Ich freue mich auf spannende Diskussionen. Ich denke, dass wir im Bereich der Wirtschaftsdemokratie einiges miteinander diskutieren müssen. Die Verfassung formuliert nicht nur die Kontrolle politischer Macht,sondern sie formuliert auch, dass wirtschaftliche Macht und Konzentration kontrolliert und demokratisch gestaltet werden.
Ich verweise auf den Art. 35, in dem der Solidargedanke dieser Verfassung besonders deutlich wird. Er mutet äußerst modern an, wenn es da heißt: „Es ist eine das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung zu schaffen.“ Möglicherweise wird dieser Gedanke, im Moment jedenfalls, zu einem zentralen Diskussionselement bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme.
Wir sehen, ein weites Diskussionsfeld liegt vor uns. Da macht es ganz viel Sinn, wenn wir dabei externen Sachverstand einfordern, wenn wir eine breite öffentliche Diskussion organisieren – dazu gibt es auch Hinweise in Ihrem Antrag. Eine wissenschaftliche Begleitung wird notwendig sein,alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen müssen mit ihren Vorstellungen einbezogen werden.
Bei alldem wird nicht die heiße Nadel das geeignete Instrument für zukunftsfähige Reformvorschläge sein, schon gar nicht dürfen parteiisch geprägte Auseinandersetzungen der Tagespolitik Grundlage für die Reformdiskussion werden. Hier sind nicht nur ein kühler Kopf, sondern ganz besonders auch das geschichtliche Bewusstsein und das stete Besinnen auf das Humanitätsideal der Aufklärung gefragt.
Wenn wir diese Tradition als Grundlage unserer Reform begreifen, dann kann – davon bin ich überzeugt – und wird ein gutes Werk gelingen. – Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und des Abg. Armin Klein (Wiesbaden) (CDU))
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich darf zunächst im Namen meiner Fraktion eine tiefe Genugtuung und Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, weil ich glaube, dass dieser Tag auch ein historischer Tag werden kann.
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landtags bekennen sich alle vier Fraktionen zur Modernisierung unserer Verfassung, ohne den historisch hohen Rang dieses grundgesetzlichen Dokuments für unser Land Hessen aufzugeben. Das ist ein Novum, und dafür bin ich außerordentlich dankbar.
Lieber Herr Kollege Wintermeyer, es ist leider nicht so gewesen, dass die Argumente im Laufe dieser mehr als 50 Jahre gleich geblieben sind.Ich darf Sie daran erinnern, dass es einen Antrag der CDU-Fraktion vom 5. Oktober 1976 mit der Drucksachennummer 8/3133 gab, betreffend Enquetekommission zur Totalrevision der Hessischen Verfassung.
Dieser Antrag der CDU ist dann wieder zurückgezogen worden. Der ältere Antrag stammt von der FDP-Fraktion aus dem Jahre 1970, vorgetragen von unserem Fraktionsvorsitzenden Heinz Herbert Karry anlässlich der Verfassungsänderung, das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabzusetzen. Dieser Antrag mit der Drucksachennummer 6/2593 vom 20. Januar 1970 hat sehr konkrete Vorschläge – nicht für eine Totalrevision, aber für entscheidende Dinge – vorgetragen, die 1946 zur Ablehnung durch unsere Vorgängerfraktion, die LDP, geführt hat.
Deshalb freuen wir uns heute, dass hier offensichtlich ein Grundkonsens aller hessischer Parteien da ist, zu überlegen, was einen so historischen Rang hat, dass es auf keinen Fall geändert oder nur mäßig angepasst werden sollte. Warum ist diese Verfassung zu entrümpeln? Weil wir sie aus einem Zeitgeist heraus verstehen müssen, der heute nicht mehr dem Bewusstsein, vor allem der jungen Generation, entspricht. Außerdem müssen wir fragen: Wo sind dringende Anpassungen an das Grundgesetz, an europäisches Recht usw. vorzunehmen?
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal daran erinnern, dass die Proklamation Nr. 2 der amerikanischen Militärregierung, die sowohl den Staat Groß-Hessen, unser Vorgängerland, wie Württemberg-Baden – das war ein Teil des heutigen Baden-Württemberg – und Bayern im I.G.-Farben-Haus konstituiert hat, schon eine Art Staatsgrundgesetz vorgelegt hat, in dem das Staatsgebiet, die Landesfarben, die Einsetzung eines Ministerpräsidenten und eines Kabinetts vorgesehen waren, das den Auftrag hatte, eine rechtsstaatliche Verfassung zu entwickeln.
