Protocol of the Session on May 12, 2004

Aber wir haben in Hessen eine Landesregierung, die dabei ist, die Chancen Hessens in Europa zu verspielen.

(Beifall bei der SPD)

Die vielfältigen Potenziale des Landes werden nicht ausgeschöpft.Die Kreditwürdigkeit des Landes wurde wegen der miserablen Haushalts- und Finanzpolitik bereits zurückgestuft.

Zur wirtschaftlichen Entwicklung. Im innerdeutschen Vergleich ist Hessen im Jahr 2002 auf den Platz 8 und im Jahr 2003 auf den Platz 7 abgerutscht.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Was den Flughafenausbau betrifft, Frau Kollegin Wagner, so hat die Europäische Kommission der Landesregierung klipp und klar gesagt, an welchen Punkten sie ihre Hausaufgaben schlecht gemacht hat.

(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Im Prinzip ist die in dem CDU-Antrag enthaltene Beschreibung aber richtig. Es gibt sowohl bei uns als auch in den neuen Mitgliedsländern Ängste und Bedenken gegenüber der EU-Erweiterung.Wir sind gemeinsam aufgefordert, deutlich zu machen, dass nur eine große und starke Europäische Union den Zukunftsaufgaben im Zeitalter der Globalisierung gewachsen sein wird.

Doch das, was in dem CDU-Antrag anschließend steht – Frau Hölldobler-Heumüller hat vorhin darauf hingewiesen –, stellt einen Rückfall der europapolitischen Diskussion in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts dar. Wir haben einen Änderungsantrag dazu vorgelegt und bitten um eine getrennte Abstimmung zu dem zweiten Teil des CDU-Entschließungsantrags.

Bevor ich mich damit und mit dem Änderungsantrag der FDP im Einzelnen beschäftige, möchte ich den Beitrag eines Redners aus dem Jahr 1997 zitieren. Dieser Redner sagte zum Abschluss des Sondergipfels des Europäischen Rats in Luxemburg am 21. November 1997:

Ich habe in der Debatte auf zweierlei hingewiesen, nämlich erstens darauf, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, sehr damit einverstanden sind, dass die Türkei in der Perspektive der Zukunft eine Chance hat, der Europäischen Union beizutreten. Die Voraussetzungen im Bereich der Menschenund Minderheitenrechte, der Kurdenfrage und des Demokratieaufbaus, die ich eben genannt habe, gehören natürlich dazu.

Meine Damen und Herren, dieser Redner war Helmut Kohl, Kanzler, CDU-Vorsitzender und überzeugter Europäer.

(Beifall bei der SPD)

Lassen wir jetzt Revue passieren, was seit 1997 geschah. 1999 wurde die Türkei auf dem Europäischen Rat in Helsinki als Beitrittsland anerkannt. Das bedeutet, dass sie auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen Beitrittsländer gelten, Mitglied der Europäischen Union werden soll.

2001 schloss die Europäische Union mit der Türkei eine Beitrittspartnerschaft, die im Dezember 2002 vom Europäischen Rat in Kopenhagen bekräftigt wurde.Außerdem vereinbarte der Rat in Kopenhagen, dass im Dezember 2004 auf der Grundlage eines Berichts und der Empfehlungen der Kommission die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen seien, sofern die Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen erfülle.

Der letzte Beitrittsbericht der Kommission vom Dezember 2003 benannte Fortschritte und zeigte noch bestehende Defizite auf. Das jüngste Kurden-Urteil in der Türkei stimmt mich in dieser Hinsicht sehr besorgt.Trotzdem begrüßen wir die Reformen, die die Türkei bereits unternommen hat, als wichtige Schritte.

Ich möchte die Kopenhagener Kriterien noch einmal nennen. Zunächst einmal handelt es sich um das politische Kriterium,nämlich dass stabile politische Institutionen als eine Garantie für die Rechtsstaatlichkeit vorausgesetzt werden. Dann kommt das wirtschaftliche Kriterium, also das Vorhandensein einer funktionierenden Marktwirtschaft. Ferner geht es um die Fähigkeit, das EU-Recht zu übernehmen.

