Protocol of the Session on June 13, 2004

Das Wort hat Frau Kollegin Schönhut-Keil, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, man muss die Dinge, die im Moment zu regeln sind und bei deren Regelung wir im Bundesrat bzw. im Vermittlungsausschuss stehen, auf den Punkt bringen. Wenn man es relativ nüchtern betrachtet, dann sehen wir, dass wir bei den Neuregelungen im Arbeitsmarkt – ich will es ein bisschen überzogen ausdrücken – vor einer grundsätzlichen Revolution stehen.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ja!)

Denn viele Dinge, die wir eingeübt haben und an die wir uns gewöhnt haben, stellen wir auf den Kopf. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe werden aus einer Hand gewährt, Arbeitslosenhilfe, wie es damals hieß, nur noch für ein Jahr. Das heißt, ab dem 1. Januar des kommenden Jahres sollen alle Menschen, die im Arbeitslosenhilfebezug sind, also länger als ein Jahr arbeitslos und theoretisch arbeitsfähig sind, 345 c zum Leben bekommen. Ich glaube, das ist noch nicht überall angekommen, um es einmal vornehm auszudrücken, und es wird sicherlich am 1. Januar zu einer Überraschung führen.

So wie es in Deutschland mit Revolutionen immer so eine Sache ist, hoffen wir inständig, dass sie nicht in die Hose geht. Denn wenn man sich die aktuellen Berichte darüber anschaut, wie das Computersystem umgesetzt werden soll, dann ist vielleicht keine Skepsis angebracht, aber zumindest der Rat in Richtung Berlin und Bundesagentur für Arbeit: Jungs, beeilt euch, es drängt die Zeit.

Warum sind wir noch nicht weiter? Auch das ist bereits angeklungen: weil sich auf allen Ebenen der Bundesrat, der Vermittlungsausschuss, die Länder mit dem Bundeswirtschaftsminister, der Bundeswirtschaftsminister mit den Ländern und alle miteinander ganz schrecklich streiten und zu keinem Ergebnis kommen. Dabei geht es wiederum ums Geld. Deswegen dauert das alles so lange.

Herr Kollege Boddenberg, ich will damit anfangen, dass das Thema, über das wir diskutieren, so wahnsinnig neu nicht ist, dass immer nur wechselnde Seiten ihre unterschiedlichen Ideologien damit verbraten wollen und dass deswegen am Ende überhaupt nichts herauskommt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das ärgert mich, und das ist auch der grundsätzliche Unterschied zu dem Vorgehen in Holland und in Dänemark. Dort haben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einen Tisch gesetzt und haben gesagt: Verdammt noch mal, wir müssen das für unsere arbeitslosen Leute machen. Lasst den ganzen Ballast weg, wir suchen eine pragmatische Lösung.

Das war das stärkste Argument, das ich 1998 und 1999, als wir Dänemark und die Niederlande besucht haben, gehört habe. Das ist auch im Kern das Problem, mit dem wir es in der Politik zu tun haben. Die Leute sind der Diskussion überdrüssig, sie wollen endlich Taten sehen.Wenn ich es richtig einschätze, sind wir davon noch sehr weit entfernt.

Meine Damen und Herren,dabei ist doch die existenzielle Bedrohung der Arbeitslosigkeit so nah an den angeblich bundesdeutschen Mittelstand herangerückt wie noch nie zuvor.Ich kann mich nicht daran erinnern,dass dies in den letzten 30 Jahren einmal so war. Das mag in früheren Jahren anders gewesen sein,aber seit den Siebzigerjahren hat

es keine Bedrohung der mittelständischen Personalstruktur gegeben wie in dieser Form. Es rutschen derzeit Menschen in die Arbeitslosigkeit, die sich das vor zehn Jahren noch nicht hätten träumen lassen. Das ist in der Tat ein Problem.

Dieses Problem des Vertrauensverlusts hemmt derzeit viel mehr unsere wirtschaftliche Entwicklung, als wir das im Moment glauben. Die Sorge um den Arbeitsplatz legt sich wie Mehltau über unsere gesamte Wirtschaft. Risiken werden vermieden. Selbst Leute, die sich einen anderen Arbeitsplatz suchen wollen, tun es nicht. Menschen, die investieren wollen – Hausbau, Wohnungskauf –, tun es nicht.

Der Verlust des Vertrauens in die Zukunft ist eines der grundlegenden Hemmnisse unserer Gesellschaft und der wirtschaftlichen Entwicklung.Dem müssen wir begegnen. Das ist ein Anliegen, das wir alle miteinander haben sollten. Würden wir nur über Ziele und zielgerichtete Maßnahmen sprechen, wären wir der ungeteilten Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewiss. Überdruss und Langeweile kommen immer dann auf, wenn es um das politische Prozedere geht. Das ist leider das, worüber wir uns auch verständigen müssen.

