikwettbewerb.

(Zuruf der Abg. Sarah Sorge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Das Realschulergebnis, von links nach rechts: integrierte Gesamtschule, kooperative Gesamtschule und Realschule. Das sind die Leistungsergebnisse.

(Zurufe der Abg. Dr. Walter Lübcke (CDU) und Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN))

Das gleiche Bild haben wir in dieser Reihenfolge gleichermaßen bei der Frage der Hauptschul- und Realschulabschlüsse. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Habermann, ich verstehe so langsam, dass Sie sagen: Darüber wollen wir nicht mehr vertieft reden, sondern wir wollen ein anderes Wort benutzen, wir wollen jetzt Einheitsschule sagen. Wir wollen von Binnendifferenzierung reden und nicht mehr von Kursen. – Mit aller Vorsicht: Dieses System ist gescheitert.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu der Diskussion,die wir im Moment in der Republik führen,in der die GEW ebenso wie die Bundesministerin mit einzelnen politisch Motivierten, wie z. B. Herrn Schleicher, sagt, das System in Deutschland sei gescheitert, will ich noch einmal die Kollegin Behler zitieren.

(Zurufe der Abg. Jürgen Frömmrich und Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Herr Kollege, „politisch motivierte Wissenschaftler“. – Ich will Frau Kollegin Behler noch einmal zitieren:

Dass die deutsche Gesamtschule mit ihren Leistungsergebnissen und mit ihrem gescheiterten Versuch, den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenz zu verringern, nicht gerade ein attraktives Gegenmodell zum gegliederten Schulsystem ist, wird verschwiegen, eine Analyse ihrer Schwächen geradezu verweigert.

Sie sagt weiterhin:

Sie (die Strukturfrage) lenkt ab von den zentralen Problemen, der Qualitätssicherung und -entwicklung, denn wenn der Misserfolg im System liegt, dann kann man sich in seiner Welt bequem einrichten.

Dann heißt es weiter:

Unterschichtenkindern hilft kein folgenloses Mitleid, erst recht kein Verzicht auf Leistung. Was ihnen überhaupt nicht hilft,ist der Verweis auf andere Schulstrukturen, in denen sie bei veränderter Schulkultur genauso scheitern würden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dann zitiert sie Herrn Prof. Dr. Bos, der die IGLU-Studie gemacht hat, und rundet damit ihren Artikel ab:

Wenn die internationalen Vergleichsuntersuchungen und der Vergleich der Bundesländer untereinander eines deutlich gezeigt haben, dann dass der

deutsche Streit um die Schulstruktur obsolet ist. Diese bildungspolitisch begründete Debatte, die in Deutschland seit Jahrzehnten verhindert hat, die eigentlichen Problemzonen zu lokalisieren und effektiv zu verbessern, sollte zu den Akten gelegt werden.

Meine Damen und Herren, wer heute die Schulstruktur zum Sündenbock für die PISA-Ergebnisse macht, der ist schlicht zu faul zum Lösen der Probleme.

(Beifall bei der CDU)

Deswegen ist es richtig, dass ich im Zusammenhang mit der Vorstellung des Schulgesetzes in der letzten Beratung des Landtags über zwei strategische Ziele des Kultusministeriums und der sie tragenden Fraktion diskutiert habe: es bis zum Ende des zweiten Schuljahres zu erreichen, dass unsere Schülerinnen und Schüler sinnerfassend lesen können und dass in den nächsten drei Jahren mindestens ein Drittel weniger ohne einen Abschluss aus unseren Hauptschulen abgeht. – Die eigentliche Arbeit ist es, dazu die Maßnahmen zu bündeln, sie in Verbindung zu bringen und zu verzahnen. Das ist Fleißarbeit. Das ist Innovation, das ist konsequentes Arbeiten an der Qualität unseres Bildungssystems.

Dazu gehört eben auch die frühkindliche Bildung, über die wir heute Morgen schon einmal gesprochen haben. Meine Damen und Herren, ich will allerdings eines sagen: Wer glaubt, dass man Bildungs- und Erziehungspläne am Schreibtisch fertigt und nicht mit Betroffenen und Sachverständigen auskämpft,

