Protocol of the Session on April 23, 2003

Daran sieht man doch, dass es hier nicht um mehr kommunale Selbstverwaltung und mehr kommunale Selbstverantwortung geht, sondern um weniger kommunale Selbstverantwortung.

(Beifall bei der SPD)

Wenn dieses Kabinett im Hinterzimmer entscheiden kann, ob die Stadt Karben den Sportplatz in Frankfurt

mitfinanziert, dann ist dies kein Akt von kommunaler Selbstverwaltung.

Schließlich fördern Sie die Konkurrenz innerhalb der Region.Es ist für das Land Hessen,auch für die Rhein-MainRegion nicht wirklich ausschlaggebend, ob eine Investitionsentscheidung bei Ihnen für Eschborn oder für Bad Vilbel fällt.Zentral wichtig für die Region Rhein-Main ist, dass die Investition hier in dieser Region getätigt wird und nicht außerhalb der Region, beispielsweise in Hannover oder in Stuttgart, oder meinetwegen auch in London oder Paris.

Als Einzelkämpfer in der Konkurrenz gegen diese Regionen sind alle Kommunen zu klein, auch und selbst die Freie Reichsstadt Frankfurt. Die sind alle zu klein. Hier brauchen wir eine Organisation in der Region,um mit den besser organisierten Regionen mithalten zu können. Die Regionen Stuttgart und Hannover sind beispielsweise schon weiter. Die Regionen im Ausland – ich nenne den Großraum London und den Großraum Paris – sind weiter in ihrer Organisation.

Wenn wir hier nicht besser werden, dann wird die RheinMain-Region weiter abfallen. Es wird schlicht unmöglich sein, wenn die Rhein-Main-Region nicht wieder an die Spitze der Regionen in Hessen kommt, dass wir Hessen an die Spitze der Bundesländer in Deutschland bringen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, das ist für Sie alles nichts Neues. Sie waren ja auch schon einmal weiter, als Sie heute sind. Ich erinnere an das Wahlprogramm der Union aus dem Jahre 1998. Da hieß es – jetzt reden wir auch wieder über unpopuläre Einsparmaßnahmen –: Wir schaffen die Regierungspräsidien ab. – 1999 war die Wahl gewonnen, aber koalitionäre Ausflüchte, Frau Kollegin Wagner, hießen dann:Wir können das nicht machen.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Gewichtung, nicht Ausflüchte!)

Gewichtung oder Ausflüchte, die Aussage damals war: Der Koalitionspartner macht das an dieser Stelle nicht mit. – Herr Ministerpräsident, jetzt haben Sie die absolute Mehrheit, jetzt könnten Sie dies tun, und dies wäre im Interesse der Rhein-Main-Region. Ich sage Ihnen ganz offen, meine Vision der Rhein-Main-Region ist, dass wir zwischen finanziell wieder gestärkten Kommunen und dem Land nur noch eine Verwaltungsebene haben, nämlich die einer regionalen Organisation.

Jetzt könnten Sie Ihre Ziele verwirklichen,aber Sie setzen nicht einmal dazu an. Sie reden nicht einmal mehr darüber.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man über Wirtschaftspolitik in Hessen und über die Rhein-Main-Region redet,dann muss man über den Flughafen sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich sage, die Rhein-Main-Region ist das wirtschaftspolitische Herz Hessens, dann ist der Flughafen in Frankfurt der Herzmuskel.

(Widerspruch der Abg. Frank-Peter Kaufmann und Sarah Sorge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Gegenruf des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Recht hat er!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen, dass sich der Flughafen weiter entwickeln kann.Wir Sozialdemokratin

nen und Sozialdemokraten wollen, dass möglichst viele neue Arbeits- und Ausbildungsplätze am Frankfurter Flughafen entstehen. Wir wollen, dass der Flughafen ausgebaut wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,wir wissen aber auch um die Belastungen, denen die Menschen in der Region schon jetzt ausgesetzt sind. Wir wissen, dass den Menschen in der Region weitere Belastungen ohne zumindest gleichzeitige Entlastungen nicht mehr zugemutet werden dürfen. Und wir wissen, dass der Schlüssel zum Ausbau des Flughafens in den Ergebnissen des Mediationsverfahrens liegt und dabei insbesondere bei dem absoluten Nachtflugverbot.

