Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zunächst einen wunderschönen guten Morgen. Ich sehe, dass Sie alle gut erholt aus dem Osterurlaub zurückgekommen sind. Ich hoffe, dass wir auch nach fünf Jahren noch so erholt aussehen werden wie zu Beginn unserer Arbeit.
Lassen Sie uns mit dem beginnen, was wir zu tun haben. Deswegen darf ich die 2. Plenarsitzung des Hessischen Landtags in der 16. Wahlperiode eröffnen. Ich heiße Sie noch einmal ganz herzlich willkommen. Die Tagesordnung vom 16. April 2003 mit einem Tagesordnungspunkt, nämlich der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten betreffend „Verantwortung für heute – Visionen für morgen“, liegt Ihnen vor. Mit den parlamentarischen Geschäftsführern wurde die Reihenfolge der Redebeiträge nach der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten mit einer vorgesehenen Redezeit von 60 Minuten so vereinbart, dass die Fraktion der SPD, dann die Fraktion der CDU, dann die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und zum Schluss die Fraktion der FDP folgen werden.
Ich darf darauf hinweisen, dass jetzt die Sitzplatzordnung für das gesamte Haus komplett ist. Die CDU hat nach der Konstituierung noch Änderungen vorgenommen. Ich gebe das hier zur Kenntnis. Man hat uns das gestern übermittelt.
Es gibt auch keinen Nachtrag zur Tagesordnung. Damit stelle ich fest, dass die Tagesordnung so genehmigt ist. – Dem wird nicht widersprochen. Wir tagen heute bis zur Erledigung der Tagesordnung. Das bietet sich an.
Was ich nicht lernen muss, sondern gerne mache, ist, zu gratulieren. Im Verlaufe der letzten Tage konnte der Kollege Gottfried Milde seinen 40. Geburtstag feiern. Lieber Kollege Milde, herzlichen Glückwunsch und alles Gute für die nächsten 40 Jahre.
Wir gratulieren immer dem, der es sich nicht hat nehmen lassen, am Plenartag Geburtstag zu haben. Ich darf ganz herzlich – ich freue mich besonders, dass es mir heute als Erstem möglich ist, einem Wetterauer zu gratulieren – Herrn Gerhard Becker aus Nidda gratulieren. Herzlichen Glückwunsch zum heutigen Geburtstag.
Meine Damen und Herren, damit haben wir die Formalitäten erledigt. Wir können in die Tagesordnung einsteigen.Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 1:
Regierungserklärung des Ministerpräsidenten betreffend „Verantwortung für heute – Visionen für morgen“
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe heute zum zweiten Mal die Ehre, Ihnen auf
grund der durch Sie vollzogenen Wahl und im Namen der von mir berufenen Regierung das Arbeitsprogramm der Hessischen Landesregierung für die kommende Legislaturperiode vorlegen zu dürfen. In den vergangenen vier Jahren, an deren Beginn diese Regierung und ich zum ersten Mal die Gelegenheit hatten, eine solche Regierungserklärung abzugeben, hat sich im Land Hessen viel verändert. Die Wählerinnen und Wähler haben am 2. Februar entschieden, dass sie diesen Veränderungen in Hessen zustimmen und bereit sind, gemeinsam mit uns weiter neue Wege zu gehen. Dieses Vertrauen ist für diese Landesregierung Verpflichtung und Motivation. Wir sind fest entschlossen, uns der herausfordernden Aufgabe zu stellen, Hessen weiterhin in der Spitzengruppe der europäischen Regionen als einen Motor für Innovation und Fortschritt zu halten, als ein Vorbild für erfolgreichen Wandel und als Maßstab für Lebensqualität und eine nachhaltige Entwicklung der Zukunft in unserem Land.
(Beifall bei der CDU – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was mit dem Wort „nachhaltig“ angestellt wird!)
Das ist unser Ziel.Wir wissen heute aus der Erfahrung der letzten vier Jahre,dass wir es erreichen können.Wir haben während der letzten Legislaturperiode gemeinsam mit den Freien Demokraten einen Klimawechsel vollzogen, auf dessen erste Auswirkungen wir nun aufbauen und den wir mithilfe unserer Werte und Grundlagen noch deutlicher werden lassen wollen. Dabei werden wir loslassen, was überholt ist, und festhalten, was Zukunft hat.