Ich will daran erinnern – die meisten Redner haben schon einige dieser historischen Quellen genannt –, was mir im
mer wieder bei der Beschäftigung mit diesem Thema aufgefallen ist: wie stark die Militärregierung in die Einzeldiskussion eingegriffen hat. Es wurden einzelne Paragraphen von dem Verfassungsausschuss, dem vorbereitenden Ausschuss, der Militärregierung vorgelegt und von dieser genehmigt.Auch das ist natürlich ein Verfahren, das noch einmal vom Ergebnis her zu bewerten ist.
Meine Damen und Herren, mittlerweile haben sich nicht nur die fünf neuen Bundesländer eine moderne Verfassung gegeben, sondern die große Mehrzahl der so genannten alten Bundesländer, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Niedersachsen, Berlin, Hamburg, sie alle haben in den Neunzigerjahren versucht, moderne Verfassungen auf den Weg zu bringen.
Ich bin in den letzten Tagen mehrfach von Journalisten nach dem Ziel einer solchen Verfassung gefragt worden. Dort muss im Detail gesehen werden, was bleibt, was neu hinzugefügt werden muss und was wir auf keinen Fall aufgeben wollen. Das Ziel muss sein, auch der jungen Generation die Chance zu geben, durch ein Referendum unserer wahlberechtigten Bevölkerung zu ermöglichen, sich in unsere Verfassungswirklichkeit und in eine gute Verfassungstheorie einzubringen.
Wir verteilen immer noch die Verfassung – ich glaube, dass sie noch kostenlos verteilt wird – an Schüler der zehnten Klassen. Ich weiß genau, wenn Sie mit den Schülern einmal einige Paragraphen angucken,dann sagen die: Das kann doch nicht sein, das ist meine Verfassung?
Wir müssen die Verfassung anpassen – das ist keine Bösartigkeit – an das, was modernes Recht und modernes Rechtsempfinden ist. Herr Prof. Dr. Michael Stolleis hat bei der letzten Revision im Jahre 1990 klar gesagt – und da hat er Recht –, es handle sich nicht um eine überalterte Verfassung, sondern um eine antiquierte Verfassung, die zweitälteste, die es noch gebe, die ein unglaubliches Auseinanderklaffen von Verfassungswirklichkeit und -theorie zur Folge habe.
Diese Lücke müssen wir schließen, damit sich die jungen Menschen auch mit unserer grundgesetzlichen Verfassung des Landes Hessen identifizieren können.
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal kurz an die Schlussansprachen der Verfassunggebenden Versammlung erinnern. Man kann das alles historisch aufbereiten.Es ist ganz wichtig,zu den historischen Wurzeln zurückzukommen. Ich habe sie heute mit großem Geschick aus dem Archiv des Landtags bekommen; sie werden nicht immer ausgeliehen. Damals ist noch nicht alles stenografisch festgehalten worden. Sie müssen sich die Bedingungen noch einmal angucken, die damals herrschten: Die Hauptarbeit für die Landtagsverwaltung – soweit es sie schon gab – war, die auswärtigen Gäste und die Vertreter der ganzen Parteien aus Hessen hier unterzubringen und zu verköstigen. Der einzige Saal, der zur Verfügung stand, war unsere Lobby. Dort ist die Verfassung gemacht worden. In einer öffentlichen Veranstaltung in der Oper, wie es so schön heißt, ist zum ersten Mal überhaupt eine öffentliche Veranstaltung des Landtags gewesen. Es ist hochinteressant für uns alle, das noch einmal zu lesen.
Damals hat die SPD in der Schlussansprache vorgetragen, dass die Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus eigentlich der Kern dieser Verfassung sei. Sie sei die freieste Verfassung in Deutschland, ein erkennbarer Fortschritt gegenüber der Weimarer Verfassung
Die CDU hat vorgetragen, dass die Wiedergewinnung der Grundlage eines demokratischen Rechtsstaats, die Erneuerung des Gleichheitssatzes vor dem Gesetz und die Gewissensfreiheit mit die wichtigsten Errungenschaften seien.
