Protocol of the Session on June 16, 2004

In dieser Woche ist ebenfalls zu lesen, dass so genannte Vordenker in der CDU sogar auf den Aufbau eines Kapitalstocks verzichten wollen.Wenn es überhaupt ein Argument gibt, das für Ihr System spricht, dann ist es der Aufbau eines Kapitalstocks,um die Kostengefahr im Alter abzumindern.Sehr geehrte Frau Kollegin Oppermann,wenn Sie darauf verzichten, dann ist dieses überhaupt nicht demographieunabhängig, was Sie eigentlich mit Ihrem System erreichen wollten.

(Beifall bei der FDP – Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP):Typisch Seehofer!)

Die Bürgerversicherung, zu der Herr Kollege Dr. Spies nachher in seiner gewohnten philosophischen Art Gerechtigkeitsausführung machen wird – Herr Dr. Spies, ich nehme das schon einmal vorweg –,

(Michael Siebel (SPD): Einer der letzten Philosophen im Parlament! Kein Neid, Herr Rentsch!)

ist eine absolute Mogelpackung.

(Beifall bei der FDP)

Wenn wir hier über die Gewichtung dieser Systeme reden, muss man den Leuten auch klar sagen, was dieses System beinhaltet, und darf nicht immer nur von Gerechtigkeit reden.

(Zurufe der Abg. Dr. Thomas Spies und Michael Siebel (SPD))

Von Gerechtigkeit allein wird dieses System nicht effektiver und auch nicht plausibel. Sie wollen Beamte und Selbstständige in die gesetzliche Krankenversicherung einbeziehen. Das bedeutet faktisch, das wissen Sie auch, das Ende der privaten Krankenversicherung. Das ist das, was Sie auch wollen.

(Beifall bei der FDP – Michael Siebel (SPD): Da haben Sie etwas nicht verstanden!)

Bürgerversicherung klingt so ungemein solidarisch und gerecht.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):Völliger Unsinn!)

Manche nennen es sogar solidarische Bürgerversicherung, wie Sie hier im Haus. Denn das lässt sich nach außen ganz hervorragend verkaufen. Das spricht die Menschen an. Das macht den Vorzug aus. Das ist es aber auch schon. Der Name ist der einzige Vorteil dieses Modells.Inhaltlich ist die Bürgerversicherung eine Mogelpackung. Das Modell ist nicht durchdacht. Ich möchte den Kollegen Spies schon vorab bitten, dass er, wenn er nachher seine philosophischen Ausführungen macht, einmal konkret auf die offenen Fragen bei der Bürgerversicherung eingeht.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Dürfen die privaten Krankenversicherungen überhaupt abgeschafft werden?

(Zuruf des Abg. Michael Siebel (SPD))

Ist das, was die GRÜNEN vorhaben, verfassungsgemäß, oder ist es ein Verstoß gegen die Verfassung? Wie lange müssten gegebenenfalls die Übergangsfristen sein? Soll die Beitragsbemessungsgrenze erneut angehoben werden? Wie hoch soll der Anteil des Arbeitgeberbeitrags sein? Bleibt es bei 50 %, oder wird er quasi eingefroren? Bleibt es bei der Rückversicherung für nicht erwerbsfähige Ehepartner und Kinder? Das alles sind lauter ungelöste Fragen, die Sie uns heute hier beantworten können.

(Dr.Thomas Spies (SPD): Herr Rentsch, die beantworte ich nicht,wenn Sie es verlangen! Wo kommen wir denn dann hin?)

Unbestreitbar ist für uns Liberale vor allem eines: Die Bürgerversicherung wird die Bürokratie im Gesundheitswesen weiter potenzieren. Das ist die Hauptkritik der FDP.Denn neben dem Einkommen sollen Zinsen,Mieten und Aktiengewinne herangezogen werden. Die Krankenkassen werden – als Sozialdemokrat kann man sich darüber freuen – zur Nebenstelle der Finanzämter. Sie werden die Steuererklärung der Bürger noch einmal genau auskundschaften und werden Erklärungen zum Sozialversicherungsbeitrag von den Versicherten abfordern. Wer eine weitere Potenzierung der Bürokratie in Deutschland will, muss die Bürgerversicherung in Deutschland unterstützen. Wer ein schlankes System haben will, das den Bürgern zugute kommt, kann sie nur ablehnen.