Dass die CDU in diesem Land erstmals über eine absolute Mehrheit verfügt, ist für meine politischen Freunde und mich ein großer Vertrauensbeweis, aber auch eine neue Herausforderung. Wir sind uns der Verantwortung, die damit verbunden ist, sehr wohl bewusst. Wir werden deshalb auch in Zukunft grundsatztreu und pragmatisch Politik machen. Nur so werden wir unserem eigenen Anspruch und den berechtigten Erwartungen der Menschen in Hessen gerecht, eine Politik zum Wohle aller Menschen in Hessen zu machen. Wir werden nicht in Beliebigkeit abgleiten und unsere Prinzipien aufgeben, aber wir werden sie als ein Fundament für einen offenen Dialog betrachten.
Deshalb wende ich mich ausdrücklich heute zu Beginn erneut an all diejenigen, die uns im Februar nicht ihre Stimme gegeben haben. Auch ihnen fühlt sich diese Landesregierung verpflichtet, in gleicher Form wie denjenigen, die uns dankenswerterweise das Vertrauen ausgesprochen haben. Wir brauchen in einer schwierigen Zeit in unserem Land die Bereitschaft aller Hessen, sich nach Kräften für unser Gemeinwesen zu engagieren. Wir bieten allen demokratischen Kräften die konstruktive Zusammenarbeit an. Diese Landesregierung ist und will die Landesregierung aller hessischen Bürgerinnen und Bürger sein. Das heißt natürlich nicht, dass wir deshalb nur Entscheidungen treffen können, die allen Menschen in diesem Land gefallen. Es heißt vielmehr, dass wir mit Bedacht Anregungen und Sorgen aller Beteiligten gegeneinander abwägen und dann eine klare und nachvollziehbare Entscheidung treffen. Wir sind entschlossen, in Zukunft auf dieser Basis zu handeln. Jeder Bürger in Hessen – ob er das mit Sympathie oder manchmal mit Skepsis sehen mag; das ist in einer Demokratie so – kann sich auf diese Klarheit verlassen.
Der erste Beweis der Bereitschaft zum Dialog ist die Erarbeitung des Regierungsprogramms, dessen Kernzüge ich Ihnen heute vorstelle.Dieses Regierungsprogramm ist
unter der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger des Landes entstanden, und ich bedanke mich bei vielen von ihnen – einige sind heute unsere Gäste –, dass sie bereit waren, sich an uns zu wenden und ihre Anregungen, ihre Kritik und ihre Ideen einfließen zu lassen.
Das Programm enthält zahlreiche detaillierte Festlegungen der Regierungspolitik für die kommenden fünf Jahre. Die Opposition hat es zunächst als zu unverbindlich kritisiert, dann aber so viele einzelne Punkte in ihrer absehbaren Wirkung erneut kritisiert, dass inzwischen einigermaßen klar ist: Ob man dafür oder dagegen ist – dieses Programm enthält sehr viele, sehr konkrete Punkte, zu deren Ausführung sich die Hessische Landesregierung für die kommenden fünf Jahre verpflichtet hat.
Im Übrigen will ich hinzufügen:Wenn einige sich darüber beklagt haben, dass das Regierungsprogramm keine Überraschungen enthalte, betrachte ich dies als ein vergleichsweise großes Kompliment,
denn für mich wäre es weit überraschender, wenn in einem Regierungsprogramm etwas anderes stünde als in einem Wahlprogramm.
Da die Mehrheit der deutschen Bevölkerung das offensichtlich ähnlich sieht, haben einige Kolleginnen und Kollegen Ihrer Partei in ganz Deutschland im Augenblick erheblichen Diskussionsbedarf. Diesen Diskussionsbedarf wollen wir nicht haben.
Nach der Wahl steht in unserem Regierungsprogramm das, womit wir im Wahlprogramm um das Vertrauen geworben und wofür wir die Zustimmung der Menschen erhalten haben. Wir werden uns in fünf Jahren, ebenso wie wir das in den vergangenen vier Regierungsjahren getan haben,Wort für Wort an diesem Programm messen lassen.
