Protocol of the Session on September 15, 2004

Ich glaube, wir alle in diesem Haus tun gut daran, bei dieser Debatte nicht einen Superlativ nach dem anderen zu produzieren, sondern uns etwas zu mäßigen und auf die wirklichen Probleme einzugehen, die es im Sozialbereich dieses Landes gibt.

Meine Damen und Herren, mit dem Sparpaket hat diese Landesregierung sehr starke Einschnitte im Sozialbereich dieses Landes vorgenommen. Das haben wir hier in mehreren Debatten erörtert. 30 Millionen c sind bei den freiwilligen Leistungen des Sozialressorts herausgeschnitten worden. Ich sage mit Absicht „herausgeschnitten“, denn die Kürzungen sind – jedenfalls zum Teil – wirklich äußerst massiv gewesen.Erschwerend – das haben wir mehrfach diskutiert – kam die Art und Weise des Vorgehens hinzu. Sensibel war das ganz sicher nicht. Sicherlich muss man konstatieren, dass die Beteiligten nicht mit einbezogen worden sind.Sie wurde nicht mit ins Boot geholt.Man hat nicht vorher mit ihnen geredet.All das haben wir hier mehrfach diskutiert.

Es ist viel Porzellan zerschlagen worden. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Frau Oppermann, es gibt Verbände, die sich sehr stark zurückgezogen haben. Es gab keinen Dialog zwischen der Politik und diesen Verbänden. Dazu muss man noch eines feststellen:Es geht hier nicht darum, dass das eine unionsgeführte Landesregierung ist oder eine anders geführte – sondern es ist das Land Hessen,das Sie repräsentieren.

(Petra Fuhrmann (SPD): Richtig!)

Deshalb ist es ganz wichtig, den Kontakt zu diesen Sozialverbänden weiter aufrechtzuerhalten.

Andere, ganz wichtige Projekte haben darunter gelitten, beispielsweise die landesweite Umsetzung der Kommunalisierung. Auch das haben wir schon öfter besprochen. Wir stellen heute fest, dass viel Vertrauen zerstört worden ist.

Der Grund ist: Es gab keine adäquate Vorbereitung. Sogar einzelne Bereiche des Ministeriums waren von dem Ausmaß dieses Sparpakets überrascht.

(Beifall bei der FDP)

Es gab überhaupt keine Aufgabenkritik – das ist einer der Hauptpunkte –, welche einzelnen Bereiche gekürzt werden sollen, weil man deren politische Funktion, deren Aufgabenerfüllung nicht mehr benötigt. Stattdessen wurde, aus welchen Gründen auch immer, in verschiedenen Bereichen gespart. Die Begründungen dafür waren oft sehr dürftig.

Meine Damen und Herren, bis heute stellen wir fest, dass es immer noch keine Aufgabenkritik gibt.Wir fordern sie immer noch ein. Aber vielleicht kann die Frau Ministerin nachher zu diesem Thema etwas sagen.

Wir haben festgestellt, dass die Rechtsgrundlagen in den von diesen Landeskürzungen betroffenen Bereichen mittlerweile angepasst werden müssen. Das haben wir in der Diskussion vor einem Jahr hier erwähnt.

Ich nenne hier ein Beispiel.Vor etwa zehn Monaten,Ende November 2003, habe ich die Frau Ministerin an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Teile der Kürzungen mit dem Hessischen Ausführungsgesetz zum KJHG nicht vereinbar sein werden.Wie Sie wissen, schreibt dieses Gesetz unter anderem die Landesförderung von Familienbildungsstätten und Erziehungsberatungsstellen vor. Ich habe Sie von dieser Stelle aus gefragt, wie Sie es mit diesem Gesetz halten, ob Sie etwas verändern wollen.

Meine Damen und Herren, die Antwort haben wir nun: Das Hessische Ausführungsgesetz zum KJHG wird gerade novelliert.Wie wir gehört haben, liegt bisher nur ein hausinterner Entwurf vor. Ich gestehe, es würde mich schon brennend interessieren, wie er aussieht.

Die zuständige Abteilungsleiterin hat nur so viel dazu gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

Aufgrund der „Operation sichere Zukunft“ hat sich ergeben, dass das Ausführungsgesetz zum KJHG angepasst werden muss.

Es wird jetzt rechtlich nachvollzogen und abgesichert,was in der Landesförderung mit Beginn des Jahres Praxis ist, was weggefallen ist, und das kritisieren wir. Man macht sich vorher Gedanken,was man streichen will.Man macht vorher die Änderungen der Rechtsgrundlagen und nicht nachher.