Aus diesem Grund möchte ich etwas über die Ziele und Maßnahmen sagen und die Punkte aufzählen, bei denen wir einer Meinung sind. Unumstritten ist das Ziel, allen arbeitsfähigen Menschen einen möglichst einheitlichen und uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen. Diesem Ziel dient, dass alle Arbeitsuchenden ab dem Jahr 2005 die gleiche Grundsicherung erhalten werden.

Das erste Kapitel des neuen Sozialgesetzbuchs II, das die Grundsicherung für Arbeitsuchende regelt, steht tatsächlich unter der Überschrift „Fördern und Fordern“. Das ist ein Slogan, der viele Mütter und Väter hat und der auch im Antrag der Union auftaucht.

Der Inhalt des Gesetzes unterscheidet sich aber deutlich vom Existenzgrundlagengesetz der Landesregierung. Ein wesentlicher Fortschritt ist, dass nun auch jene Arbeitsuchenden, die noch nicht lange genug sozialversichert sind, Leistungen zur Eingliederung in Arbeit erhalten. Das ist ein Fortschritt zu unserem Status quo.

Weiter unumstritten ist das Ziel, alle Arbeitsuchenden möglichst schnell in Arbeit zu vermitteln. Herr Kollege Boddenberg, selbstverständlich kann das, was Sie unter Flexibilisierung des Arbeitsmarkts genannt haben, dazu beitragen.Aber diese Medaille hat zwei Seiten, denn Länder wie Dänemark, die weniger Kündigungsschutz haben, bieten Arbeitslosen umgehend Weiterbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Nur so ist es doch zu gewährleisten, dass wir den Arbeitnehmern die Existenzängste nehmen,

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

die ihre Risikobereitschaft einschränkt. Ohne eine solche Abfederung werden wir für keine der so genannten Flexibilisierungsmaßnahmen, die Sie meinen, irgendeine Akzeptanz finden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das ist auch gut so. Unsere Gesellschaft ist noch lange nicht auf das eingestellt, was wir aus amerikanischen Verhältnissen kennen, dass z. B. ein Börsenmakler nach einem Crash an der Börse für zwei Jahre Taxi fährt und anschließend wieder am Börsenmarkt tätig ist. Das gibt es in Deutschland nicht. Die Arbeitgeber fordern das immer, aber wenn sie einen Arbeitnehmer einstellen und seine Personalunterlagen prüfen, werden wir sehr schnell gewahr werden, dass möglichst lückenlose Biografien gefordert werden. Dazu sollen die Bewerber auch noch unter 30 sein. Das ist die Realität, mit der wir es derzeit zu tun haben.

Hier ist in der Tat noch sehr viel Ballast wegzuräumen. Eine Arbeitsmarktreform, die den Namen tatsächlich verdient,wird beide fordern:die Gewerkschaften und die Arbeitgeber.

Im Moment ist jedoch erst einmal die Politik gefragt, und damit komme ich zu dem politischen Prozedere. Das besteht aus zwei Fragen: Wer ist zuständig? Wer bezahlt? – Das sind die Fragen, die gegenwärtig unser Denken dominieren und die sich durch die vorliegenden Anträge ziehen.

Uns muss dabei klar sein, die Arbeitsuchenden wird nur interessieren, ob die Struktur ab 2005 funktioniert. Da ist im Moment ein dickes Fragezeichen angebracht. Sie werden sich fragen, ob sie die zuständigen Berater schnell finden können, ob diese kompetent sind und ihnen schnell weiterhelfen. Die Leistung am Beratungsschalter zählt. Alles dahinter, die Verwaltungsstruktur, die Finanzströme zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, dürfen und können den Hilfesuchenden herzlich egal sein.

Meine Damen und Herren, wenn Sie ein neues Auto kaufen möchten, interessieren Sie sich für das Produkt und den Service, aber nicht unbedingt für die Konzernstruktur des Autoherstellers. Dies ist unser Job, und deswegen müssen wir uns um eine funktionierende Struktur kümmern. Wir werden vom Wähler ausschließlich am Ergebnis und nicht an der Eleganz des Verwaltungsaufbaus oder der Ausgewogenheit der Kompetenzverteilung zwischen den einzelnen Ebenen gemessen.