(Zuruf der Abg. Brigitte Kölsch (CDU))

der hat von Planungsarbeit und von Bildungsplanung nichts verstanden. Wer diesen Prozess kritisiert, der sich im Moment in der Fachkommission zwischen Trägern, Ausbildern, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, zwischen Eltern und anderen abspielt, der dazu führen wird, dass wir einen Bildungs- und Erziehungsplan auf den Tisch bekommen, der termingerecht zum nächsten Kindergarten- und Schuljahr in die Erprobung gehen kann, der kennt den gesellschaftlichen Diskussionsprozess um frühkindliche Bildung nicht. Es geht um die Übernahme von Verantwortung durch Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer. Dazu gehört auch ein flexibler Überstieg in die Grundschule. Dazu gehört – wie wir das im Schulgesetz zugrunde gelegt haben –, dass man in Form einer veränderten Eingangsstufe durchaus ein bzw. drei Jahre oder ganz normal zwei Jahre in den Klassen 1 und 2 verweilt,um die Basis für alle Fähigkeiten und Fertigkeiten, die entfaltet werden können, individuell am besten legen zu können. Das ist das Entscheidende, was wir erreichen können.

Im Übrigen, bei der Spracherziehung, die wir, im Sozialministerium wie auch bei uns, schon jetzt im Vorschulbereich machen, sind in den Vorlaufkursen schon über 300 Schülerinnen und Schüler deutscher Herkunft. Also nehmen die Schulleiterinnen und Schulleiter sehr wohl auch deutsche Kinder in die Vorlaufkurse, wenn sie merken, dass deren Sprachkenntnisse in keiner Weise vorhanden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist an der Grenze der Fraktionsredezeit.

Herr Präsident, ich will auch gerne zum Schluss kommen. – Ich mache noch eine Schlussbemerkung zur Selbstverantwortung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die SPD und auch die GRÜNEN das begrüßen, was jetzt im Schulgesetz verändert worden ist, nehme ich dankbar zur Kenntnis. Sie haben dem nicht zugestimmt. Aber bereits jetzt laufen die Versuche in Groß-Gerau und Rüsselsheim. Wir haben sie auf den Main-Taunus-Kreis ausgeweitet. Im neuen Jahr werden wir sie auf den Hochtaunuskreis und den Wetteraukreis ausweiten. Wir werden es dann also in einer beachtlichen Fläche erproben.In den nächsten zwei Wochen können wir die Namen der Schulen bekannt geben, die am 01.01. mit dem Projekt „Selbstverantwortung plus“ sehr konkret in die Experimentierphase gehen. Die Voraussetzungen für eine Stärkung der Schulleiterinnen und Schulleiter, aber auch eine klare Evaluation haben wir gesetzlich geschaffen.

Meine Damen und Herren, ich lade Sie herzlich ein, uns bei der Gründung des Instituts für Qualitätssicherung, aber auch bei der Inspektion der einzelnen Schulen durch Begleitung all derer, die heute Selbst- und Eigenverantwortung gefordert haben, zu unterstützen. – Dafür im Voraus schon herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, jetzt muss ich entscheiden, ob die Kurzintervention vor einer Redemeldung kommt. Es macht Sinn, die Kurzintervention zu nehmen. – Bitte schön, Herr Kollege Riege.

Vielen Dank, Herr Präsident. – Es liegt mir auf der Seele, von der Kultusministerin zu erfahren,ob ich richtig gehört habe, dass die Schulen in den nächsten zwei Wochen erfahren, wer am 1. Januar an dem Modellprojekt „Selbstverantwortung plus“ teilnehmen darf, d. h. einen Tag vor Silvester. Oder wie habe ich das zu verstehen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Frank Got- thardt (CDU): Dann hätte eine Frage gereicht!)

Vielen Dank, Herr Kollege Riege. – Es muss nicht geantwortet werden.Vielleicht kann es Herr Kollege Bökel beantworten. Ihm gebe ich jetzt das Wort.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Kollege Heidel musste auch die Änderungsanträge der CDU im Innenausschuss begründen!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch einer Ministerin muss man zugestehen, dass sie auf eine Frage nicht sofort antwortet, wenn sie die Antwort noch nicht kennt. Das ist doch ein ganz normaler Vorgang.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dann machen Sie es. Sie dürfen jederzeit ans Mikrofon und antworten. Das ist doch gar kein Problem. Dann machen Sie es nach mir.

Frau Ministerin, Sie haben uns eingeladen, auch künftig an der Diskussion teilzunehmen. Das wollen wir gerne tun. Es geht aber nicht, dass Sie nicht richtig hinhören und den Sozialdemokraten etwas unterstellen, was sie nicht tun. Schulformdiskussionen führen wir nicht so, wie Sie es uns unterstellt haben.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU)

Aufgrund der Analyse der PISA-Ergebnisse ist völlig klar, dass das dreigliedrige Schulsystem international gesehen schlicht gescheitert ist.