Deshalb stehen wir wie Sie zu der Formel: Kein Ausbau ohne Nachtflugverbot. Wir wissen aber auch, dass es ein Nachtflugverbot nur geben kann, wenn auch der Ausbau kommt.

Herr Wirtschaftsminister, das wird nicht einfach. Ihrem Vorgänger im Amt, Herrn Posch, habe ich einmal die mündliche Frage gestellt, wie das denn mit Schadensersatzforderungen aussieht – beispielsweise solchen der Lufthansa, der Post oder sonstiger Firmen, die im Vertrauen darauf Investitionen getätigt haben, dass sie rund um die Uhr fliegen dürfen. Herr Posch ist der Antwort auf diese Frage mehr oder weniger ausgewichen.Das habe ich zum damaligen Zeitpunkt sehr, sehr gut verstanden.Aber Sie werden dieser Frage schon kurzfristig nicht mehr ausweichen können.Wir befinden uns in den Vorbereitungen des Planfeststellungsverfahrens. Lufthansa und Deutsche Post haben angekündigt, Schadensersatzforderungen geltend machen zu wollen. Sie haben juristischen Widerstand angekündigt.

Diesen Problemen kann man nicht mehr ausweichen. Sie persönlich haben mit solchen komplexen Verfahren noch keine Erfahrungen. Sie haben noch nicht einmal die üblichen 100 Tage Schonfrist, denn im Prinzip befinden Sie sich bereits mitten in der Vorbereitung dieses Verfahrens. Es ist ihre Aufgabe, die Frage des Ausbaus und des Nachtflugverbots so verbindlich zu klären, dass die Entscheidung für das Nachtflugverbot unumkehrbar wird – gerichtsfest unumkehrbar und unabhängig von wechselnden Mehrheiten in diesem Parlament.

Ich denke, wir sind hier alle einer Meinung: Dies wird die schwierigste, aber auch die wichtigste Aufgabe, vor der Sie, Herr Wirtschaftsminister, in dieser Legislaturperiode stehen.

Der Hessische Ministerpräsident hat wieder den Aufsichtsratsvorsitz bei Fraport übernommen. Herr Ministerpräsident, damit haben Sie sozusagen eine Garantenstellung übernommen. Denn Sie sitzen jetzt an beiden Seiten des Tisches.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was gerade das Problem ist!)

Sie haben dafür eine Garantenstellung übernommen,dass dieser Flughafen ausgebaut wird, und dafür, dass dort mehr Arbeitsplätze entstehen. Sie haben auch eine Garantenstellung dafür,dass dieser Ausbau mit einem absoluten Nachtflugverbot in der bekannten Zeit einhergeht.

Herr Ministerpräsident, ich glaube, das wissen Sie selbst: Wenn dies schief geht,dann ist dies ihr persönliches Scheitern in dieser zentralen wirtschaftspolitischen Frage in unserem Lande, da Sie auf beiden Seiten jeweils an der Spitze der Verantwortung stehen.

(Beifall bei der SPD)

Ich halte dies in der Tat für die zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe in unserem Lande. Deshalb sage ich es Ihnen zu: Wenn es darum geht, die Vorgaben des Mediationsverfahrens zu erfüllen, werden wir Sie unterstützen. Aber wir werden Sie auch ganz genau kontrollieren, ob sämtliche Vorgaben des Mediationsergebnisses tatsächlich erfüllt werden.

(Beifall des Abg. Reinhard Kahl (SPD))

Ich möchte jetzt zum Bereich Soziales kommen. Die Sozialpolitik war in den letzten vier Jahren der Steinbruch der Landesregierung. Die Zahlen sprechen hier für sich.

Im ersten Jahr der Regierung Koch betrug der Etat des Sozialministeriums noch rund 755 Millionen €, mittlerweile sind es nur noch 580 Millionen €. Und ich glaube, man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass bei der zu erwartenden Haushaltssperre – wann immer sie kommt – der Sozialetat von dieser Landesregierung wieder zuallererst als Steinbruch benutzt wird.

Sie haben sehr lange über Ihr Programm „Fördern und Fordern“ gesprochen. Sie reden über dieses Fördern und Fordern und setzen sich das wirklich ehrgeizige Ziel, die Anzahl der Sozialhilfeempfänger in unserem Land Hessen zu halbieren. – Okay. Nehmen wir dieses Ziel einmal für einen Moment ernst. Dann, Herr Ministerpräsident, müssen Sie sich zunächst um die Kinderbetreuung bei den ca. 20.000 allein erziehenden erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängerinnen kümmern. In einem nächsten Schritt müssen Sie dann für ca. 70.000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen.