(Beifall bei der FDP)

Das, womit die GRÜNEN und die SPD locken, sind sinkende Beiträge. Meine Damen und Herren, wir müssen auf jeden Fall über das Thema sinkender Beiträge diskutieren. Da geben wir Ihnen Recht.Aber, was sagt die Wissenschaft zu den sinkenden Beiträgen? Das Berliner Institut für Gesundheit und Sozialforschung hat errechnet, dass der durchschnittliche Beitragssatz von 14,1 % auf ca. 12,7 % sinken könnte.Ganze 0,8 Prozentpunkte durch die Einbeziehung von Mieten und Zinseinkünften zusammen, 0,6 Porzentpunkte durch die neuen Mitglieder, die Sie in der Bürgerversicherung zwangsversichern wollen. Es kann doch keiner glaubhaft machen, auch nicht, wenn er rhetorisch gut geschult ist, Herr Dr. Spies, dass sich eine so genannte Bürgerversicherung wirklich rechnet, wenn man einen solch minimalen Ertrag hat. Nicht nur SPD und GRÜNE streiten an dieser Stelle über dieses Modell. Vor allen Dingen in der SPD ist das Modell umstritten.

(Zuruf des Abg. Michael Siebel (SPD))

Die Pragmatiker in der SPD winken genauso wie bei der Ausbildungsplatzabgabe längst ab. Die Betonköpfe glauben immer noch, den Stein des Weisen gefunden zu haben – jenseits aller Realitäten.

Zu den Pragmatikern – das kann man hier einmal wieder erwähnen – gehört auf jeden Fall der Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement.

(Michael Siebel (SPD): Guter Mann!)

Er sagt zu dem Thema Bürgerversicherung – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: „Die vordergründige Problemlösung dadurch, dass mehr Geld in das System geleitet wird, lenkt von den notwendigen Strukturreformen ab.“

(Beifall bei der FDP – Dr.Thomas Spies (SPD):Aus dem letzten Sommer!)

Recht hat der Mann, Herr Dr. Spies. Ein krankes System wird nicht dadurch besser, dass man immer mehr Geld in

dieses System hineinpumpt. Ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie Rücksicht auf Ihren Wirtschaftsminister. Er macht in der letzten Zeit an einigen Stellen einen sehr positiven, pragmatischen Eindruck. Vielleicht können Sie davon noch etwas lernen.

(Dr. Thomas Spies (SPD): Richtig, er hat das mit der Bürgerversicherung inzwischen gelernt!)

Meine Damen und Herren,unser Fazit ist:Das Modell der FDP zur privaten Versicherungspflicht ist zukunftsfest. Es beschäftigt sich mit den entscheidenden Problematiken, nämlich mit der Demographieabhängigkeit und damit, dass es ein schlankes System sein soll, in dem weniger Bürokratie im Mittelpunkt steht. Weder die Kopfpauschale noch die Bürgerversicherung erweisen sich als nachhaltige Konzepte.

(Beifall bei der FDP)

Die Bürgerversicherung ist eine reine Zwangsveranstaltung. Wettbewerb und Beitragsgerechtigkeit werden auf dem Altar des Sozialismus geopfert. Etwas anderes haben wir auch nicht erwartet.

(Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Quatsch! – Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unsinn!)

Die jetzigen Probleme werden nicht gelöst. Im Gegenteil, sie werden sich weiterhin verschärfen. Die Koppelung an die Lohnkosten bleibt völlig außer Acht. Die demographische Entwicklung wird weiterhin außer Acht gelassen. Die Alterung unserer Gesellschaft heißt in Zahlen, dass sich bis zum Jahre 2050 die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung auf über 30 % erhöhen, wenn wir jetzt nicht einschreiten, sondern das jetzige System beibehalten. Nur das FDP-Modell geht auf die fundamentale demographische Entwicklung ein.