In diesem Zusammenhang darf ich an Folgendes erinnern. Die Verhandlungen mit den Ländern, deren Beitritt wir heute begrüßen, begannen vor elf Jahren. Wenn mit der Türkei zu Beginn des Jahres 2005 Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, wird es vermutlich 10 bis 20 Jahre dauern, bis ein Beitritt erfolgen kann. Daher ist das in dem CDU-Antrag vorgebrachte Argument, die Integrationskraft der EU werde überfordert, schlicht falsch.

(Beifall bei der SPD)

Wenn die CDU in ihrem Entschließungsantrag vorbringt, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen zu Beginn des nächsten Jahres bedeute nicht unbedingt einen Beitritt der Türkei, ist das ebenfalls eine irreführende Gleichsetzung.

Nun zu der privilegierten Partnerschaft, die die CDUVorsitzende ins Gespräch gebracht hat. Durch die Schaffung der Zollunion existiert bereits seit 1995 eine privilegierte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Das ist alles nichts Neues.

Von der CDU-Vorsitzenden stammt auch das Argument, über den EU-Beitritt der Türkei sei in der EU beraten worden, als die Europäische Union nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, aber noch keine Wertegemeinschaft gewesen sei. Wer so argumentiert – Herr Kollege Klein, auch wenn Sie sagen, das sei ein gutes Argument –, zeigt damit, dass er ein gespaltenes Verhältnis zum europäischen Recht hat.

(Beifall bei der SPD)

Es sind international anerkannte europäische Rechtsakte, die das Vorgehen der EU begründen. Wer so argumentiert, stellt in politischer Hinsicht auch die Zuverlässigkeit der Europäischen Union infrage.

Herr Kollege Lennert, es gibt christliche Werte, und es gibt islamische Werte. Aber es gibt weder eine christliche noch eine islamische Anthropologie. So viel zur Begrifflichkeit.

Richtig an dem Argument der CDU-Vorsitzenden ist, dass es in Europa einerseits und in der Türkei andererseits unterschiedliche kulturelle Entwicklungen gibt. Wer aber eine EU-Mitgliedschaft der Türkei an unüberbrückbaren kulturellen Hindernissen scheitern lassen will, der schlägt auch den in Europa lebenden Muslimen die Tür zur Integration in die europäische Gesellschaft zu. Das gilt genauso für die in Deutschland lebenden Türken.

(Beifall bei der SPD)

Sie bringen nämlich genau die kulturelle Prägung mit, die die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei nicht innerhalb der Europäischen Union sehen wollen. Das ist in Deutschland innenpolitisch nicht zu vertreten.

(Beifall bei der SPD)

Die Werte,auf die sich der Konventsentwurf bezüglich der Menschenrechtscharta bezieht, sind unteilbar. Es sind die Werte der Aufklärung, die sich ursprünglich aus einem christlichen Menschenbild ableiten. Ein Beitritt der Tür

kei zur Europäischen Union, ob in 10 oder 15 Jahren, bedeutet daher auch die Versöhnung der Werte eines islamisch geprägten Landes mit laizistischem Staatsaufbau mit den Werten der Aufklärung. Das ist eine historische Chance, vor allem vor dem Hintergrund des islamischen Fundamentalismus.

(Beifall bei der SPD)

Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Der laizistische Staat Türkei mit seiner positiven demokratischen Entwicklung kann und wird Modellcharakter für die Demokratisierung der islamischen Welt haben.

Als Fazit: Die CDU instrumentalisiert die Beitrittsperspektive der Türkei als Wahlkampfthema für die Europawahl am 13. Juni. Das ist auf den CDU-Parteitagen am letzten Wochenende klar geworden. Die CDU lenkt damit von ihrem eigenen Versagen hinsichtlich ihrer außenpolitischen Vorstellungen ab. Ich will das kurz erklären. Im Konventsentwurf zum Verfassungsvertrag sind unter dem Kapitel „Die Außenbeziehungen der Union“ die Grundsätze der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik niedergelegt. Diese Grundsätze der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union stehen in krassem Gegensatz zu denen der CDU, die eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg wollte.