Das Programm ist von der Mehrheitsfraktion dieses Hauses beschlossen und deshalb zunächst einmal eine politische Erklärung. Ich möchte hier deshalb für die Landesregierung förmlich erklären, dass wir uns den Text dieses Regierungsprogramms vollständig zu Eigen machen und dass er zum Gegenstand unserer Regierungspolitik wird. Deshalb werden Sie dieses Programm – auch dies in der Tradition der letzten vier Jahre – vom ersten Tag an auf der Homepage der Hessischen Landesregierung finden können: zum Vergleichen für jedermann zu jeder Stunde.
Ich hoffe, die Tatsache, dass Sie dort die 80 Seiten samt den dazugehörigen Einleitungen finden, die wir unserem Regierungsprogramm zugrunde legen, vereinfacht die heutige Debatte in zweierlei Hinsicht ein wenig. Zum einen konnte sich jedes Mitglied der Oppositionsfraktionen seit nunmehr gut einem Monat auf die Auseinandersetzung über diese Punkte vorbereiten. Zum anderen – das gebe ich zu – erspart es allen Beteiligten eine Regierungserklärung des Ministerpräsidenten, in der er auf die Details eingeht, was für alle eher ermüdend als erhellend wäre; denn, jedenfalls nach meinem Lebensgefühl, die Schwierigkeiten bei Regierungserklärungen bestehen darin, dass man sie ablesen muss, weil sie abgestimmt sind und eine gewisse Verbindlichkeit für alle Ressorts haben sollen. Deshalb ist der Text beigefügt.
Aber ich denke, zu Beginn der Darlegung der Regierungsarbeit ist festzuhalten, dass nach der Einschätzung der Hessischen Landesregierung in den vor uns liegenden fünf Jahren besondere Herausforderungen zu bewältigen sein werden, die nicht auf Hessen beschränkt sind, die aber uns in unserer Verantwortung für dieses Bundesland zwingen, uns mit Fragestellungen auseinander zu setzen, die sicherlich, nachträglich betrachtet, die Geschichte dieses Jahrzehnts mit prägen werden und denen wir uns als Hessen – und als Landesregierung – nicht entziehen können, selbst wenn wir es wollten.
Wir erleben in diesen Tagen in vollem Umfang die Auswirkungen einer globalisierten Wirtschaft.Wir leben nicht auf einer Insel, die sich einseitig mit Gütern versorgt, sondern wir leben in einem internationalen Wettbewerb, bei ausreichend guten Verkehrsverbindungen zwischen den Kontinenten, einer vollständigen Informationstransparenz durch das Internet und einer Qualitätsrevolution der Ausbildung in vielen ehemals weniger entwickelten Ländern der Welt. Kapital und Know-how stehen weltweit binnen Sekunden zur Verfügung. Wir wollen und müssen auf diese Herausforderungen unter den Bedingungen offener Grenzen antworten, indem wir unsere Leistungsfähigkeit steigern und den außergewöhnlichen Wohlstand unseres Landes durch außergewöhnlichen wirtschaftlichen Erfolg sichern. Nur wenn wir in Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland außergewöhnlichen wirtschaftlichen Erfolg haben, werden wir unseren außergewöhnlichen Wohlstand wirklich sichern können.
Zugleich befindet sich die Bundesrepublik Deutschland insgesamt in einem tief greifenden demographischen Wandel. Waren früher die Kinder und Jugendlichen gegenüber den Rentnern immer in der Mehrheit, so kehrt sich dieses Verhältnis im Augenblick dramatisch um. Diese Entwicklung wird sich bis 2050 so verschärfen, dass auf einen unter 20-Jährigen drei über 60-jährige Mitbürgerinnen und Mitbürger kommen. Der Rückgang der Geburtenrate in den letzten 50 Jahren von – statistisch gesehen – 2,2 Kindern auf 1,3 Kinder pro Frau, bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung, führt bereits jetzt zu einschneidenden Veränderungen. So müssen wir z. B. Kindergärten, Schulen und Altersheime auf die veränderten Bedingungen vorbereiten: in ihrer personellen Ausstattung, in ihrem baulichen Zustand, in den Finanzierungsprogrammen für die nächsten Jahre, in der Kooperation mit den Städten und Gemeinden, in der neuen Finanzierungsregel mit dem Bund. An all diesen Stellen werden wir auf die Veränderungen reagieren müssen.