(Dr.Thomas Spies (SPD): Das tut ja weh!)

Alle anderen gehen sehenden Auges in die Katastrophe. Von Generationengerechtigkeit kann an dieser Stelle gar keine Rede sein. Das möchte ich den vielen jungen Zuschauern im Plenarsaal mit auf den Weg geben.

(Beifall bei der FDP)

Wir wollen mehr Wettbewerb durch Abkopplung der Krankenkassenbeiträge von den Lohnnebenkosten und den Zugang zur privaten Krankenversicherung für jeden Bürger. Wir wollen in der Krankenversicherung keine Zweiteilung mehr.

(Beifall bei der FDP – Lachen des Abg. Dr.Thomas Spies (SPD))

Entscheidend für die Akzeptanz einer solchen Reform ist die zeitgleiche Steuerreform, die die FDP mit einem ausgezeichneten Vorschlag – im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichnet – im Bundestag eingebracht hat.Meine Damen und Herren, unser Gesundheitswesen steht vor einer entscheidenden Weichenstellung. Nur ein mutiges Handeln kann unserer Meinung nach den drohenden Kollaps abwenden. Wir Liberale beschränken uns deshalb nicht auf Scheingefechte in Randbereichen. Wir sagen klipp und klar, was getan werden muss. Wir sagen auch klipp und klar, dass das nicht zum Nulltarif zu haben sein wird. Wir bieten mit unserem Modell einen Weg aus der Misere an, zwar einen steinigen und schwierigen Weg, der überhaupt nur gangbar ist, wenn wir alle mitmachen, aber einen Weg, der zum Ziel führen wird. Eine gute medizinische Versorgung für jeden Bürger in Deutschland, eine

medizinische Versorgung, die auch noch in 50 Jahren bezahlbar sein wird, ist unser Ziel. Diesen Antrag bringen wir hier ein. Ich freue mich auf eine interessante Diskussion. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Danke sehr, Herr Rentsch. – Meine Damen und Herren, bevor wir in der Redefolge fortfahren, darf ich mir einen Hinweis erlauben. Eingegangen und auf Ihren Plätzen verteilt ist ein Dringlicher Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Druck auf Kommunen zur Erhöhung der Kindergartenbeiträge, Drucks. 16/2386. Die Dringlichkeit wird bejaht? – Das ist der Fall.

Zur Geschäftsordnung, Herr Kaufmann.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Das geht jetzt nicht während der Debatte! Auf keinen Fall! Dann machen wir es nachher!)

Entschuldigung,ich war gebeten worden,dass ich diesen Antrag aufrufe. Ich rufe das dann noch einmal nach der Debatte auf. Einverstanden?

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einverstanden!)

Dann fahren wir in der verbundenen Debatte fort. Frau Schulz-Asche, Sie haben das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Vielen Dank, Herr Präsident. Da ich für beide Anträge verantwortlich bin, kann ich auch damit leben, dass ich mich jetzt erst einmal auf die Frage der Bürgerversicherung konzentrieren werde. – Vor ca. drei Wochen haben die Lobbyisten der privaten Krankenkassen in Berlin ihr angeblich neues revolutionäres Konzept vorgestellt. Sie möchten im Wettbewerb der Kassen mitmachen. Sie haben eine angeblich neue Zielgruppe entdeckt, nämlich ca. 6 Millionen freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte,d.h.Personen,die mehr als 3.862,50 c im Monat verdienen.

Meine Damen und Herren, was die privaten Krankenkassen vorschlagen, ist ein völlig durchsichtiger Versuch, noch stärker als bisher die finanzstarken Einzahler aus der gesetzlichen Krankenversicherung zu holen und die Entsolidarisierung unseres ohnehin völlig absurden zweigeteilten Finanzierungssystems auf die Spitze zu treiben. Dieses System ist frauenfeindlich, weil Frauen höhere Prämien zahlen. Es ist familienfeindlich, weil Kinder eigenständig versichert werden müssen.