(Beifall bei der FDP)

Ich kann dem Kollegen nur empfehlen, ab und zu einmal in den „Staatsanzeiger“ zu schauen. Ich glaube, viele werfen ihn gleich in den Mülleimer.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt nicht!)

Es ist aber ganz interessant, was man darin lesen kann. Darin steht z. B.:

Die Richtlinie für die Förderung sozialer Gemeinschaftseinrichtungen und nicht intensiver sozialer Maßnahmen tritt außer Kraft.

Oder – ich zitiere –:

Aufhebung von Richtlinienfördergrundsätzen: Im Geschäftsbereich des Hessischen Sozialministeriums fallen weg...

Genannt werden an dieser Stelle Information und Qualifikation für Existenzgründerinnen, Schuldnerberatung, Frauenbildungsprojekte, offene Hilfe zur Erziehung usw. Ich erhebe mit dieser Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber ich möchte das nachträglich erwähnen. Es ist wirklich der falsche Weg gewesen, nachträglich Rechtsgrundlagen zu ändern und das nicht im Vorfeld zu machen.

(Beifall bei der FDP)

Die FDP stellt klar fest, die Tatsache, dass erst Einsparungen erfolgen und dann Rechtsgrundlagen geändert werden, ist falsch. Es zeigt sich wieder einmal an dieser Stelle die Überstürztheit der ganzen Aktionen. Sie haben von Operation gesprochen. Heute ist das Wort wieder gefallen. Man muss eigentlich sagen: Bei jeder wichtigen Operation wird normalerweise der Patient vorher erst gründlich durchgecheckt, es gibt eine Anamnese mit allem, was dazugehört, man macht sich ein Bild über das Krankheitsgeschehen. – Bei der „Operation sichere Zukunft“ hat man von all dem relativ wenig getan. Man hat einfach einmal mit dem Messer reingeschnitten. Man hat noch die Zeit der Betäubung verkürzt. Das ist sicher der falsche Weg.

(Beifall bei der FDP – Dr. Franz Josef Jung (Rhein- gau) (CDU): Klare Analyse!)

Wir haben bei dem, was wir hier beraten haben, auch letztes Jahr sehr stark spekuliert, wie sich das Sparpaket auf die soziale Struktur in Hessen auswirken wird.Wir spekulieren immer noch.Aber mittlerweile haben wir einige Erkenntnis. Ich teile nicht alles das, was Frau Fuhrmann hier gesagt hat, denn wir sind schon der Meinung, dass Hessen immer noch ein soziales Netz hat, in das aber Einschnitte gemacht worden sind. Das ist keine Frage.

Ich will an dieser Stelle einige Punkte herausgreifen, die auch für die FDP relativ unverständlich sind und wo wir jetzt immer noch Antworten von der Ministerin erwarten. Sie haben z. B. Aidshilfen im Bereich der Gefängnisse stark gekürzt. Wer die Situation dort kennt und sich das angeschaut hat, der weiß, was für ein Problem HIV in hessischen Gefängnissen ist, was es dort für einen Verbreitungsgrad gibt und wie wichtig dort Information ist – ein Eingriff in die Prävention, den wir nicht nachvollziehen können.

Frau Oppermann, es ist die Frage der Erziehungsberatungsstellen erwähnt worden.

(Beifall der Abg.Evelin Schönhut-Keil (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich finde Ihre Bemerkung schon sehr zynisch: Die Erziehungsberatungsstellen mussten wissen, was auf sie zukommt, weil sie in das Programm der Kommunalisierung eingebunden waren. Deshalb wussten sie, dass sich möglicherweise in der Finanzierung etwas verändert.

Auch das haben wir bis zum Erbrechen diskutiert. Es gibt Pressemitteilungen der Ministerin vom letzten Sommer, wo sie klar feststellt, dass die Erziehungsberatung ausge

baut werden muss, weil es dort mehr Kompetenzen gibt, weil es Defizite bei den Eltern gibt, weil das für sie als „Familienland Hessen“ ein wichtiger Bereich ist. Dann kann man nicht einfach sagen:Wir haben es aber gemacht, und eigentlich hätten sie wissen müssen, was passiert. – Ich finde, das ist kein guter Umgang, gerade in dem wichtigen Bereich der Erziehungsberatungsstellen.

(Beifall bei der FDP,bei Abgeordneten des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Viele Bereiche sind durch die Kommunen aufgefangen worden, auch das ist richtig. Wir haben in Wiesbaden einige Projekte übernommen, die nicht weiterfinanziert worden sind. Aber ich sage Ihnen, was uns Liberale besonders schmerzt.Ich weiß,dass es auch den Kollegen von der Union so geht und vielleicht sogar der Ministerin. Das ist der Fall, wenn präventive Angebote wegfallen, wenn es um Prävention geht. Ich glaube, das ist auch eine Frage, wie man an dieser Stelle Sozialpolitik versteht.