Gleichzeitig müssen wir die Rahmenbedingungen für die Erwerbstätigkeit von Frauen und älteren Menschen unseren sozialen Sicherungssystemen anpassen. Es ist dabei, und das gilt ganz klar ebenso für die Familienpolitik, ein vitales Interesse, dass in Deutschland – auch in Hessen – wieder mehr Kinder geboren werden, denn sonst wird es uns schwer fallen,unsere Probleme in diesem Jahrhundert in diesem Land zu lösen.
Globalisierung und Demographie: Eigentlich wäre die Bewältigung dieser beiden Herausforderungen für uns alle schon schwierig genug. Allerdings wird die Lösung der mit diesen beiden Herausforderungen verbundenen Probleme zusätzlich durch eine deutsche Wirtschaftskrise, wie wir sie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland nicht gekannt haben, erschwert. Deutschlands Wirtschaft wächst im dritten Jahre hintereinander gerade ein
Der Aufbruch in eine globalisierte Welt und die Veränderungen des Generationenaufbaus müssen daher als eine erschwerende Herausforderung für die Zukunft begriffen werden, weil sie in einer Zeit bewältigt werden müssen, in der die finanziellen Gestaltungsmöglichkeiten sowohl des Staates als auch der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zurückgehen. Über ein halbes Jahrhundert lang waren wir gewohnt,Herausforderungen und Schwierigkeiten,denen wir in unserem Land Bundesrepublik Deutschland begegnet sind, durch zusätzliche wirtschaftliche Erfolge zu bewältigen. Sie haben es uns möglich gemacht, mit neuen Herausforderungen fertig zu werden.
Wir befinden uns nun in einer Zeit, in der wir säkulare Herausforderungen, wie die Globalisierung und den demographischen Wandel, lösen müssen, ohne dass uns in absehbarer Zukunft sowohl in den privaten Haushalten als auch insbesondere in den öffentlichen Haushalten zusätzliche finanzielle Mittel zur Lösung dieser Probleme zur Verfügung stehen.
Diese drei Herausforderungen sind in ihrer Kombination die besondere Aufgabenstellung, mit der wir die nächsten Jahre befasst sein werden. Manche meinen heute schon und schreiben darüber, dass diese Herausforderungen nicht bewältigt werden können, und beginnen oder haben schon begonnen, sich zurückzuziehen.
Diese Antwort ist nach unserer festen Überzeugung falsch. Sie ist im Übrigen auch ein Verrat an den Leistungen unserer Eltern, die unter weitaus schwierigeren Bedingungen die Erfolge möglich gemacht haben, über die wir in den vergangenen 50 Jahren so gesprochen und von denen wir gezehrt haben.Es ist deshalb möglich,eine Antwort zu geben, die mit einem positiven Ergebnis abschließt. Es ist unverantwortlich, diese Antwort nicht zu versuchen – gerade für uns.
Mit Hessen gehören wir zu den privilegierten Regionen Europas.Wenn wir uns die Bewältigung der Herausforderungen nicht zutrauen, müssen andere in Deutschland und in Europa längst verzweifeln. Die Lösung der vor uns stehenden Aufgaben ist dennoch keineswegs einfach. Aber wir sind verpflichtet und wollen durchaus ein Stück als Modell in diesem Bundesland dafür sorgen, dass die notwendigen Entscheidungen getroffen werden, damit wir eine Leitfunktion bei der Bewältigung der zentralen Herausforderungen haben.
Ich glaube, auch der Hessische Landtag, wir als Landesregierung, wir alle müssen uns am Ende daran messen lassen: Haben wir neben einzelnen Zielen und Beiträgen zur Politik des Tages einen Beitrag dazu geleistet, dass wir der Bewältigung dieser Herausforderungen näher gekommen sind? – Dem wollen wir uns in den kommenden Jahren stellen.
Meine Damen und Herren, für die Hessische Landesregierung lassen sich dabei drei zentrale Aufgabenstellungen in den Vordergrund der täglichen Arbeit stellen.
Zum Ersten. Hessen muss seine Spitzenstellung in Forschung und Lehre festigen und gerade die Ausbildung einer zahlenmäßig kleineren jungen Generation auf internationale Leistungsstandards bringen.
Zweitens. Hessen muss in Deutschland und in unserem Bundesland dafür sorgen, dass mehr Arbeit in unserem
Land nachgefragt wird und wir bereit sind – jeder für sich –, ein Stück mehr zum gleichen Preis zu arbeiten.