Zum Abschluss: Zur Begrüßung der neuen Mitglieder in der Europäischen Union hätte ich mir hier im Landtag eine inhaltlich andere Debatte gewünscht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir begrüßen die neuen Länder,und wir wollen weiterhin eine Beitrittsperspektive für die Türkei – auch mit Blick auf den sozialen und inneren Frieden in unserem eigenen Land.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat Frau Abg. Ruth Wagner für die Fraktion der FDP.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen, am 8. Mai, jährte sich zum 59. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges, eines Krieges, den Deutsche verursacht haben, den sie nach Europa und in große Teile der Welt getragen haben. Millionen von Toten – Zivilisten, Soldaten, Ermordete, Vertriebene – waren zu beklagen. Erst in den Tagen nach dem Ende des Krieges und in den folgenden Jahren ist das ganze Ausmaß des Holocaust an Juden, Sinti, Roma und an so genanntem unwertem Leben klar geworden. Deshalb markiert der 8. Mai 1945 nicht nur das Ende des Krieges, sondern auch die Befreiung von einer Diktatur.

Mit diesem Datum verbindet sich historisch eine dritte Tatsache. Mit der Konferenz von Jalta begann die Teilung Europas. Der Eiserne Vorhang hat Europa fünf Jahrzehnte lang geteilt. Deshalb will ich sehr emotional sagen: Der 1. Mai 2004 ist vor dem Hintergrund dieser historischen Tatsache eine unglaublich tolle Erfahrung, die wir gemeinsam machen sollten.

(Allgemeiner Beifall)

Ich war vor einem Jahr an Ostern in Malta. An dem Tag, an dem ich auf dem Flughafen gelandet bin, ist das Ergebnis der Volksbefragung zum Beitritt zur EU bekannt gegeben worden. Meine Damen und Herren, ich habe noch niemals ein derartiges Fest aus Anlass des Beitritts zur EU gesehen. Erfreulicherweise – das werden Sie mir nachsehen – war die Insel aus diesem Anlass in die Farben blau und gelb getaucht.Auch das hatte ich noch nie gesehen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)

Tagelang und nächtelang wurde gefeiert. Ich habe immer nur gedacht: Hoffentlich werden die Malteser nicht enttäuscht.– Das wird sich in den nächsten Monaten und Jahren erweisen.

Es sind nun 25 EU-Staaten, die sich in freier Selbstbestimmung am 1. Mai dieses Jahres zusammengefunden haben. Ich will sehr dezidiert sagen: Es gibt keine Trennung in ein „altes“ und ein „neues“ Europa, wie sich das manche Kriegsherren aktuell vorstellen. Das „neue“ und das „alte“ Europa lässt sich nicht durch die Unterteilung in Kriegswillige und Kriegsunwillige trennen,

(Beifall bei der FDP)

sondern die europäischen Staaten sind durch eine Tradition von Werten verbunden. Das hat der Kollege Lennert hier schon gesagt. Die Geltung der Menschenrechte, die Ächtung der Folter – aus aktuellem Anlass nach meiner Auffassung ganz vorne zu nennen –, Toleranz und Achtung der Minderheitenrechte, Rechtsstaatlichkeit, die demokratische Legitimierung parlamentarischer Organe und die Unabhängigkeit der Gerichte und der Medien – das sind die Werte der Europäischen Konvention. Das sind die Werte, die Europa aus der Bill of Rights von 1776 übernommen hat. Deshalb gibt es keine Teilung in ein „altes“ und ein „neues“ Europa.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Das sind die Werte, die die Welt bestimmen sollten. Sie gelten für die amerikanischen Staaten, sie gelten für alle Kontinente dieser Erde, und sie gelten selbstverständlich für alle Beitrittswilligen, die ein Europa des Friedens und der Freiheit wünschen.

Ich glaube, darauf können wir stolz sein. Ich habe aus anderem Anlass hier schon einmal gesagt: Ich denke, das ist eine neue Wertetradition, die auch die junge Generation wünscht.Die jungen Menschen in Hessen und in Deutschland wollen stolz auf das sein,was ihre Großeltern und Eltern nach 1945 geschaffen haben – nicht nur wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch einen Wertestaat, in dem sich alle wohl fühlen. Die jungen Leute wollen nicht mehr nur an die Diktatur der Nazizeit erinnert werden, sondern stolz auf die Tradition sein, die sich in Deutschland in den letzten 60 Jahren zum Glück gefestigt hat.