Je stärker die weltwirtschaftliche und auch die europäische Integration voranschreiten, desto mehr wird unser Arbeitsmarkt von außen beeinflusst. Wenn wir nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch innerhalb der wachsenden EU unsere Arbeitsplätze frei wählen können, ist es pure Illusion, zu glauben, wir kämen ohne einen einheitlichen nationalen Rahmen für unsere Arbeitsmarktpolitik aus. Im Gegenteil: Eine weitere europäische Harmonisierung wird und muss folgen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Trotz alledem muss ich für uns ganz klar feststellen: Wir GRÜNE misstrauen jeder Form von Zentralismus als Quasibeglückung von oben. Wir wollen keine zentralistischen Strukturen. Deshalb gilt für die Arbeitsmarktpolitik: nur so viel Zentralismus wie unbedingt nötig

(Beifall der Abg. Michael Boddenberg (CDU) und Florian Rentsch (FDP))

und so viele dezentrale, regionale und damit bürgernahe Lösungen wie irgendwie möglich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die SPD klatscht auch. – Ich möchte ein Beispiel anführen, das einen totalen Quatsch an Zentralismus darstellt. Wenn wir die Handlungsanweisung des so genannten Mainzer Modells an die kommunalen Sachbearbeiter anschauen, die 54 Seiten umfassen, kann ich nur sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Berliner Seite, wenn Sie damit das ganze Land erfreuen, werden Sie viel Spaß an dieser Unternehmung haben. Sie wird nämlich nicht funktionieren.

Aus diesem Grund begrüßen wir es, dass nach § 44b SGB II für jedes Jobcenter eine Arbeitsgemeinschaft zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den kreisfreien Städten bzw.den Kreisen eingerichtet wird.Wir begrüßen, dass die Kommunen darüber hinaus nach § 6a SGB II die Option haben – können, muss ich jetzt sagen –, die Verwaltung der Grundsicherung der Arbeitsuchenden ganz zu übernehmen. Selbstverständlich müssen die Fallpauschalen, die die optierenden Kommunen erhalten, kostendeckend sein. Die Betroffenen dürfte es nicht interessieren,ob wir für die Finanzströme zwischen Bund und Kommunen das Grundgesetz ändern, sie über die Länder leiten oder die so genannte Organanleihe bemühen. Meine Damen und Herren, ich bin sehr gespannt, was dabei in Berlin herauskommt.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Herr Kollege Boddenberg, nur das Ergebnis zählt. Die Arbeitsuchenden müssen vor Ort, ohne Umwege zu kompetenten Beratern finden. Deswegen zwei Anmerkungen.

Erstens. Wenn z. B. im Rhein-Main-Gebiet die Stadt Frankfurt nicht optiert, die vier Nachbarkreise aber optieren, werden wir darauf drängen, dass die Städtetagspräsidentin von ihrer, vielleicht etwas voreiligen, Festlegung auf die Nichtoption

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Sehr richtig!)

ein Stück weit abrückt und man zumindest im Arbeitsamtbezirk Frankfurt eine einheitliche Lösung findet. Das, was jetzt auf dem Tisch liegt, hat mit allem etwas zu tun, aber nichts mit Leistungen aus einer Hand. Das kann man einmal festhalten.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Alle haben immer von dem ganz großen Vorteil gesprochen. Wenn das nicht anders kommt, sehen wir alle nicht besonders gut aus.

(Zuruf des Abg. Rudi Haselbach (CDU))

Zweitens. Es wäre geradezu skandalös, wenn die Trägerschaften in manchen Regionen jährlich zwischen Bundesagentur und Kreis wechseln würden. Das wäre geradezu absurd.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich weiß, dass es das Ansinnen mancher Kreise gibt, dass sie das ein bis zwei Jahre ausprobieren wollen. Das ist natürlich verwaltungstechnisch überhaupt nicht möglich. Wir können die Arbeitslosen nicht zwischen Bundesagentur für Arbeit und eventuell der Kreisverwaltung hin- und herirren lassen, in der Hoffnung, sie fänden irgendwo einen Sachbearbeiter, der sie in Arbeit vermittelt.

Nein, wer sich jetzt entschließt, zu optieren, sollte sich auch längerfristig festlegen. Ansonsten macht das Ganze überhaupt keinen Sinn.Ich denke,dass Kontinuität in diesen turbulenten Zeiten auch ein Wert an sich ist.

Damit komme ich zu dem dritten Punkt, den ich mehr als ärgerlich finde. Ich meine nämlich, dass man auch die Träger der Qualifizierungsmaßnahmen in Hessen einmal erwähnen muss. Wer von Ihnen sich in der letzten Zeit mit Berufsbildungswerken auseinander gesetzt hat, wird mir darin zustimmen, dass es eine Minute vor zwölf ist.

Wir – jetzt spreche ich für die acht Jahre rot-grüner Regierung in Hessen – haben in dem gesamten Bereich eine gute und funktionierende Landschaft aufgebaut. Wir haben gute Träger mit einem spezifizierten Angebot für verschiedene Zielgruppen. Ich habe das Gefühl – ich glaube, es trügt mich nicht, sonst würde ich es an dieser Stelle nicht sagen –, dass die gute und bewährte Trägerstruktur für Weiterbildungsmaßnahmen in Hessen derzeit komplett zerschlagen wird. Das ist wirklich eine absolute Katastrophe.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)