Prävention ist für uns der Schlüssel. Wir wollen den Leuten die Möglichkeit geben, selbst zu wissen, was sie tun. Sie sollen nicht in die soziale Falle laufen. Deshalb nenne ich z. B. die Drogenberatung. In diesem Bereich sind die Mittel für die Suchtpräventionseinrichtungen deutlich gekürzt worden, und wir halten das für einen wichtigen Baustein in der Drogenpolitik.

(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn ich mir anschaue – jetzt werde ich keinen Applaus von den Kollegen der GRÜNEN bekommen –, welchen Aufwand man in bestimmten Beratungsstellen in Frankfurt mit Drogensüchtigen betreibt, dann hätte an dieser Stelle eher als im Bereich der Prävention und der Suchtberatung gekürzt werden können. Ich glaube, dass das ein strategischer Fehler war.

(Beifall bei der FDP – Evelin Schönhut-Keil (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nennen Sie ein Beispiel!)

Meine Damen und Herren, Schuldnerberatungsstellen als letztes Beispiel.Wir haben in der Landeshauptstadt Wiesbaden einige dichtgemacht. Allein die Altfälle werden noch abgewickelt.Wenn ich bedenke, dass die Zahlen der privaten Insolvenzen im letzten Jahr um 75 % gestiegen sind, ist das die falsche Entscheidung gewesen. Frau Oppermann, man kann von diesem Pult aus nicht immer sagen: Die Bundesregierung ist an allem schuld. – Auch das Land hat politische Möglichkeiten, und diese Möglichkeiten nutzt das Land nicht. Ich glaube, es ist ein wirklicher Fehler, Leute in einer Situation allein zu lassen, wo sie relativ große Schwierigkeiten haben werden, ihr zukünftiges Leben aus eigenen Mitteln zu bestreiten, ihnen keine Chance zu geben, aus ihrer Situation herauszukommen, wenn man dort nur sagt: Die Bundesregierung ist daran schuld. – Die ist an vielem schuld; darin sind wir uns einig. Aber das ist etwas zu kurz gesprungen. Da hätte ich von Ihnen andere Vorschläge erwartet, Frau Oppermann.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, da hat mir der Ausblick gefehlt, wie es weitergehen soll. Meines Erachtens wird es die Art von Sozialpolitik, wie wir sie über Jahrzehnte in diesem Land erlebt haben, nicht mehr geben. Sie ist eigentlich nicht mehr möglich. Die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Sie kennen sie: sinkende Geburtenrate, höhere Lebenserwartung, Arbeitslosigkeit, Umlage

systeme, versteckte Probleme in den sozialen Systemen. All diese Probleme werden wir angehen müssen.Wir werden die Sozialpolitik in Hessen völlig neu justieren müssen.

Es wird nach unserer Meinung immer Menschen geben, die aus eigener Kraft ihr Leben nicht bewältigen können. Das ist so, und das bleibt so. Das bleibt selbst dann so, wenn die Sozialdemokraten Geld vom Himmel regnen lassen sollten. Auch dann wird es Unterschiede zwischen den Menschen geben.

Wir Liberale wollen deshalb Angebote fördern, die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen, ihre Verantwortung für sich selber zu erkennen und wahrzunehmen. Deshalb – so habe ich vorhin gesagt – legen wir den Schwerpunkt auf Prävention. Die FDP stellt vor allem eine Frage:Was ist die Verantwortung des Einzelnen? Was ist die Verantwortung des Staates?

Unserer Meinung nach sollte sich die Verantwortung des Staates auf Basisleistung richten. Sie sollte sich auf die grundlegende Risikovorsorge richten und auf nicht mehr. Wir teilen deshalb nicht den Wahn, der in diesem Hause auch diskutiert wird,alle Menschen gleich machen zu wollen. Wir haben gerade in der Öffentlichkeit eine Diskussion über die Frage der gleichwertigen Lebensverhältnisse.

(Zuruf der Abg. Evelin Schönhut-Keil (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

An dieser Stelle kann man nur sagen: Menschen sind verschieden. Menschen werden verschieden sein, auch wenn sich die Politik und der Staat dieser Probleme mit einem Helfersyndrom annehmen wollen.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, das richtet sich jetzt an RotGrün.Was Sie hier betreiben, ist oft Gleichmacherei statt Gerechtigkeit – das wissen Sie.