Die KPD, die diesem Haus angehört hat, hat gesagt, die Gleichstellung der Frau, das Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte, der Sozialisierungsartikel, die Verankerung der Planwirtschaft und die neue Basis für das Justiz- und Beamtenwesens – auch das ist alles enthalten in dieser Verfassung – seien der Grund, warum sie bedingt zustimmen könnten.
Die LDP lehnte bei grundsätzlicher Anerkennung der wichtigen rechtsstaatlichen und Menschenrechtsbestimmungen die Verfassung mehrheitlich ab, weil die Art. 3 bis 5, die vor allen Dingen die Wirtschafts- und Sozialordnung betrafen, aus ihrer Sicht völlig verfehlt waren und weil sie nur auf ein Land bezogen waren, während das doch eigentlich für das gesamte ehemalige Reichsgebiet gelten sollte. Die Themen Verstaatlichung, Bodenreform, Achtstundentag, Zwangssozialversicherung, Planwirtschaft und Entschädigung nach Art. 41, über die beim Referendum gesondert abgestimmt wurde, waren die Gründe dafür, dass unsere Vorgängerfraktion damals der Verfassung nicht zugestimmt hat.
Meine Damen und Herren, wie meine Vorredner bin ich der Auffassung, dass diese Verfassung einen hohen historischen Rang hat. Ich möchte insbesondere auf einen Artikel hinweisen, der in fast keiner anderen Landesverfassung vorkommt und der zeigt, wie alle, die daran mitgearbeitet haben, auf der Erfahrung des Nazireichs aufgebaut haben.Das ist Art.147.In diesem Artikel wird gesagt,dass es ein Recht und eine Pflicht jedes Bürgers gibt, Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt zu leisten.
Dieses Recht gibt es in keiner anderen Landesverfassung. Ich glaube,es ist einer der historisch wichtigen Pfeiler,den auch niemand von uns infrage stellen will.
Meine Damen und Herren, nach meiner Meinung gibt es – das ist schon gesagt worden – drei Prinzipien, die wir durcharbeiten müssen. Ich fasse das unter das Stichwort Entrümpelung.
Ich nehme aus dem Antrag des Abg. Karry das Thema Recht und Pflicht zur Arbeit, die Frage der Aussperrung,
die Formulierungen zu den Pflichten der Frauen als Mütter, die Frage der Wirtschaftsräte und die Verstaatlichung des Bergbaus – den wir gar nicht mehr so haben –,des Abbaus von Kohle, Kali und Erzen, das Thema Großbanken und Versicherungsunternehmen, die Fragen zum Adel.
Meine Damen und Herren, ich will es Ihnen nicht vorenthalten. Bei der damaligen Aussprache hat ein Abgeordneter Herrn Karry gefragt: Was würden Sie denn tun, wenn Ihr Vater Herzog von Hessen gewesen wäre? Die Antwort war: Um Gottes willen, hoffentlich nicht. – Und dann sagte der Redner:Aber für illegitime Linien gilt das nicht. – Ein halbes Jahr später war Karry Minister.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen einige Beispiele aufgezählt, die wir entrümpeln müssen. Wir brauchen die Anpassung an europäisches Recht und an das Grundgesetz. Ich sage sehr offen, und ohne dass wir uns dabei festlegen: Wir müssen diskutieren, ob es Staatszielbestimmungen gibt,die tatsächlich etwas bringen.Solange sie reine Programmsätze sind, ohne durch Gesetze unterfüttert zu sein – –
Meine Damen und Herren, denken Sie beispielsweise an den Denkmalschutz.Der Denkmalschutz wurde in Art.62 verankert, und erst 1974 hat es dazu ein Gesetz gegeben. In der Zeit zwischen 1946 und 1974 gab es Dörfer, in denen mehr abgerissen wurde,als der Krieg vernichtet hatte.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, wenn es gelingt,einen gemeinsamen Antrag zu formulieren,der dazu führen kann, dass wir tatsächlich eine moderne Verfassung bekommen, die widerspiegelt, dass wir ein weltoffenes, tolerantes Land mit dem Bewusstsein der Tradition sind, und die den jungen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit eröffnet, sich mit diesem Land auch wirklich zu identifizieren. – Herzlichen Dank.