Ich sage nicht, das sei nicht möglich. Ich sage nur, eines ist klar – und das wissen Sie auch –: Das kostet zunächst Geld.

(Petra Fuhrmann (SPD): So ist es!)

Das kostet zunächst sehr viel mehr Geld, als es die einfache Sozialhilfe ausmacht.

Herr Ministerpräsident, wir waren doch gemeinsam in Wisconsin. Ich war bei den Gesprächen dabei. Die dortige sehr nette Sozialministerin hat uns über ihr Programm berichtet. Sie sagte: Wir haben es geschafft, die Anzahl der Sozialhilfeempfänger zu halbieren. – Aber wenn ich mich recht erinnere, sagte sie dazu: Das hat zunächst etwa das Doppelte der Kosten verursacht, die wir zuvor aufwenden mussten.

(Günter Rudolph (SPD): Das müssen Sie dazu sagen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist auch leicht verständlich.Kinderbetreuung kostet Geld,und Arbeit in unserem Land zu organisieren – und sei es gemeinnützige –, kostet ebenfalls Geld. Und hier komme ich, mit Verlaub, wieder zu unserem Hauptkritikpunkt an Ihrem Programm: Titel ohne Mittel. In diesem Programm ist nichts vorhanden, um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb, Herr Ministerpräsident, bei allem Respekt: Von Ihrer Formel „Fördern und Fordern“ bleibt nichts anderes übrig als das Fordern. Das haben wir an Ihrer ansonsten wirklich sehr staatstragenden Rede auch mitbekommen: Das Fordern wird genutzt, um populistische Kampagnen gegen – ich denke, das kann man deutlich sagen – die schwächsten Teile in unserer Gesellschaft zu organisieren. Da werden Sündenböcke gesucht.

Damit wir uns richtig verstehen: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen auch, dass Missbrauch bei Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen hart bekämpft wird. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden es nicht dulden, dass Sie einen in den Folgen viel dramatischeren Sozialmissbrauch immer ausblenden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sozialmissbrauch ist es nämlich auch, wenn man in diesem Lande gut und sicher lebt, seine Kinder auf gute Schulen und gebührenfreie Hochschulen schickt, aber nicht bereit ist, im Rahmen der Gesetze und der eigenen Leistungsfähigkeit Steuern zu zahlen.Auch das ist Sozialmissbrauch.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Herr Ministerpräsident hat in seiner Rede mehrfach auf das – und da gebe ich ihm Recht – jenseits der aktuellen Probleme der Globalisierung und der Wachstumsschwäche zentrale Problem des demographischen Wandels in unserem Land hingewiesen. Wenn man auf diesen demographischen Wandel hinweist, dann fällt der erste Blick auf die Jugend. Denn die Jugend ist die nächste Generation.

Wenn der Blick auf die Jugend fällt, dann ist es sinnvoll, im Regierungsprogramm einmal unter „Jugend“ nachzuschauen. Dort lesen wir, was diese Landesregierung der Jugend anzubieten hat. Unter Jugendpolitik steht dort:

Jugendpolitik ist Politik für die Zukunft.

Sehr gut. Und es geht weiter:

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität werden ausgebaut... Wir werden dafür sorgen, dass in Hessen geschlossene Heime für delinquente Kinder und Jugendliche geschaffen werden.

Herr Wagner, das haben Sie hineingeschrieben. – Heranwachsende sollen zukünftig nach Erwachsenenstrafrecht behandelt werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Herr Ministerpräsident, nach dem, was Sie in Ihrem Regierungsprogramm unter „Jugend“ geschrieben haben, können wir Ihre Jugendpolitik auf zwei einfache Begriffe zusammenfassen:Worthülsen und Handschellen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gerade jetzt wäre es bitter notwendig, dass wir wirklich Politik für Jugendliche machen. Sie haben auf den Ausbildungsnotstand hingewiesen. Nach den aktuellen Zahlen des Landesarbeitsamtes werden fast 10.000 Ausbildungsplätze in Hessen fehlen:Auf knapp 12.000 unbesetzte Stellen kommen in unserem Lande mehr als 21.000 Bewerberinnen und Bewerber.